Читать книгу Tränen, Glück und schwerste Stunden: Arztroman Sammelband 6 Romane - A. F. Morland - Страница 19

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Sie hatten mit dem Jeep zwei Drittel der Strecke geschafft. Es war eine höllische Fahrt gewesen. Frans fuhr. Er erwies sich als hervorragender Fahrer. Aber dann hatten sie den Wald hinter sich und befanden sich auf freier Strecke. Sie hätten durch den Hohlweg nicht fahren können, von dem Friedhelm vorhin schon gesprochen hatte. Sie mussten oben herum übers Feld, einen Sturzacker. Aber zum Glück war der Boden darunter nicht so aufgeweicht, wie Friedhelm befürchtet hatte.

„Ein Glück“, rief er Frans zu, „wir haben voriges Jahr Hafer hier gehabt und Klee eingesät. Und dadurch ist der Boden fest. Sonst würden wir hier ein Moorbad nehmen.“

Der Schnee war auch schlimm genug. So hatte der Wind ihn hier oben teilweise völlig weggefegt. Aber dann gab es in den leichten Bodenwellen wieder Verwehungen. Trotzdem kam der Jeep durch. Es war eine wirkliche Probe für dieses Fahrzeug, ein Test, bei dem er beweisen musste, wozu ihm die Konstrukteure einen Vierradantrieb eingebaut hatten.

Dann kehrten sie auf die Straße zurück. Aber fast wäre ihnen noch der Wagen umgeschlagen, als Frans sich beim Hineinfahren in die Straße verschätzte und mit einer Seite des Fahrzeuges in den Graben geriet. Die Räder drehten durch.

Sofort sprang Friedhelm aus dem Fahrzeug und schob. Das genügte. Der Jeep drehte etwas weg, kam auf die Straße hoch und fuhr wieder.

Friedhelm rannte hinterher, damit Frans nicht seinetwegen anhalten musste.

Als er wieder im Wagen saß, schlug er die Hände gegeneinander. Trotz der Handschuhe schienen sie abgestorben.

„Eine Saukälte ist das“, brüllte Frans. „Aber ich glaube, wir schaffen es.“

„Du musst weiter links halten! Die Straße ist nicht so breit, dass sie bis zu den Bäumen geht. Halte nach links! Hier ist der Graben.“

Sie hatten nur die Obstbäume rechts und links der Straße als Orientierung. Sonst war alles plan. Der Jeep erkämpfte sich eine Gasse. Tief sanken die Räder ein. Aber das Fahrzeug arbeitete sich voran. Manchmal rutschte es, schob, drehte sich fast. Aber es quälte sich voran.

„Wenn der Sturm nur nachließe, dass wir unsere eigene Spur zurückfahren könnten“, rief Frans.

Der Sturm heulte so laut, dass sie sich anbrüllen mussten, um den Lärm des Motors und den des Sturmes zu übertönen.

Ständig waren die Scheiben vereist. Der Scheibenwischer packte es gar nicht. Immer wieder zog sich Friedhelm an der Seite heraus und wischte außen über die Scheibe, damit Frans etwas sehen konnte. Während er das tat, packte ihn der Sturm mit eisigem Griff im Nacken. Die Kälte und dieser nicht nachlassen wollende Sturm waren im Augenblick das Schlimmste. Der Schnee war pulvrig, würde sich nicht festsetzen, flog immer wieder hoch und verwehte. Schleier, ganze Wände von Schnee machten die Sicht manchmal so schwierig, dass sie trotz der niedrigen Geschwindigkeit kaum sehen konnten, wohin sie zu fahren hatten.

Dann gerieten sie in eine hohe Wehe. Hier kam auch der Jeep nicht durch. Sie saßen fest. Friedhelm sprang heraus, nahm die Schaufel und begann eine Gasse zu bahnen. Ein Stück weit. Dann wehte es hinter ihnen schon wieder zu.

Es gelang ihm aber, den Jeep soweit flott zu machen, dass der ein Stück fahren konnte. Zwei Meter, drei Meter. Dann saß er wieder fest. Das Schaufeln ging weiter. Jetzt wurde es Friedhelm warm. Schweiß rann ihm die Schläfen herunter. Aber nur nicht nachlassen, schaufeln! Ein Meter, zwei Meter. Der Jeep rollte nach. Noch ging es. Es ging, weil der Schnee pulvrig war. Nun zeigte sich wenigstens ein Vorteil in all diesen Beschwernissen.

Sie hatten die Scheinwerfer angeschaltet. Obgleich es Tag war, sahen sie den Lichtschein, so sehr verdunkelten die tief hängenden, im Sturm dahinziehenden Wolken die Sonne. Stellenweise war es richtig finster, als wäre bereits die Nacht angebrochen.

