Читать книгу Tränen, Glück und schwerste Stunden: Arztroman Sammelband 6 Romane - A. F. Morland - Страница 16
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ОглавлениеAm Morgen des 24. Dezember hatte bei hohem Schnee Thomas die alte Frau Kreweling mit dem Jeep geholt. Die alte Frau Kreweling war hier auf Gut Hartmannsdorf so etwas wie eine Institution. Früher hatte sie den Haushalt geführt. Seit zwei Jahren lebte sie sechs Kilometer entfernt bei ihrem Sohn. Doch an Feiertagen und bei besonderen Anlässen kam sie herüber. Und sie war es auch, die heute den Weihnachtskarpfen zubereiten sollte. Der Weihnachtskarpfen war eine alte Tradition, und eigentlich konnte sich Friedhelm nicht vorstellen, dass ihn jemals jemand anderer machen würde als die alte Frau Kreweling.
Sechsundsiebzig war sie, die alte Frau, aber noch rüstig wie eine Junge. Als ihr Friedhelm drin im Haus aus dein Mantel half, da sagte sie zu ihm:
„Na, mein Junge, diesmal kriegen wir ordentlich Schnee am Heiligen Abend. Ich spüre es in allen Knochen - häng den Mantel darüber. Mein Mantel kommt nicht an die Garderobe. Die ist für den Besuch, Fried, das weißt du doch.“
Marion tauchte auf, sie strahlte die alte Frau an, die gut zwei Köpfe kleiner war als Friedhelm. „Es wird Weihnachten, Frau Kreweling ist da. Wie geht es dir, Frau Kreweling?“ Sie duzte die alte Frau, wie sie das von Kind an getan hatte und wie die es auch mit ihnen tat, die sie alle von klein an kannte. Aber sie nannten sie Frau Kreweling.
„Es geht mir gut, Marion, mein Kind. Du siehst blass aus. Du sitzt zu viel im Zimmer herum, du musst mehr an die Luft.“
„Ach wo, das ist jetzt von der Küche. Ich bin schon beim Backen, hilfst du mir?“
„Na, lass uns mal gehen“, meinte die alte Frau. „Was macht denn unsere Isolde? Wie weit ist es mit dem Kind?“
„Mitte Januar soll es so weit sein.“
Die beiden gingen auf die Küche zu. Draußen stampfte Thomas auf der Matte, trat sich den Schnee von den Schuhen, schlug sich gegen den Mantel, dann kam er herein. Ein eisiger Hauch fuhr in den Flur. Hastig schloss Thomas die Tür, wandte sich dann Friedhelm zu und sagte:
„Also, wenn ihr mich fragt, wir sollten Isolde jetzt wegschaffen. Weihnachten hin und Weihnachten her, das Wetter sieht nicht gut aus.“
„Das Barometer ist auch ganz schön gefallen. Entweder kriegen wir Sturm oder ...“ Friedhelm zuckte die Schultern.
„Hast du mit ihr gesprochen?“, fragte Thomas.
Friedhelm schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Marion hat es getan, aber sie will nicht. Sie meint, es wäre nichts, sie würde es spüren. Spürt man es tatsächlich so weit voraus?“
„Eben nicht, es kann ganz plötzlich kommen, blitzartig fast. Das ist bei jeder Frau anders. Aber bei manchen Frauen, auch bei Erstgebärenden, kann es spontan einsetzen. Und dann ist guter Rat teuer. Es sieht wirklich nicht gut aus, der Wind hat auch zugenommen.“
„Vielleicht ist es überhaupt nur der Wind“, gab Friedhelm zu bedenken. „Und der verweht die Straßen.“
„Mit dem Jeep kommen wir doch immer durch.“
„Aber nicht nach Bonn. Da müsste sie hier im Kreiskrankenhaus ...“
„Wäre doch auch nicht schlimm.“
„Und selbst das ist ein weiter Weg“, sagte Thomas überlegend. „Ich mache mir verdammte Sorgen.“
„Ich glaube, ich kenne den Grund, wieso du dir so sehr viel Sorgen machst. Würdest du dir auch Sorgen machen, wenn du es nur vom Standpunkt eines Arztes sehen würdest?“
„Ich bin kein Arzt mehr.“ Das Gesicht von Thomas nahm einen ablehnenden, fast grimmigen Ausdruck an.
„Denk dir mal, du wärst einer. Würdest du da auch so urteilen, wie du es tust?“
„Ja, da würde ich es auch tun. Genau so und nicht anders. Warum sollte ich einen Unterschied machen?“
„Rede doch nicht um den heißen Brei herum. Du weißt genau, warum du einen Unterschied machen solltest. Privat denkst du doch von Isolde ganz anders. Sie ist doch nicht irgendein Mensch für dich oder irgendein Fall.“
„Sie ist deine Schwester, Fried, und das bedeutet mir schon einiges.“
„Auch nicht, weil sie meine Schwester ist. Tu doch nicht so! Meinst du, ich sei blind?“
Thomas vermied es, seinen Freund anzusehen. „Und wenn schon“, knurrte er, „es ist eine Sache, die nur uns beide angeht. Im Übrigen, wenn es dich beruhigt: Sie will nichts davon wissen.“
„Das beruhigt mich eben nicht. Es wäre beruhigend für mich, wenn sie etwas von dir wissen wollte“, antwortete Friedhelm heftig. Dann ging er hin zu Thomas, legte ihm die Hand auf die Schulter, sah ihn beschwörend an. „Thomas, lass erst mal das Kind auf der Welt sein, dann wird sie merken, dass das Kind allein nicht nur Lebensinhalt sein kann. Heutzutage sagen das viele junge Frauen. Sie möchten nur für das Kind leben, sie brauchen keinen Mann und so weiter. Es ist wider die Natur.“
„Das könnte sie dir auch vorwerfen, du lebst auch ohne eine Frau.“
„Ich hatte eine Frau, das weißt du, eine Freundin.“
„Es ist eine merkwürdige Sache übrigens. Ich habe gerade gestern noch einmal darüber nachgedacht. Die haben sie in Neuseeland nicht finden können, nirgendwo kann sie aufgetrieben werden. Wer sagt uns eigentlich, ob sie nach Neuseeland gefahren ist?“ Thomas hatte Friedhelm forschend angesehen und fuhr fort: „Es könnte ja genauso gut sein, dass sie ganz woanders ist.“
„Sie hätte einmal schreiben können, das wäre das Mindeste gewesen.“
„Wer weiß, womit es zusammenhängt, man muss nicht immer gleich das Schlechteste annehmen. Vielleicht kann sie dir gar nicht schreiben, vielleicht sind Dinge passiert ...“
„Für eine Postkarte reicht immer die Zeit“, widersprach Friedhelm. „Komm, wir zwei müssen noch mal hinüber zu den Schafen. Nicht dass noch eines von den neuen Lämmern zerquetscht wird. Sie drängen sich alle am Futterhaus zusammen.“
„Tun sie das?“, fragte Thomas. „Das wäre kein gutes Zeichen, da wird es noch viel kälter. Wie ist es mit den Schweinen? Können wir die im Wald lassen?“
„Die haben Schutz genug und warm ist es für sie in den Holzhütten auch. Ich bin vorhin erst noch da gewesen. Viel mehr Sorgen macht mir die Wasserversorgung von den Truthühnern, die ist eingefroren. Ich kann gar nicht begreifen, wie das passieren konnte. Da ist doch eine Isolierung drum.“
„Hinten am Knie, da ist möglicherweise die Isolierung zu schwach“, erklärte Thomas. „Es ist meine Schuld, ich hatte das gesehen, wollte es immer machen, habe es total verschwitzt. Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir ein. Mach das mit den Schafen allein, ich kümmere mich um die Wasserleitung. Ich taue sie auch wieder auf.“
Sie gingen beide hinaus, und draußen umfing sie ein stürmischer Wind. Schneewirbel fegten ums Haus herum, fuhren über den Hof wie Kobolde, und der Wind heulte im Gebälk des Daches. Die Männer mussten sich gegen den Sturm anstemmen, als sie schräg über den Hof gingen.
