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In der darauffolgenden Woche war es warm geworden. Ein milder Südwestwind, gepaart mit Regen, machte diesem Hauch von Schnee und dem Frost den Garaus.

Isolde saß über ihren Büchern. Ihr kleiner Sohn machte ihr überhaupt nicht mehr zu schaffen, das Kind hatte sich gesenkt. Gestern noch war sie zusammen mit Fried beim Hausarzt gewesen, der nur wenige Kilometer entfernt wohnte. Alles schien absolut normal zu sein. Der Doktor hatte noch abschließend bemerkt, er sei über die Weihnachtstage bis zu Drei Könige in Urlaub. In die Schweiz wollte er zum Skifahren. Weihnachten zu Hause, hatte er gesagt, sei ihm ein Gräuel, seit die Kinder nicht mehr da wären und er mit seiner Frau allein dort säße. Aber, hatte er schließlich versichert, es sei ja eine Vertreterin da, eine junge Ärztin, die schon im vorigen Jahr die Vertretung für ihn gemacht habe.

Isolde machte sich keine Gedanken darüber, denn ihr Termin lag ja weit über Drei Könige, also gab es keinen Grund, sich zu beunruhigen. Und außerdem wollte sie ungefähr am 5. Januar nach Bonn fahren zu ihren Bekannten, damit sie es nicht so weit zur Paul-Ehrlich-Klinik haben würde.

Der Regen prallte wieder an die Scheiben, dennoch konnte sie draußen auf dem Hof Thomas sehen, der, mit einer gelben Jacke und den Gummistiefeln angetan, den Unimog bestieg, mit dem er den Schweinen, die auch jetzt im Winter in ihren Koppeln im Walde waren, Futter brachte. Die Idee, die Schweine das ganze Jahr über im Freien zu halten und ihnen nur Schutzhütten zu bieten, in denen sie es allerdings warm hatten, wenn sie sie aufsuchen wollten - war von Thomas gekommen. Eine Idee, die sich als hervorragend erwiesen hatte.

Seit die Schweine im Freien gehalten wurden, Auslauf hatten, eine Suhle besaßen und trotzdem bei Bedarf ein schützendes Dach über dem Kopf fanden und wohlige Wärme, waren die Tiere viel gesünder, kräftiger. Obgleich die Aufzucht nicht mehr so schnell ging, die Mast dauerte länger, dafür war das Fleisch so begehrt, dass Metzger bis aus dem Ruhrgebiet zu ihnen kamen, um Schweine zu kaufen. Es war genau das Fleisch, wofür auch die Kunden dieser Metzger bereit waren, mehr auszugeben. Fleisch, bei denen keine Drogen, keine prophylaktischen Medikamente oder gar Hormone angewendet wurden. Natürliche Schweine, die so aufgezogen worden waren wie vor hundert Jahren. Der Profit war am Ende derselbe, weil das Fleisch einfach mehr wert war. Und diese Idee von Thomas, gegen die sich Friedhelm lange gewehrt hatte, war so gut, dass andere Bauern in der Nähe nun ebenfalls die ersten Versuche in dieser Richtung machten.

Thomas fuhr mit dem Unimog aus dem Hof. Er war es, um den sich jetzt Isoldes Gedanken drehten. Sie hatte ihn gern, sie hatte ihn sehr gern. Am liebsten hätte sie ihn geheiratet, und sie erinnerte sich eines Gesprächs, von dem niemand mehr außer ihr etwas wusste, ein Gespräch unter vier Augen mit ihrem Vater damals. Da hatte sie ihrem Vater von Thomas erzählt, dass sie ihn heimlich liebte, aber nicht wüsste, ob er diese Liebe erwidert.

Mein Gott, dachte sie, wie lange ist das her! Aber ihr Vater war dagegen gewesen. Er wollte nicht, dass sie einen Bürgerlichen heiratet und schon gar nicht einen verkrachten Arzt, wie er Thomas nannte. Für ihn war Thomas stets ein Mann gewesen, dem eine Straftat zur Last gelegt worden war und der Schiffbruch erlitten hatte. Mit Wehmut erinnerte sie sich daran, dass Vater Menschen in Pech nie geachtet hatte.