Aber dann tauchten rechts Hecken auf, die dem Sturm ein wenig die Kraft nahmen und es nicht zuließen, dass der Schnee die Straße bedeckte. Blankgefegt war sie. Hier kamen sie voran. Links ein Haus. Sie sahen es erst, als sie schon fast daneben waren. Sie hatten den Ort erreicht.

Frans wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Obgleich es wirklich eiskalt war und er klamme Hände hatte, tropfte von seiner Stirn der Schweiß vor Anstrengung.

Beide kannten den Ort, beide wussten, wo das Haus des Arztes stand, und dennoch hatten sie Mühe, es zu finden. Stellenweise peitschte der Schnee zwischen den Häusern hindurch in solchen dichten Wirbeln, dass die Sicht keine fünf Meter betrug.

Aber dann hatten sie das Haus schräg gegenüber der Kirche erreicht.

Frans brauchte nur das Gas wegzunehmen, und der Wagen stand. Friedhelm sprang aus dem Jeep heraus, stemmte sich gegen den Sturm und ging zur Haustür. Selbst die war bis in halber Höhe mit Schnee regelrecht bepflastert. Er klopfte gegen die Tür, suchte die Schelle, fand sie nicht. Dann klopfte er wieder.

Endlich wurde geöffnet. Eine Wolke von Schnee stob um Friedhelm herum in den Flur des Hauses hinein. Er sah eine Gestalt im Flur stehen, aber wer es war, konnte er nicht sehen. Drinnen war es dunkel.

Er hörte eine Frauenstimme sagen: „Um Himmels willen, kommen Sie rasch rein! Es wird ja eiskalt hier drin. Kommen Sie rein!“

Es war die Sprechstundenhilfe des alten Landarztes, der jetzt Urlaub machte.

Unmittelbar danach, während er sich den Schnee vom Gesicht rieb, kam die Ärztin heraus. Eine sehr junge Ärztin.

„Um Himmels willen, wie sehen Sie denn aus!“, sagte sie.

„Ich habe noch jemanden draußen. Sind sie fertig?“

Die Ärztin war nicht fertig. In Strickjacke und Hosen stand sie da.

„Ich werde mir meinen Parka anziehen. Es ist furchtbar, ich habe die Bundeswehr angerufen. Aber die haben kein Fahrzeug frei.“

„Sie müssen selbst mitkommen. Wir brauchen Sie“, sagte Friedhelm. „Übrigens, ich hab mich gar nicht vorgestellt, mein Name ist Bredow.“

„Ach, Sie sind Herr von Bredow? Ihre Schwester hat angerufen, während Sie unterwegs gewesen sind. Sie sagte, es müsste ein Kaiserschnitt gemacht werden. Kann Ihre Schwester das überhaupt beurteilen?“

„Es ist noch jemand da, der es beurteilen kann. Das erzähl’ ich Ihnen später. Kommen Sie rasch! Es kommt auf jede Minute an, und wir haben noch eine lange Fahrt vor uns.“

„Um Gottes willen! Es wäre besser, wenn ich hierbliebe.“

„Sie können nicht dableiben. Wollen Sie, dass das Kind oder vielleicht sogar die Mutter stirbt?“

„Aber Sie haben doch gesagt, da wäre noch jemand, der es beurteilen kann. Es muss also ein Arzt sein. Warum macht der denn nicht ...“

„Also gut“, sagte Friedhelm. „Ich will es Ihnen ganz rasch erklären, und dann kommen Sie auch mit. Ziehen Sie sich schon den Parka an! Dieser Mann, der es beurteilen kann, war ein Arzt. Auf Grund von Dingen, die er nicht allein verschuldet hat, ist ihm die Befähigung, Arzt zu sein, abgesprochen worden. Es ist eine lange Geschichte, und sie ist nicht so einfach zu erklären. Er war ein hervorragender Arzt. Er hat auch keinen Fehler gemacht, wenn Sie das denken. Er hat sich nur erlaubt, vor einem Ehrengericht die Nerven zu verlieren. Das ist alles. Und jetzt kommen Sie mit! Er darf den Eingriff nicht machen.“

„Ein Kaiserschnitt, um Himmels willen, wie soll ich das denn machen?“

„So, wie Sie es gelernt haben, nehme ich an. Nun ziehen Sie endlich den Parka an, zum Donnerwetter! Wir müssen weg! Was denken Sie, was draußen los ist?“

„Eben. Ich kann doch nicht mitkommen. Sie schaffen es nicht. Dann bleiben wir unterwegs liegen. Und hier werde ich auch gebraucht.“

„Kommen Sie mit oder kommen Sie nicht mit?“, fragte Friedhelm.