Drinnen im Haus begrüßte Isolde gerade Frau Kreweling. Die blickte zu Isolde empor, senkte dann wieder den Blick und betrachtete den nun weit vorgewölbten Bauch von Isolde.
„Na, mein Kind, lange dauert es nun bestimmt nicht mehr. Es ist ja schon sehr weit unten“, meinte Frau Kreweling.
„Na mindestens aber noch zwei Wochen, Frau Kreweling“, sagte Isolde. „Vorher geht’s bestimmt nicht los. Ich habe noch viel Zeit.“
„Merkst du ihn schon, deinen Nachfolger?“ Frau Kreweling wusste, dass es ein Junge werden würde. Das hatte ihr Isolde schon neulich erzählt, als sie drüben bei Frau Kreweling gewesen war.
„Ja, und ob ich ihn merke. Jetzt tritt er nicht mehr auf meinem Ischiasnerv herum, das hat er eine Zeit lang getan, und das ist schlimm gewesen. Ich freue mich immer, wenn ich ihn spüre. Er ist ein lebhafter Bursche.“
„Man muss ihn auch spüren, sonst denkt man, da ist gar nichts mehr.“
„Heute allerdings ist er ziemlich ruhig. Ich habe noch nichts gemerkt.“
„Du bist auch noch nicht viel herumgelaufen“, sagte Marion. „Du müsstest meines Erachtens viel mehr laufen.“
„Aber bei dem Wetter! Ich kann da doch nicht hinaus“, entgegnete Isolde.
„Wenn du dich warm genug anziehst, macht es dir nichts“, erklärte Frau Kreweling. „Du solltest wirklich einmal hinausgehen.“
„Ach, besser nicht, es ist zu glatt“, meinte Marion. „Dann rutscht sie noch aus, und was danach kommt, das weiß auch niemand.“
„Wenn sie sich richtige Schuhe anzieht und langsam geht, dann kann sie doch nicht ausrutschen. Aber es ist tatsächlich ein bisschen kalt geworden. Aber wenn du nicht viel läufst vor der Geburt, dann wird es nicht so einfach für dich, das sage ich dir gleich“, warnte Frau Kreweling. „Und jetzt wollen wir mal den Imbiss machen, den ich immer am Morgen vor dem Heiligen Abend zubereite. Die Männer werden darauf warten.“
„Die Männer sind nicht mehr im Haus“, sagte Marion. „Die haben drüben bei den Schafen zu tun. Hast du die Karpfen dabei, Frau Kreweling?“
Die alte Frau strahlte. „Und ob ich sie habe. Seht sie euch mal an.“ Sie holte die Tasche, die noch immer draußen auf dem Flur stand. Und sie trug schwer daran. Drinnen in der Küche schüttete sie zwei gewaltige Karpfen auf den Tisch.
„Man, sind die dieses Jahr groß, die können wir doch gar nicht packen, das ist ja viel zu viel.“
„Wie ich den Fried kenne“, meinte Frau Kreweling, „würde der ja einen fast allein essen. Macht euch keine Sorgen, die schafft ihr schon. Und jetzt, Mädchen, an die Arbeit. Du kannst mir auch helfen, Isolde.“
„Brätst du ihn wieder oder machst du ihn dieses Jahr blau?“, wollte Marion wissen.
„Ich brate ihn wie alle Jahre. Ihr wollt ihn ja gebraten haben. Schon euer Vater hat ihn gebraten gewollt. Ich habe das nie verstanden.“
„Sind die ganz frisch?“, fragte Isolde, die noch immer die Karpfen betrachtete.
„Mein Junge hat sie vorhin erst aus dem Becken geholt und geschlachtet. Vor zwei Wochen waren sie noch im Teich, dann hat er sie gefangen und mit den anderen ins Becken getan, damit sie nicht so nach Schlamm schmecken sollen. Und es sind feine Karpfen, glaubt es mir.“
„Das wissen wir doch, Frau Kreweling. Deine Karpfen waren immer die besten der Welt. Woanders möchte ich gar keinen Karpfen essen“, rief Marion begeistert.
Draußen heulte es jetzt noch mehr. Ein regelrechter Schneesturm fauchte über das Haus hinweg.
Marion warf einen prüfenden, besorgten Blick auf ihre Schwester, dann meinte sie stöhnend: „Hoffentlich kommt der Frans gut durch.“
„Ist er noch nicht da?“, erkundigte sich Frau Kreweling überrascht. „Du hast recht, Kind, der wird es schwer haben.“
„Und er hat keinen Geländewagen, er kommt mit einem normalen Auto.“
Draußen hupte es.
„Das ist der Frans, das ist der Frans!“, schrie Marion und stürmte aus der Küche in den Flur. Als sie die Tür draußen öffnete, fuhr ein eisiger Hauch bis hinten in die Küche hinein.