Diese Erkenntnis ihres Vaters konnte sie nie teilen. Und nun, wenn sie im Nachhinein darüber nachdachte, grauste es sie bei dem Gedanken, dass es ihr Vater war, durch den sie Winfried von Rottwitz kennengelernt hatte, ein Mann, dem es dann tatsächlich gelungen war, ihre Zuneigung zu erwerben.

Heute wusste sie ganz genau, dass es im Grunde nichts als Leidenschaft gewesen war. Eine Leidenschaft, das musste sie zugeben, die hochgelodert war wie eine Stichflamme, aber ebenso schnell war sie in sich zusammengesunken, diese Lohe. Und geblieben war eigentlich nur Asche, die Asche einer Leidenschaft. Liebe konnte es zu keiner Sekunde gewesen sein.

Aber sie trug sein Kind unter dem Herzen. Sein Kind, das vielleicht Eigenschaften hatte wie er. Nein, dachte sie, die Jungen werden wie die Mütter. Ich hoffe nicht, dass er so ist wie er. Und wenn schon, er hatte auch gute Seiten, nicht nur schlechte. Dass er ein Windhund war, hatte eigentlich ihr Vater nicht mehr so recht wahrgenommen, vielleicht auch nie wahrnehmen wollen. Ein Glück, dachte sie, dass die Scheidung nach Vaters Tod war. Mutter hingegen hat Winfried besser erkannt. Aber warum soll ich darum trauern, er ist weg, die Sache ist ausgestanden.

Ich weiß, dachte sie, dass Thomas mich liebt. Ich weiß es seit jenem Tag, als wir beide uns bei Dämmerung zufällig im Stall getroffen hatten. Es lag von mir aus keine Absicht darin, aber vielleicht ist er mir gefolgt, wollte mit mir sprechen. Er ist immer sehr rücksichtsvoll gewesen, sehr anständig. Eigentlich war er für mich immer der Freund, ein Mann, mit dem ich über alles reden konnte. Mit ihm hatte ich auch über Winfried gesprochen und dessen Eigenschaften. Merkwürdig, dass ich das einfach so gekonnt habe. Es muss ihn sehr verletzt haben oder vielleicht nicht? Wenn es für ihn ein Triumph war, dass ich doch den Falschen erwischt hatte, dann ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

Das junge Leben in ihrem Bauch machte sich wieder bemerkbar. Manchmal war es recht schmerzhaft, vom Herrn Sohn Kenntnis zu nehmen.

Aber das waren Beschwerden, die sie gern ertrug. Der Termin rückte immer näher, sie war glücklich. Längst hatte sie ihr Köfferchen gepackt, viel zu früh eigentlich. Aber alles sollte bereit sein.

Die Tür ging auf, ihr Bruder Friedhelm kam herein. Er suchte irgendetwas im Rollschrank dieses Bürozimmers, und sie sah ihn fragend an.

„Was suchst du denn?“, wollte sie wissen.

Er hatte den Rollschrank geöffnet, zog die einzelnen Schubladen heraus. „Einen Beleg, über den Betrag, den wir letztens für die Pferde berechnet hatten, die bei uns im Sommer über in Pension gewesen sind. Ich kann ihn einfach nicht finden.“ Er richtete sich auf, blickte Isolde an, aber die konnte ihm auch nicht helfen.

„Tut mir leid, aber ich habe nicht die mindeste Ahnung, wo du ihn hingetan haben könntest. Oder ist es womöglich noch nicht abgebucht? Dann wäre es hier bei diesen Dingen.“

Friedhelm stützte die Hände auf die Schreibtischkante, beugte sich ein wenig vor und blickte seine Schwester forschend an. „Bist du glücklich?“, fragte er.

Sie war so überrascht über diese Frage, mit der sie nicht gerechnet hatte, und dennoch antwortete sie spontan: „Oh ja, warum fragst du das?“

„Weil ich glaube, dass du ein Mensch bist, der nicht sagt, was er empfindet. Wir sind ja alle so erzogen worden, verklemmt erzogen, möchte ich sagen. Mein Gott, wenn die Menschen mehr miteinander reden würden! Vieles könnte besser sein. Denk an Thomas, der machte aus seinem Herzen nie eine Mördergrube. Aber in einem Punkt tut er es doch.“

Sie wurde ernst. „In welchem Punkt denn?“, erkundigte sie sich, obgleich sie durchaus ahnte, was er damit meinte.