„Ja ja, ich komme mit“, erwiderte die schmale, ein wenig blass wirkende, dunkelhaarige Ärztin. Seiner Schätzung nach war sie nicht älter als dreißig. Ihm kam sie wie ein schüchternes Aschenputtel vor. Dass sie eine Ärztin war, hätte er sich nicht träumen lassen, jedenfalls sah sie wie sonst etwas aus, aber nicht wie eine Medizinerin.

Fünf Minuten später stand sie in Parka, Fellstiefeln und einem Schal über den Ohren vor ihm.

„Machen Sie die Kapuze hoch, und kommen Sie mit. Haben Sie Ihre Tasche, alles Besteck, was Sie brauchen.“

„Ja, ich denke schon. Ich glaube schon“, sagte sie unsicher.

Mein Gott, und das ist eine Ärztin, die helfen soll? Der muss ich ja noch sagen, was sie machen muss. Wie soll das bloß ausgehen? Isolde, wärst du doch beizeiten nach Bonn gefahren. Jetzt haben wir den Salat.

„Und heut ist Heiliger Abend“, seufzte die Ärztin. „Ich hatte mir alles ganz anders vorgestellt.“

„Wir uns auch. Das können Sie mir glauben“, erklärte Friedhelm grimmig.

Kurz darauf fuhren sie los. Schon nach ein paar Sekunden war nichts mehr von dem Haus zu sehen, und der Jeep kämpfte sich zurück. Der Wind kam schräg von vorn. Alles war noch schlimmer als vorhin. Aber nun hatte auch Friedhelm ernste Bedenken, ob sie durchkämen. Er fuhr jetzt. Frans saß hinten, die Ärztin vorn neben Friedhelm.

Trotz der geschlossenen Plastikscheiben an der Seite, fauchte der Schnee bis zu ihnen herein. Manchmal waren die Böen so stark, dass Friedhelm das Gefühl hatte, der ganze Jeep würde um einen Meter oder mehr seitlich weggedrückt. Er konnte kaum noch sehen. Immer wieder war vorn die Scheibe zu. Er musste selbst durch eine Lücke des Plastikfensters nach draußen greifen und mit dem Handschuh den Schnee von der Scheibe wischen. Die Scheibenwischer hatten überhaupt keine Chance, die Scheibe freizuhalten.

Sie waren noch keinen Kilometer hinter dem Ort, als die Ärztin schrie, um das Heulen des Sturmes und den Lärm des Motors zu übertönen: „Herr von Bredow, kehren Sie doch um! Es hat keinen Zweck! Wir kommen ja nie durch! Es wird ja immer schlimmer! Man kann überhaupt nichts sehen!“

Auf ihrer Seite war die Scheibe voll mit Schnee bedeckt. Sie konnte wirklich nichts sehen und wunderte sich, wie Friedhelm überhaupt noch den Weg fand.

„Wir fahren weiter!“, brüllte Friedhelm zurück, und Frans, der hinten saß, beugte sich vor und sagte zu der jungen Ärztin: „Sie wissen ja, dass ein Mensch, ja zwei Menschen davon abhängen, ob wir durchkommen oder nicht.“

„Aber dieser Arzt könnte doch, ich meine, wenn er es auch nicht darf, aber es ist doch ein Notfall, er könnte doch helfen!“, schrie sie nach hinten.

„Ich weiß nicht, ob er etwas hat, um ihr zu helfen, das Besteck und was weiß ich alles mehr.“

Sie fuhren noch hundert Meter, und plötzlich drehte es den Jeep im Kreise, der Motor heulte auf, und dennoch rutschte das Fahrzeug schräg nach hinten. Das Heck sackte weg, der Motor ragte schräg empor.

„Oh verdammt, jetzt sitzen wir drin!“, platzte Friedhelm heraus.

„Wir müssen raus!“, brüllte Frans. „Wir müssen ihn rausschieben.“

„Wären Sie doch umgekehrt! Wären Sie doch umgekehrt!“, jammerte die junge Ärztin.

Friedhelm brüllte sie an: „Nun hören Sie mit dem Gewinsel auf! Sie wissen doch, worum es geht. Also, raus mit Ihnen. Packen Sie mit an! Menschenskind noch mal, Sie sind doch dazu da, anderen zu helfen. Das ist Ihr Beruf. Nun packen Sie schon an!“

„Wir kommen hier nie mehr weg! Nie mehr!“, jammerte die Ärztin weiter.

„Nie mehr dürfen Sie nicht sagen!“, schrie Frans in ihre Richtung, während der Sturm ihn draußen umtoste. „Wenn die Autos, die irgendwo mal liegen geblieben sind, noch heute da lägen, wären die Straßen voll davon. Also, packen Sie schon an! Es geht um Leben und Tod!“


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