„Um Himmels willen, mach die Tür zu“, sagte Frau Kreweling, „die ganze Wärme geht uns weg.“
„Warte, ich will sehen, ob es der Frans ist.“
Kurz darauf kam Marion mit Frans ins Haus. Frans schloss die Tür. Isolde sah, wie sich der mittelgroße brünette Mann aus seinem Schafspelz schälte und den dann auf den Haken hängte. Isolde hatte Frans van Welkenraedt immer sehr gern gehabt. Als er jetzt Marion umarmte, sie an sich zog und küsste, da erfüllte sie das nicht mit Neid, aber mit einem Gefühl von Traurigkeit. Irgendwie wünschte sie sich selbst auch dieses Glück, das Marion jetzt in diesem Augenblick empfinden musste. Merkwürdig, dachte sie, mit Winfried hatte es eigentlich nie Zärtlichkeiten gegeben. Stürmische Leidenschaft, ja. Aber diese sanfte, liebevolle Zärtlichkeit, wie sie Frans ihrer Schwester zuteil werden ließ, das hatte es nicht gegeben. Und gerade davon wäre sie so beglückt gewesen.
Frans ließ Marion los, kam Isolde entgegen und streckte ihr die Hand hin. „Sei gegrüßt, Isolde! Na, bald ist es so weit, nicht wahr?“
Sie nickte nur und sah ihn groß an. Er hatte den typischen Akzent der Leute von der anderen Seite der Grenze. Es störte sie nicht. Lächelnd fragte sie:
„Bist du gut durchgekommen?“ Marion war da, hängte sich bei Frans ein und schaute ihn liebevoll an. Er war nicht viel größer als sie.
„Es war schon ein bisschen schwierig, und es wird immer schlechter. Ich frage mich“, fügte er lächelnd hinzu, „wie ich wieder zurückkommen soll.“
„Du brauchst nicht zurück, du bist bei uns gut aufgehoben“, verkündete Marion lachend.
„Und mein eigenes Geschäft?“, fragte er besorgt.
„Das geht auch ein paar Tage ohne dich. Du hast doch Leute auf dem Hof.“
Er schwieg dazu, blickte wieder auf Isolde und meinte: „Hast du noch lange Zeit? Hoffentlich hast du das. Es wird nicht gut sein, mit dir jetzt losfahren zu müssen. Du wolltest doch schon früher nach Bonn, nicht wahr?“
„Früher, vielleicht eine Woche oder auch zwei, auf alle Fälle nicht vor Neujahr.“
„Vielleicht geht der Schnee bis dahin weg.“
„Vielleicht auch nicht“, orakelte Marion und schmiegte sich an Frans.
Die beiden sind ein nettes Paar, dachte Isolde in diesem Augenblick. Und als sie das dachte, da spürte sie ein leichtes Ziehen im Unterbauch. Es war nur einen Moment lang. Erst glaubte sie, das Kind bewege sich wieder. Aber das war diesmal ganz anders. Doch als sie in sich hineinhorchte und versuchte festzustellen, wie dieses Gefühl tatsächlich war, da verging es wieder. Sie spürte nichts mehr.
„Was ist denn mit dir? Warum verziehst du das Gesicht?“, fragte Marion, die Isolde beobachtet hatte.
„Nichts. Mein Sohn hat sich vermutlich wieder etwas bewegt.“
Frans lachte. „Und wenn es dann doch eine Tochter wird, das wäre ja eine Blamage für deinen Arzt, nicht wahr?“
„Kann sein, dass es eine Blamage ist. Mir wäre es egal, Hauptsache, das Kind ist gesund.“
„Aber seit du weißt, dass es ein Sohn ist, willst du auch einen haben“, meinte Frans.
„Natürlich, weil ich es weiß, ich freue mich darauf. Aber ich hätte mich ebenso auf eine Tochter gefreut“
„Und ihr beide, wenn ihr geheiratet habt, was wünscht ihr euch denn?“, wollte Isolde wissen.
Frans und Marion sahen sich überrascht an, dann lachten sie beide, und Marion verkündete:
„Darüber haben wir noch nie gesprochen. Ich für mein Teil hätte lieber ein Mädchen!“
„Natürlich, die Mädchen haben es im Leben viel leichter als die Jungen“, sagte Frans.
„Das ist ein Vorurteil. In Wirklichkeit werden die Frauen von den Männern unterdrückt“, behauptete Isolde.
„Glaubst du an dieses Kindermärchen?“, wollte Frans wissen.
„Das ist kein Kindermärchen“, entrüstete sich Isolde fanatisch, „es ist leider pure Wahrheit, und ich kann ein Lied davon singen. Winfried war manchmal so gemein zu mir.“
„Du brauchst dieses Thema gar nicht aufzubringen. Ich weiß, dass du dich jedes Mal darüber aufregst“, sagte Marion. „Hör doch auf. Im Übrigen gibt es keinen Grund für dich, ihm nachzutrauern. Diesen Kerl habe ich nie leiden können.“ Sie sah wieder auf Frans, lächelte und sagte: „Diese Probleme werden wir beide nicht haben, nicht wahr?“
„Niemand kann in die Zukunft sehen“, sagte Frans, „aber ich will mir Mühe geben. Mich hat man übrigens überhaupt noch nicht gefragt, was ich möchte, einen Jungen oder ein Mädchen.“
„Ich wette, du wirst es uns gleich sagen“, meinte Marion lachend.
„Du hast die Wette schon gewonnen. Ich wünsche mir nämlich auch ein Mädchen.“
„Weil die es leichter haben im Leben?“, spöttelte Marion, und Isolde meinte:
„Die reinste Liebe eines Mannes ist die zu seiner Tochter.“
„Ob das wirklich stimmt?“ Frans zuckte die Schultern. „Ich wäre sehr glücklich, wenn wir eine Tochter hätten, eine gesunde Tochter. Aber ebenso gut, da hast du völlig recht, Isolde, wären wir froh, wenn wir einen gesunden Sohn haben. Aber vielleicht haben wir beides.“
„Immer alles mit einmal“, brummte Marion. „Ein Junge und ein Mädchen und möglichst Zwillinge, nicht wahr?“
„Dann haben wir alles hinter uns, ein Pärchen, das ist modern. Die Leute wollen alle Pärchen.“
„Ich möchte vier Kinder“, erklärte Marion.
„Lauter Mädchen?“, fragte Frans und spielte den Erschrockenen.
„Natürlich, was denn sonst? Dann sind wir zu fünft, und dann kannst du uns nicht unterdrücken.“ Jetzt lachten sie alle drei.