Er zögerte keine Sekunde, ihr zu antworten. „Der Punkt bist du. Er hätte dir längst sagen sollen, dass er dich liebt.“

„Du knüpfst an das Gespräch zwischen Marion und mir an, nicht wahr?“

„Hat sie mit dir darüber gesprochen? Und wenn schon. Mein Gott, er und ich, wir sind Freunde geworden, richtige gute Freunde. Er ist ein Mann, wie ich ihn mir besser nicht vorstellen kann. Seit einer Woche kennst du seine Gesichte.“

„Es ist eine traurige Geschichte“, sagte sie, „aber nicht hoffnungslos. Er könnte, wenn er wollte, vielleicht doch etwas dagegen tun. Charakterlich nicht geeignet! So ein Blödsinn, wenn ich das schon höre. Wenn jemand dazu geeignet ist, Arzt zu sein, dann er.“

„Du irrst dich, wenn du glaubst, dass er diesem Beruf nachtrauert. Er hat sich inzwischen damit abgefunden und will gar kein Arzt mehr sein, dürfte er auch gar nicht. Und du kannst glauben, dass sie auf ihn aufpassen. Im Grunde hat er nichts anderes gelernt, als Arzt zu sein. Sie haben ihm seine Existenz zerstört. Dieser Pfuscher Hack, der im Übrigen noch immer praktiziert. Wer weiß, wie viele Menschen er durch seine Unfähigkeit inzwischen umgebracht hat. Dass so ein Mensch die Berechtigung behält, Arzt zu sein, und derjenige, der absolut der bessere Arzt war, durch falsche Aussagen, durch Unterlassungen und dergleichen, derart in die Ecke gestellt wird. Er hätte aus der Aussage dieser Schwester etwas machen können, die gesehen hat, was nun wirklich mit den Stellungen der Ventile los war, und die beobachten konnte, dass Braun das alles erst geändert hat, als er gekommen war. Aber sie hat keine Möglichkeit, das auszusagen, denn Thomas will es nicht. Er nimmt ganz einfach an, dass Braun es abstreiten würde, aus welchem Grund auch immer. Standesehre, Solidarität mit jenem Hack, nur weil der auch Anästhesist gewesen ist, ich weiß es nicht, was dahinter steckt. Tatsache ist, dass eine ganze Portion von Fehlverhalten auch bei Thomas zu suchen ist, und er weiß es, gibt es zu, hat es längst erkannt, möchte sich da auch nicht herausreden. Dass ihm die Pferde durchgegangen sind, war schlimm. Noch schlimmer aber war nachher sein Auftreten vor dem Standesgericht, dort hätte er die Faust in der Tasche machen können, aber sich beherrschen müssen. Er hat es nicht getan, und auf Grund dessen ist er nachher zu diesem vernichtendem Urteil gekommen.“

„Vernichtend? Er ist doch bei dir, hier bei uns ist es doch schön. Und ich habe das Gefühl, er ist gerne da.“

Friedhelm lächelte. „Ja, ist er, besonders seit du wieder hier bist. Er hat dich sehr gern, wirklich sehr gern. Wenn ich Marion wäre, würde ich sagen, er liebt dich. Es ist auch richtig, er liebt dich wirklich. Aber er tut es auf eine ganz andere Art als Winfried damals. Winfried, da hatte ich von Anfang an das Gefühl, dass er dich nur zu erobern suchte und nachher den Geschmack an dir verlieren würde. Genauso ist es gewesen.“

„Will Thomas denn sein ganzes Leben hierbleiben?“

Friedhelm zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Wir haben nie darüber gesprochen.“

„Und was ist mit dir, mein Bruder? Du bist immer noch allein. Damals mit Renate, das ist lange vorbei, nicht wahr? Sie hat nie wieder von sich hören lassen, oder?“

„Nein, sie ist nach Neuseeland geflogen, und ich habe nichts mehr von ihr gehört. Sie könnte tot sein, einen anderen geheiratet haben, Tausende von Möglichkeiten gibt es. Ich habe über alles schon nachgedacht.“

„Ich weiß, dass du dorthin geschrieben hast, sogar an die Behörden, aber niemand weiß etwas von ihr, nicht wahr?“

„Vielleicht ist sie nie dahin geflogen“, sagte er.