Draußen trat sich jemand den Schnee ab, dann flog die Tür auf. Eiskalt wehte der Sturm den Schnee herein. Zwei Männer tauchten auf. Zunächst sahen alle nur die vermummten Gestalten, aber als sich die Tür schloss und sich die beiden aus ihren Mänteln und Kapuzen schälten, zeigte sich, wer hereingekommen war.
„Hallo, Thomas, hallo Fried!“, rief Frans, löste sich von Marion und begrüßte die beiden.
Friedhelm machte ein ernstes Gesicht. „Es sieht nicht gut aus, es kommt immer mehr Schnee. Ich hoffe nur, dass es nicht allzu toll wird. Ich frage mich schon, wie wir Frau Kreweling zurückbringen. Ich kann die alte Frau doch nicht auf dem Traktor nach Hause fahren, die friert ja zum Eiszapfen, bis wir bei ihr sind. Sechs Kilometer durch die Kälte. Und dann auf dem offenen Traktor.“
„Und der Jeep?“, fragte Frans. „Ich bin ja auch noch durchgekommen, aber es war schon schwierig.“
„In einer halben Stunde kommst du nicht mehr durch, nirgendwohin, dann haben wir mit dem Jeep Mühe. Und wenn es zwei Stunden so weitergeht, fährt auch kein Jeep mehr.“
„Und der Unimog?“, wollte Frans wissen.
„Kaputt.“
„Na ja, wir werden schon einen Weg finden“, meinte Thomas. „Die alte Frau will schließlich bei ihrem Sohn und den Enkelkindern Weihnachten feiern, und ich kann es ja verstehen. Auf der anderen Seite ist es doch kein richtiges Weihnachten, wenn sie nicht gekommen wäre, um die Karpfen zu machen. Und zu Ostern kommt sie ja auch zum Osterlamm. Irgendwie werden wir das schon schaukeln.“
Isolde ging wieder ins Büro, die anderen drängten zur Küche, wo Frau Kreweling den Imbiss vorbereitete. Das war auch Tradition, dass es am Vormittag Frau Krewelings Frühstück gab, wie sie es alle nannten.
Thomas trat in die Tür des Büros und sagte: „Isolde, Frau Krewelings Frühstück wartet, willst du nicht daran teilnehmen?“
„Ich habe gar keinen Hunger“, erwiderte Isolde. „Geh du nur, geht alle und esst.“
„Ist etwas mit dir?“, fragte er sofort und trat in den Raum hinein.
Sie hatte sich gesetzt, wirkte ein wenig blass, aber dann lächelte sie und blickte ihm entgegen. „Es ist nichts, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich habe nur keinen Appetit. Du weißt doch, dass es oft so ist.“
„Die letzte Zeit hast du gegessen wie ein Scheunendrescher.“
„Na ja, und wenn schon, es ist nicht immer gleich. Ich habe im Moment keinen Hunger. Ich möchte heute Abend mit Karpfen essen, viel, nicht nur ein paar Bissen. Da ist es besser, wenn ich jetzt faste. Ich wiege ohnehin zu viel.“
„Na ja, du brauchst nicht für zwei zu essen, aber das, was du an Übergewicht hast, ist minimal, das bildest du dir nur ein.“
„Aber unser Arzt hat gesagt ...“ Thomas wollte schon etwas erwidern, wollte sagen, dass ein paar Pfund Übergewicht gar nichts bedeuten. Das Wohlbefinden war die Hauptsache. Aber er sagte es nicht. Er hatte es sich abgewöhnt, einem früheren Kollegen zu widersprechen, selbst wenn es ein einfacher Landarzt war. Ich bin kein Arzt mehr, sagte er sich immer wieder. Er versuchte, es einfach zu verdrängen, je Arzt gewesen zu sein. Ich darf es nicht sein und will es nicht sein. Und so dachte er auch jetzt.
Sie stand auf und schloss die Tür, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und sah Thomas nachdenklich an. „Du machst dir wirklich sehr viel Sorgen um mich. Aber Thomas, sei mir nicht böse, ich will es dir mal ehrlich sagen, ehrlich deshalb, weil ich dich sehr mag, weil ich dich sehr, sehr gern habe, Thomas. Und gerade deshalb muss ich es dir sagen, selbst wenn es dir wehtut. - Du sollst dir keine Hoffnungen auf mich machen. Es ist den anderen schon aufgefallen, wie du mich ansiehst, und ich selbst habe es natürlich auch bemerkt. Auf der einen Seite schmeichelt es mir, es macht mich sogar glücklich und doch zugleich wehmütig.“
„Gibt es überhaupt einen gescheiten Grund dafür, dass du dich in diese Idee verrennst? Du möchtest dein Kind allein aufziehen; oder hasst du die Männer grundsätzlich? Ist dieses Erlebnis“, fragte er und sah sie dabei aufmerksam an, „das du mit Winfried hattest, so einschneidend gewesen, so verändernd, dass du jetzt alle über einen Kamm scherst?“
„Du musst nicht solchen Unsinn reden. Du hast ...“ Plötzlich hatte sie wieder dieses Ziehen im Unterbauch. Um Himmels willen, dachte sie, was ist das nur? Hoffentlich hat er es nicht gemerkt. Sie wollte weitersprechen in der Hoffnung, dass ihm entgangen war, wie sie das Gesicht verzogen hatte.
Aber natürlich hatte er es bemerkt und fragte sofort: „Was ist mit dir? Hast du etwa Wehen?“
„Wehen? Wie kommst du denn darauf? Ich hatte so ein eigenartiges Gefühl, aber das hat nichts zu bedeuten.“ Sie ging zum Stuhl, setzte sich in den Drehschemel, und schon, als sie sich niederließ, verschwand dieses ziehende Gefühl wieder.
„Weißt du überhaupt, wie Wehen sind?“, fragte er.
„Ich kann es ja nicht wissen, aber ich stelle mir vor, wie es sein könnte. Ich glaube, dass jede Frau weiß, wann Wehen einsetzen. Es ist doch so, als drängte etwas aus ihr heraus.“
„So ähnlich kann es sein, ja, aber es ist ein ziehendes Gefühl. Es ist natürlich wirklich schlecht zu beschreiben.“
Vielleicht doch Wehen?, fragte sie sich. Wenn es Wehen sind, das wäre ja furchtbar bei diesem Unwetter draußen. Unbewusst sah sie zum Fenster hin. Draußen tobte der Sturm. Es war so laut, dass sie sich gar nicht mehr in normaler Lautstärke hier unterhalten konnten.
„Wenn es doch Wehen sind, dann sollten wir uns sofort auf den Weg machen.“
„Ich könnte ja hier zu Hause gebären, wenn dich das beruhigt. Du bist doch da, du bist doch Arzt. Und meine Schwester würde als Veterinärin ja auch so viel wissen, dass sie dir dabei helfen kann. Und wir haben auch die alte Frau Kreweling, die hat schon vielen Kindern mit in diese Welt geholfen.“
„Ich bin kein Arzt, ich kann dir nicht helfen“, sagte Thomas und schien regelrecht wie vor einer drohenden Gefahr zurückzuweichen. Zwischen ihnen, so kam es ihr vor, wuchs eine Wand auf. Eine durchsichtige, aber nicht zu übersteigende Wand.
Sie spürte, dass sich alles in ihm dagegen sträubte, in irgendwelcher Hinsicht noch mit Medizin zu tun zu haben. Warum nur, dachte sie. Er ist doch leidenschaftlich gern Arzt gewesen. Dass ihn ein paar unglückliche Umstände davon weggerissen haben, kann doch nicht endgültig sein. Er ist ein guter Arzt, wir alle wissen es. Aber selbst wenn er ein Pflaster irgendwem auf eine Verletzung machen soll, dann tut er, als wäre er selbst dazu nicht imstande, als sei ihm sogar das verboten.
„Thomas, wenn du wolltest, und da hat Fried völlig recht, wenn du wirklich wolltest, könnte alles längst wieder in Ordnung gebracht sein. Das ist doch nicht lebenslänglich.“
„Was?“, fragte er barsch, als wollte er sie davon abhalten, weiter mit ihm darüber zu sprechen.
„Du weißt genau, wovon ich spreche. Du könntest längst wieder Arzt sein. Diese Schwester, die gesehen hat, was wirklich war, die hätte ja ihre Aussage machen können. Je länger du wartest, umso mehr wird es auch für ein Wiederaufnahmeverfahren schwierig sein.“
„Es wird kein Wiederaufnahmeverfahren geben“, erklärte er schroff, „weil ich es nicht will. Ich möchte nie mehr Arzt sein. Nie mehr, verstehst du?“
Sie zuckte die Schultern. „Wie du willst. Aber du siehst mich mit einem Mal so böse an. Mein Gott, Thomas, es hat einmal eine Zeit gegeben ...“ Sie senkte den Kopf und sprach nicht weiter.
„Es hat einmal eine Zeit gegeben“, fuhr er fort und sah sie ernst an, „da hatte ich dich gebeten, meine Frau zu werden. Es hat eine Zeit gegeben, da hätte es mich wahnsinnig glücklich gemacht. Und diese Zeit ist nicht vorbei, du weißt, dass sie nicht vorbei ist. Selbst auf die Gefahr hin, erneut eine Abfuhr von dir erteilt zu bekommen, frage ich dich wieder: Willst du meine Frau werden?“
Sie hob den Kopf. „Du kennst meine Antwort.“
„Eben, ich kenne deine Antwort, aber ich werde nicht müde, dich wieder und wieder zu fragen, ganz einfach deshalb, weil ich nämlich auch nicht glauben kann, dass das endgültig sein soll.“
Sie richtete sich auf. „Ich würde ja sagen unter der Voraussetzung, dass du das mit deinem Beruf wieder in Ordnung bringst.“
„In Ordnung bringst? Was soll ich in Ordnung bringen? Ich bin hier bei deinem Bruder, und ich bin sehr glücklich.“
„Du weißt genau, dass das nicht für die Ewigkeit ist. Irgendwann einmal wird eine Frau kommen, er wird sie vielleicht heiraten, und dann, was ist denn dann? Was machst du dann?“
„Ich werde ebenso hier sein können, ich tue meine Arbeit, so wie er sie tut.“
„Ach hör doch auf! Du weißt ganz genau, dass sich danach einiges verändern wird. Die Arbeit, die du tust, kann irgendein Angestellter tun. Du nimmst kein Geld von ihm, ich weiß. Er drängt es dir auf, du nimmst es nicht. Wenn du etwas brauchst, dann sagst du es ihm. Und du musst es ihm sagen, denn von der Luft kannst du dir nichts kaufen.“
„Das, was er mir gibt, wenn ich es brauche, hat immer gereicht. Ich bin genügsam. Etwas Pfeifentabak, ab und zu etwas anzuziehen, mehr habe ich nicht nötig, und das Essen bekomme ich sowieso.“
„Und davon willst du eine Familie ernähren? Wenn ich zu dir sage: Ja, ich werde deine Frau, was dann? Wie willst du existieren? Wovon?“
„Ist es das, was dich daran gehindert hat bis jetzt?“, fragte er überrascht.
„Nein“, widersprach sie heftig, „das ist es nicht, aber ich glaube nicht, dass du glücklich bist, auch wenn du es immer wieder sagst. Ich glaube nur, dass du Angst hast, ich weiß nur nicht wovor.“
„Damit hast du sogar recht“, bekannte er. „Ich habe Angst.“ Er setzte sich auf die Schreibtischkante und sah sie an. „Ich habe Angst davor, dass ich wieder das sage, was ich empfinde, und sie abermals ablehnen und genauso überheblich wie seinerzeit erklären, ich sei charakterlich nicht geeignet, ein Arzt zu sein. Welch miese Feststellung! Jemand sagt seine Meinung, und da ist er charakterlich ungeeignet.“
„Aber es ist doch unrecht. Unrecht kann doch nicht einfach bestehen bleiben“, meinte sie erregt.