„Aber es gibt doch Tausende von Mädchen, viele, die zu dir passen würden. Du bist ein umgänglicher Mensch. Ich weiß auch, dass allein hier aus der Gegend sehr viele sind, die sich glücklich preisen würden, von dir eingeladen zu werden. Aber du willst es nicht, Fried, du kapselst dich richtig ab. Und über die Freundschaft mit Thomas reden die Leute, weißt du das?“

„Niemand weiß, was mit Thomas früher gewesen ist, keiner kennt ihn. Er hat nichts Schlechtes getan.“

„Darum geht es doch gar nicht, begreifst du nicht?“

Er sah sie verständnislos an. „Was soll ich begreifen?“

„Du bist nicht verheiratet, sie reden darüber, weil ihr oft zusammen seid, weil ihr eigentlich immer beieinander seid. Sie sagen, ihr hättet etwas miteinander.“

Friedhelm war heute begriffsstutzig, so kam es ihr jedenfalls vor. Er hatte noch immer nicht verstanden. „Wir miteinander? Was soll das heißen?“

„Na, du weißt doch, was es heißt, wenn zwei Männer ...“

Sein Gesicht war den Anblick wert. Er war so perplex, so fassungslos, dass ihr fast zum Lachen zumute war.

„Thomas und ich? Menschenskind, und darüber reden die Leute? Wie kommst du denn darauf? Wir sind Freunde, richtige Freunde und keine Homosexuellen! Und wenn schon, ginge das andere nichts an. Aber wir sind es nicht. Mein Gott, was die Leute für Zeit haben, auf solchen Mist zu kommen. Das ist doch Mist!“

„Errege dich doch nicht, Fried. Du weißt doch, wie die Menschen sind, sie dichten den anderen immer gern etwas an und gerade in solchen Dingen. Ich weiß auch, dass das nicht so ist. Jeder hier weiß es, aber die anderen draußen, die uns argwöhnisch beobachten, weil wir hier wie auf einer Insel leben.“

„Die anderen können mich mal!“, polterte Friedhelm. „Es interessiert mich nicht.“

„Es ist aber so. Ich habe es auch erfahren. Nur weil wir das ,von‘ vor dem Namen haben, stehen wir im Mittelpunkt des Interesses. Dabei sind wir Menschen wie die anderen auch.“

„Ach, hör mit diesem Quatsch auf. Das ist doch absoluter Unsinn. Vater hat so gedacht, das weiß ich. Mutter ein bisschen, sie war von ihm angesteckt. Heute gibt kein Mensch mehr etwas auf diese Dinge. Was am Ende zählt, ist, ob du Erfolg hast oder nicht. Und was für mich zählt, ob ich glücklich bin oder nicht. Ich habe ja einen Beruf, den ich liebe, meine Arbeit, und seit Thomas hier ist, geht es bei uns voran. Er hatte die Idee mit dem biologischen Anbau, und er hatte auch den Mut, mir dabei zu helfen und es nicht bloß zu propagieren. Abgesehen davon, auch Frans war entscheidend. Durch ihn haben wir den Dreh gefunden, diese Sachen gut an den Mann zu bringen. Und wie es jetzt läuft, weißt du doch am besten, du machst doch die Buchführung.“

„Ja, ich weiß, es geht uns gut, es geht uns sehr gut. Ich frage mich nur, wie es weitergehen soll. Ich habe mich hier einfach eingenistet.“

„Aber ich brauche dich doch. Menschenskind, einer muss doch diesen ganzen Buchführungskram, das Kaufmännische machen, die Rechnungen und das. Jetzt haben wir auch noch die Baumschule übernommen. Das ist etwas, was mir Kopfzerbrechen bereitet. Auch Thomas ist der Meinung, dass wir das besser nicht getan hätten. Er war von Anfang an dagegen. Marion wollte es. Aber gerade das macht viel kaufmännische Arbeit.“

„Also gut, wenn du mich wirklich brauchst, es macht mir Spaß, für dich zu arbeiten, nur, es ist nicht mehr lange, dass ich dir helfen kann. Einige Tage noch, dann muss ich nach Bonn. Und wie es danach weitergeht ... Na ja, erst einmal wird mich mein kleiner Sohn beschäftigen, aber nachher ...“