„Es ist nicht gut“, erklärte er besänftigend, „wenn du dich so engagierst, es regt dich auf, und es regt dein Kind auf. Vergiss die Geschichte mit mir, ich meine, mit meinen Problemen. Ich werde damit auch irgendwann mal allein fertig. Im Übrigen wüsste ich schon einen Weg, ohne Arzt zu sein, um eine Familie zu ernähren. Und du brauchst nicht erst deinen Bruder zu fragen, damit er es dir erklärt. Er und ich, wir haben ein Abkommen, wenn es wirklich einmal so weit ist, dann werde ich auch zurechtkommen. Sein Wort ist mir mehr wert als zehn notarielle Verträge.“
„Er kann dir nicht geben, was er nicht hat, er muss selbst kämpfen. Du weißt doch besser als jeder andere, wie schwierig es ist, mit eurer neuen Methode durchzukommen. Gut, in Ordnung, es läuft jetzt, aber ihr habt auch Schulden, und die müssen weg. Niemand weiß das besser als ich, denn ich mache die Buchführung. Diese Schulden will Fried abbauen.“
„Nicht nur er, ich möchte das ebenfalls. Weißt du übrigens, dass er mich zu seinem Partner gemacht hat?“
„Ich weiß es. Ich weiß, dass Fried sich daran hält. Aber sieh mal, was hier alles dranhängt. Im Augenblick gibt es nichts zu verteilen. Wovon leben wir denn? Wenn man es recht besieht, ist es der Kredit der Bank, der uns über Wasser hält. Wir machen zwar schwarze Zahlen, ich will damit sagen, wir machen Gewinn, aber so, wie Fried sich das vorstellt, ist es nicht zu bewältigen. Er möchte schon im Frühjahr die ganzen Schulden abbauen. Der geringste Fehlschlag, der danach eintritt, würde uns alle hier von den Füßen reißen.“
„Bis jetzt ist es ganz gut gegangen, und es wird weitergehen. Fried braucht diesen Kredit nicht völlig zurückzuzahlen, es genügt, wenn er einen Teil davon an die Bank zurückgibt“, erklärte Thomas. „Aber das ist es doch nicht allein. Wir kommen rund, ich glaube nicht, dass das für dich der Grund sein kann, zu mir nein zu sagen.“
„Ich sage dir nicht nein, ich sage mir nein“, entgegnete sie und sah ihn auf eine Weise an, dass er Mühe hatte, ihren Blick zu erwidern. Alles in ihm drängte danach, dass er zu ihr ging, dass er ihre Schultern nahm, dass er sie an sich zog, dass er sie küsste, wie er es schon einmal getan hatte. Damals wäre fast alles gut geworden. Und danach war sie zu ihrem Vater gegangen. Oh unglückseliges Gespräch, dachte er. Als sie vom Vater wiedergekommen war, hatte sich alles geändert. Jetzt gab es keinen Vater mehr, mit dem sie reden konnte. Und was Fried von einer Verbindung zwischen ihr und ihm selbst hielt, das wusste Thomas. Fried würde es in jedem Falle befürworten.
„Ich weiß, was du denkst“, sagte sie leise. „Aber es darf nicht sein, ich möchte es nicht. Ich sage nein zu mir. Ich möchte auch das, was du willst, aber es ist nicht dein Kind. Es ist seins.“
Er prallte wie nach einem Schlag zurück, sah sie fast erschrocken an. „Das ist es also. Du denkst immer noch an ihn, und ich habe geglaubt ...“
„Es ist richtig, was du geglaubt hast“, sagte sie heftig. „Nun versteh mich doch nicht falsch. Es ist sein Kind und nicht deines. Und ich habe Angst, dass es von dir nicht die Liebe bekommen könnte, die es braucht. Vielleicht siehst du in diesem Kind immer ihn. Ich weiß, dass du ihn gehasst hast.“
„Gehasst ist der falsche Ausdruck. Ich habe ihn nicht gehasst“, widersprach er. „Winfried war etwas, das ich wie eine Gefahr für dich empfunden habe. Ich bin traurig gewesen, als du dich für ihn entschieden hattest. Und es hat mir wehgetan, mitansehen zu müssen, was dann geschah. Ich habe vorausgesehen, was kommen würde. Dazu gehörte überhaupt keine besondere Begabung zum Propheten, das was da kam, hätte jeder vorausgesehen, dem ein wenig Einfühlungsvermögen gegeben war. Dein Bruder hat es dir auch gesagt.“
„Aber mein Vater fand ihn gut. Du machst dir kein Bild, du machst dir wirklich keinen Begriff davon, Thomas, wie sehr ich an meinem Vater gehangen habe. Es hört sich heute so an, als würdest du mich verdammen, weil ich damals auf meinen Vater gehört habe. Mein Vater war für mich so etwas wie ein Gott. Was er sagte, bedeutete für mich ein Evangelium, es war einfach unantastbar, es musste richtig sein. Seine Ratschläge waren die Ratschläge eines Unfehlbaren. Bitte lache nicht!“
„Ich denke nicht daran zu lachen. Ich weiß, wie ihr beide miteinander gestanden habt. Soll ich sagen, dass es ein Unglück war? Er hat dir manchen schlechten Ratschlag gegeben. Und was die finanzielle Situation dieses Betriebes angeht, so ist sie deshalb am Anfang so schlecht, ja, so katastrophal gewesen, weil dein Vater auch nicht gut wirtschaften konnte.“
„Nun versteh das doch. Er war ein Aristokrat, er hat sich immer so gefühlt. Er hat geglaubt, dass jeder, der adlig ist, etwas Besonderes sein muss, eine Elite, kurzum etwas Besseres. Das ist ja dieser Wahnsinn gewesen. Fried ist nicht so, Marion nicht, ich auch nicht. Für uns ist das ausgemachter Blödsinn, aber er war nun einmal so. Ich habe diese Erkenntnisse, die ich heute besitze, in den letzten Monaten erst begreifen müssen, lernen müssen. Ich sehe ein, dass vieles falsch gewesen ist. Aber damals habe ich einfach nichts gegen den Rat meines Vaters getan, so falsch auch dieser Rat gewesen sein mag, ich konnte es nicht erkennen, ich konnte keinen Fehler in dem sehen, was mein Vater sagte. Ich habe euch ja auch nicht verstanden, als ihr damit begonnen habt, den ganzen Betrieb umzustellen. Und damals war Vater noch am Leben. Ich weiß, wie er sich dagegen gestemmt hat. Ich habe ihm mehr geglaubt als euch.“
„Und jetzt glaubst du mir etwa mehr? Du tust es nicht“, meinte Thomas traurig. „Jetzt hast du dir eine eigene Philosophie zusammengebastelt. Diesen Quatsch, als wenn ich dein Kind nicht lieben könnte. Schon die Tatsache, dass es dein Kind ist, nicht das von Winfried.“
„Das Kind wird größer. Eines Tages zeigt es Eigenschaften, die dir fremd sind. Und dann wirst du sagen: Dieses Kind ist nicht mein Kind, es ist wie Winfried. Und den hast du nicht gemocht. Das ist das Mindeste, vielleicht hast du ihn nicht gehasst, aber du hast ihn nicht gemocht.“
„Ich glaube nicht, dass ich das denke, aber ich kann es nicht ausschließen.“
Da hakte sie sofort ein. „Siehst du, du kannst es nicht ausschließen, und du hast ...“ Plötzlich war wieder dieses Ziehen da, dieses eigenartige Gefühl, so, als wenn etwas in ihr war, das herausdrängte. Sind es am Ende doch Wehen?, dachte sie. Um Himmels willen. Sie sah wieder zum Fenster. Draußen hatte der Sturm nicht im Mindesten nachgelassen, ganz im Gegenteil. Die Scheiben waren jetzt sogar voll Schnee. Man konnte kaum noch hinausblicken. Mit einem Male erfüllte sie eine jähe Angst. Was mache ich, wenn ich nicht von hier wegkomme? Eine Hausgeburt? Ich habe das vorhin so einfach dahingesagt. Wenn da etwas schiefgeht!
Diese dumpfe Ahnung, die sie mit einem Male überwältigte, veränderte sie äußerlich mit einem Schlag.
Thomas starrte sie erschrocken an. Ihr Gesicht war dunkel geworden, die Augen rot gerändert. In ihrem Blick zeichnete sich Furcht ab, grenzenlose Furcht, und er spürte, dass sie in eine Panik geraten zu sein schien.
„Isolde, um Himmels willen, was ist denn? Isolde, was hast du? Bekommst du eine Wehe? Ist das eine Wehe?“
Sie verzog das Gesicht, schloss die Augen. Sie presste den Mund zusammen und antwortete nicht. Sie hielt mit beiden Händen ihren Bauch, krümmte sich jetzt vor Schmerzen; so jedenfalls kam es ihm vor. Aber dann, nach Sekunden, löste sie sich. Sie begann sich zu entspannen, atmete keuchend, lehnte sich zurück und sah ihn dann wie nach einer schweren Arbeit erschöpft an. „Es ist nichts. Es war nur ein Anfall.“
„Ein Anfall? Ich habe das Gefühl, es ist eine Wehe.“
Sie schüttelte den Kopf. „Es kann ja nicht sein. Es kann nicht sein.“
„Du machst es nicht damit unmöglich, indem du dir das einredest. Eine Geburt beginnt, wenn sie beginnen soll, nicht wenn du es willst.“
„Vielleicht ist es doch besser“, sagte sie leise, als rede sie mit sich selbst, „wenn ich jetzt ins Krankenhaus führe.“
„Jetzt?“ Er trat ans Fenster. „Man kann gar nicht mehr hinaussehen. Alles weiß. Es ist richtig dunkel geworden. Man könnte die Hand nicht vor Augen sehen. Ich glaube nicht, dass man noch durchkommt. Vielleicht mit dem Traktor. Aber das würde dich umbringen.“
Sie spürte im Augenblick nichts, aber sie hatte das dumpfe Gefühl, dass es wiederkommen würde. Es mussten Wehen sein. Aber es war so eigenartig.
„Soll ich dir Marion schicken?“, fragte er.
Im ersten Augenblick wollte sie ablehnen, aber dann sagte sie sich, dass es vielleicht doch besser war, mit Marion darüber zu reden. Ihm gegenüber hatte sie Hemmungen. Es ist Unsinn, wenn ich ihm gegenüber so empfinde. Aber sie wurde es nicht los. Überhaupt wenn er in der Nähe war, spürte sie das Verlangen, seine Hand zu nehmen, sie sich auf die Brust zu legen und ihm über seine Wange zu streicheln. Sie hatte es ein einziges Mal getan, damals vor Jahren.
Er ging hinaus und holte Marion aus der Küche.
Als Marion hereinkam, hatte Isolde, wie sie es bei sich selbst nannte, einen neuen Anfall.
„Um Himmels willen, sag nicht, dass es so weit ist!“, rief Marion von der Tür her. „Sag das nicht! Isolde, das kann nicht wahr sein! Wir können nicht weg. Draußen ist die Hölle los. Aber ich hab es immer gewusst. Hätten wir dich doch früher weggebracht! Jetzt haben wir den Schlamassel da.“
„Schimpf doch nicht mit mir!“, keuchte Isolde, die verkrümmt im Stuhl saß. „Schimpf nicht auch noch! Es geht mir nicht gut.“
„Es geht dir nicht gut. Hättest du doch auf uns gehört!“
„Es ist doch noch so viel Zeit. Hör doch auf zu schimpfen! Ich weiß ja nicht, ob es das ist. Bitte, bitte, Marion!“
In Marion kamen schwesterliche Gefühle durch, nachdem sie ihre Vorwürfe losgeworden war. Sie beugte sich über Isolde, legte ihr die Hände auf die Schultern und fragte:
„Sind es Wehen?“
„Wenn ich es wüsste. Es ist so eigenartig. Es ist ... es ist, es ist, als zöge sich bei mir unten alles zusammen.“
„Dann sind es Wehen. Es müssen Wehen sein. Du musst dich hinlegen. Leg dich hin!“
„Ich kann mich nicht hinlegen. Lass mich doch! Lass mich so sitzen!“
„Dann wollen wir sehen, dass wir wenigstens den Arzt holen“, rief Marion, dann schlug sie die Hand vor den Mund. „Um Gottes willen!“, stieß sie hervor. „Der hat ja Urlaub. Da ist nur die Vertretung da. Aber wie sollen wir die herkriegen?“
Sie dachte an Thomas, aber sie wusste zugleich, dass es Thomas ablehnen würde, und vielleicht war es Isolde auch gar nicht recht, wenn er derjenige war, der sie untersuchte.
Sie beschloss, Isolde zu fragen. „Sollten wir nicht Thomas bitten? Mein Gott, du weißt ja, dass er ein hervorragender Arzt war. Diese Geschichte von ihm kennen wir ja jetzt. Aber er ist doch unschuldig, das begreift jeder.“
„Er will nicht, und ich will auch nicht. Es ist ... ich schäme mich; ich schäme mich vor ihm.“
„So ein Unsinn! Wie kannst du dich vor ihm schämen? Du musst in ihm in diesem Augenblick den Arzt sehen und nicht den Mann.“ Sie richtete sich auf und sah überrascht auf ihre Schwester herab. „Sag mal, dann ist er dir ja gar nicht so gleichgültig, wie du tust?“
Isolde war im Augenblick nicht imstande, darauf einzugehen. Sie presste die Hände auf den Leib. Es war diesmal erheblich schlimmer geworden als vorhin. Und nun war sie sich klar, dass die Geburt irgendwie einsetzte. Sie mussten etwas tun. Sie mussten sofort etwas tun ...
„Warte, ich hole Fried, oder ich spreche mit ihm. Wir müssen diese Vertretung holen. Koste es, was es wolle, müssen wir den Arzt holen, wenn du dich von Thomas nicht behandeln lassen willst.“
Sie lief in die Küche. Dort beratschlagte sie mit Frans, Thomas und ihren Bruder. Auch die Frau Kreweling wurde gefragt. Die beschloss, sofort einmal nachzusehen. Marion befürchtete schon, dass Isolde das nicht gewollt hätte. Aber Isolde war einverstanden. Als die Wehe vorbei war, ging sie hinauf zu ihrem Zimmer. Frau Kreweling stützte sie. Dann ließ sie es zu, dass Frau Kreweling, die Isolde ja schon als kleines Kind gekannt hatte, einmal nachsah, soweit man nachsehen konnte.