„Nachher geht es wunderbar, das verspreche ich dir“, erklärte Friedhelm. „Dein Kind ist hier unter uns. Irgendwer ist immer da, der sich darum kümmert. Und du kannst hier arbeiten, hast deinen Sohn um dich, wenn es ein Sohn wird.“

„Es wird einer. Ich habe es dir ja erklärt. Man konnte alles richtig sehen. Den Penis, die Hoden; der Arzt hat es mir gezeigt.“

„Ja, dieser Professor Winter soll wirklich gut sein“, meinte Friedhelm. „Thomas spricht von ihm wie von einem besonderen Mann. Er lobt ihn in den höchsten Tönen. Er hatte bei ihm ja seine Facharzt-Ausbildung. Ich denke, dieser Professor Winter hätte vielleicht etwas für Thomas tun können, wenn Thomas nur wollte. Aber Thomas weigert sich, diesem Manne damit zu kommen. Dabei haben die sich hervorragend verstanden, jedenfalls sagt es Thomas immer wieder. Wenn dich Thomas einmal in der Klinik besucht, da werden sie sich wiedersehen. Aber ich habe so das Gefühl, dass er da nicht hinwill, vielleicht schämt er sich, wegen damals. Diese Geschichte, die tut er zwar so leicht ab, aber sie sitzt tief.“

Isolde schwieg. Wie soll ich ihm helfen?, fragte sie sich schließlich. Im Grunde brauche ich ja selbst Hilfe. Wenn ich ehrlich mit mir bin, so habe ich mich zwar ganz und gar auf das Kind konzentriert, aber ich habe Angst, mit einem anderen Mann noch einmal zu leben. Noch einmal die Frau eines Mannes zu sein, dazu mit einem Kind, das nicht von ihm ist. Nein, dachte sie, kein Mann könnte sich uneigennützig dem Kind eines anderen gegenüber zeigen.

Sie sprach nicht aus, was sie dachte. Und sie hatte sich in diese Idee verrannt, und sie bezweifelte, dass es möglich ist, ein fremdes Kind zu lieben, so zu lieben, wie es ein Vater lieben könnte. Deshalb wollte sie keinen anderen an ihrer Seite. Das Kind sollte keine harten Worte hören müssen, die irgendwann einmal in der Wut ausgestoßen wurden. Es war ihr Kind. Alle Liebe, zu der sie fähig war, so hatte sie sich geschworen, wollte sie dem Kinde geben. Ein Mann, sagte sie sich, ist nicht notwendig. Ich habe genug von Winfried. Er hat mir auch alles geschworen, was ich hören wollte, einfach alles. Und dann, als er mich zur Frau hatte, war er so gemein. Über Nacht bedeutete ich ihm kaum noch etwas. Es sei denn, es gelüstete ihm danach, mich zu besitzen. Das überkam uns dann beide wie ein Rausch. Was zurückblieb, war nichts wie bitterer Nachgeschmack. Und ich möchte es nicht noch einmal erleben.

„Was denkst du?“, fragte Friedhelm. „Du runzelst die Stirn. Keine guten Gedanken, oder?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nicht besonders gut, du hast recht.“ Sie lächelte. „Eigentlich sollte ich viel schöne Dinge denken. Man sagt, dass das, was man in der Schwangerschaft empfindet, sich irgendwie auf das Kind überträgt.“

„Aberglaube“, tat es Friedhelm ab. Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass alles Aberglaube ist. Ich denke schon, dass eine Mutter durch ihr Verhalten das Kind beeinflussen kann, zumindest nervlich.“

„Nervlich ist möglich, aber alles andere liegt in den Genen fest.“

„Ach, du kommst immer so wissenschaftlich. Es gibt bestimmt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen wir uns mit unserer ganzen Wissenschaft nichts träumen lassen. Wie vieles war vor zehn Jahren noch absolut harmlos und unschädlich und nützlich sogar, und heute weiß man, dass gerade diese Dinge am schlimmsten sind für die Menschen und für die Umwelt.“

„Na ja, das Thema ist ergiebig. Wenn ich jetzt nur endlich mal diese Aufstellung hätte.“ Er begann wieder zu suchen.