Aber Frau Kreweling konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Sie hatte zwar mitgeholfen, Kinder auf die Welt zu bringen, aber von den Umständen, die davor lagen, wusste sie nichts. Sie sagte, als Marion heraufkam:
„Ich weiß nicht. Es ist so, als käme bald ein Kind, aber der Muttermund ist noch zu.“
Mein Gott, dachte Marion, richtig kann das doch nur Thomas beurteilen.
„Ich sollte Thomas holen“, sagte sie zu ihrer Schwester, als Frau Kreweling hinausgegangen war. „Meinst du nicht auch, dass er mal nachsehen sollte? Du weißt genau, dass er es kann.“
„Aber er will nicht. Er will nicht“, keuchte Isolde, bei der sich schon wieder eine neue Wehe ankündigte.
„Natürlich will er“, widersprach Marion. „Wenn ich es ihm sage, tut er es.“
„Könnte nicht doch ein Arzt ...“
„Ich werde mit ihm reden, warte nur.“
Unten im Büro standen Friedhelm, Frans und Thomas zusammen.
„Man kann ja nicht hinaus“, sagte Frans gerade. „Ich bin mit Mühe hergekommen. Vielleicht könntet ihr mit dem Jeep einen Arzt holen. Aber du, Thomas, du bist doch ein Arzt. Warum willst du es denn nicht tun?“
„Ich bin kein Arzt“, widersprach Thomas. „Ich darf überhaupt nichts tun. Ich kann dir helfen, wenn ein Notfall vorliegt, in Ordnung.“
„Es wird auf einen Notfall herauskommen“, entgegnete Friedhelm und deutete zum Fenster. „Wir kommen hier nicht weg. Außer dir haben wir hier niemanden.“
„Ruf die Ärztin an, die die Vertretung übernommen hat! Vielleicht kommt die durch. Versuch es!“, sagte Thomas. „Ich will tun, was ich kann, natürlich. Aber ich möchte, dass wir auf der anderen Seite versuchen, was möglich ist. Ich möchte es ausschließen, dass man sagt ...“
„Dass wer sagt? Wer ist man?“, fragte Friedhelm, und es klang gar nicht mehr so freundlich. „Wir sagen doch bestimmt nichts. Wir werden dir nie einen Vorwurf machen, das weißt du doch.“
„Es geht nicht nur um euch. Es kann Isolde etwas zustoßen.“
„Ich verstehe dich ja. Dann wird es heißen, du hättest etwas verpfuscht, du hättest eingegriffen, du, der du das nicht durftest. In Ordnung. Ich werde sehen, dass wir diese Ärztin erreichen. Vielleicht müssen wir sie holen. Ich werde versuchen durchzukommen. Ich habe verstanden, und ich begreife, warum du das sagst. Ich hätte an deiner Stelle genau solche Hemmungen wie du. Aber untersuchen kannst du sie ja.“
Da kam Marion herein. Sie hatte die letzten Worte gehört und hörte nun auch die Antwort von Thomas, der sagte: „Ja, ich werde sie untersuchen, wenn sie es will. Aber nur, wenn sie es will.“
„Sie will es!“, rief Marion von der Tür her. „Komm! Ich glaube, das geht alles wahnsinnig schnell. Viel schneller, als wir gedacht haben.“
„Und ich will sehen, ob ich diese Ärztin erreiche“, sagte Friedhelm und ging zum Telefon.
Die Telefonleitung war in Ordnung. Das Rufzeichen kam auf der Nummer des Landarztes an. Nach kurzer Zeit meldete sich eine Frauenstimme. Es war die Vertreterin.
Friedhelm schilderte, was mit Isolde war.
„Aber ich komme doch nicht durch“, hörte er die Ärztin sagen. „Wir sind rundum zugeschneit hier. Und der Wind macht alles noch viel schlimmer.“
„Der Doktor hat einen Geländewagen. Können Sie damit umgehen?“
„Kann ich nicht“, entgegnete die Ärztin. „Ich bin noch nie mit so einem Ding gefahren. Ich habe noch einen anderen Anruf gekriegt. Ich weiß auch nicht, wie ich dahin kommen soll. Ich habe schon die Bundeswehr angerufen. Da ist eine Frau, die ein Bein gebrochen hat. Die Bundeswehr will mit einem Geländefahrzeug hinfahren. Aber was ich in Ihrem Falle machen sollte ...“
„Ich werde Sie holen.“
„Ja, dann ginge es vielleicht. Haben Sie denn einen Geländewagen?“
„Ja, wir haben einen, und wir kommen auch durch, verlassen Sie sich darauf. Ich mache mich sofort auf den Weg. Ziehen Sie sich inzwischen warm an.“
Friedhelm legte auf, sah Frans an, und der machte ein bedenkliches Gesicht. „Ich weiß nicht, glaubst du wirklich, dass du durchkommst?“, fragte Frans zweifelnd.
„Natürlich komme ich durch. Ich muss ja. Du siehst ja, was hier läuft.“
„Dann fahr ich mit. Alleine lass ich dich nicht weg.“
„Gute Idee von dir. Zu zweit können wir uns gegenseitig helfen. Vor allen Dingen nimm die Rumflasche mit!“
Frans lachte. „Und wenn dir einer die Promille messen will unterwegs?“, fragte er.
„Da, wo wir langfahren, kann uns höchstens der Förster die Promille messen“, meinte Friedhelm lachend. Aber es war ein grimmiges Lachen; kein Lachen der Freude.
„Du willst den Waldweg nehmen, nicht wahr?“
„Die einzige Chance, um durchzukommen. Dort schützen ein gutes Stück lang die Bäume den Weg vor Verwehungen.“
„Aber dahinter, ich weiß ja, wo du langfahren willst, das große freie Stück, das ist doch todsicher zugeweht.“
„Natürlich. Da fahr ich oben über die Felder und nicht den Hohlweg entlang, denn der ist bestimmt unpassierbar.“
Frans van Welkenraedt seufzte. „Na, da bin ich gespannt, ob wir durchkommen.“
„Du kannst gespannt sein, wie du willst, bloß eins müssen wir ganz sicher: nämlich durchkommen hin und wieder zurück, Frans ...“