„Weißt du, was ich manchmal denke?“, sagte Isolde und blickte nachdenklich zum Fenster hinaus. Draußen regnete es noch immer. „Ich denke, dass sie alle hier sehr glücklich sein könnten, wirklich glücklich. Es ist tatsächlich wie eine Insel, dieses Gut Hartmannsdorf, eine Insel von Wäldern umgeben.“

„Eine richtige heile Welt, nicht wahr?“ Er lachte und wandte sich um. Er sah sie an und sagte noch immer amüsiert: „Eine heile Welt, wo alles richtig läuft, wo nichts schiefgeht, wo lauter glückliche Menschen leben. Menschenskind, ich habe manchmal Sorgen, es geht alles viel besser, darüber haben wir eben gesprochen, aber du weißt, was wir für Anschaffungen im Frühjahr machen müssen. Die Bank hat uns damals, als wir umgestellt hatten, die Kredite zu ziemlich ungünstigen Zinsen gegeben, sie haben uns nicht getraut, sie konnten sich nicht vorstellen, dass das funktioniert, was wir tun. Du weißt, dass ich diese Kredite abstoßen will. Vielleicht ist es ein Fehler.“

„Es könnte ein Fehler sein, wenn zusätzliche Kosten auf uns zukommen“, erklärte sie und sprach plötzlich in einem ganz anderen Ton. Jetzt kam das Kaufmännische in ihr durch, sie dachte an Geld, an das Geschäft, und da war sie wie umgewandelt. Nichts mehr an ihr wirkte verträumt, weich.

Schritte näherten sich der Tür, dann wurde sie geöffnet. Marion kam herein. Sie trug ihren Regenmantel, der vor Wasserperlen glitzerte, wischte sich über die Augen.

„Ein Wetter ist das, da ist mir der Frost aber lieber.“

„Besser wäre es, es gäbe Schnee, sonst geht uns die ganze Saat kaputt, wenn es wieder friert.“

„Na, ich weiß nicht. Die Luft ist zwar warm, aber mir kommt es vor, als bekämen wir wirklich Schnee“, sagte Marion und schälte sich aus ihrem Mantel.

„Du machst alles nass hier“, stellte Isolde fest.

„Macht nichts, das trocknet wieder weg. Es ist ja warm genug hier. Ihr müsst mal ein Fenster aufmachen, die Luft ist zum Schneiden. Merkt ihr das nicht?“

„Dabei raucht gar niemand“, meinte Isolde.

„Das Barometer fällt und fällt. Entweder bekommen wir noch Sturm, oder es fällt wirklich Schnee“, erklärte Marion.

„Ich glaube, du hast recht, mein rechtes Knie, das meckert auch. Und das tut es immer, wenn wir etwas Tolles kriegen“, sagte Friedhelm.

„Das hast du noch von dem Unfall, nicht wahr?“, fragte Isolde.

Er nickte nur. „Ich glaube“, sagte er dann, „ich muss mich mal um die Lämmer kümmern.“

„Wie?“, fragte Marion überrascht. „Hat eines der Schafe schon gelammt? Du wolltest mir doch Bescheid sagen.“

„Ich weiß es nicht. Ich muss wieder nachsehen. Kommst du mit?“

„Na ja, dann ziehen wir die nassen Brocken wieder an“, meinte Marion deprimiert, „es ist ja auch noch heller Tag. Du hast es gut, Isolde.“

„Ich darf es auch mal gut haben!“, rief Isolde lachend, als die beiden gingen. Kurz darauf sah sie sie den Geländewagen besteigen, der vor dem Haus stand. Dann fuhren die beiden los.

Hoffentlich kommt nicht zu viel Schnee, dachte Isolde, aber so schnell wird es nicht gehen. Sollte es wirklich schneien, fahre ich am besten doch nach Bonn. Ich möchte nur nicht vor den Feiertagen fahren. Weihnachten hätte ich sehr gerne hier verbracht, kann ich auch, es ist noch so weit, es ist noch lange nicht der Termin, obgleich ... obgleich ich damit rechnen müsste. Jeden Tag kann es passieren, aber unser Hausarzt hat nichts festgestellt, was außergewöhnlich ist. Alles wird normal verlaufen. Und dann hätte mir doch sicher auch Professor Winter einen Wink gegeben. Nein, ich glaube, ich bin übervorsichtig. Weihnachten über bleibe ich noch hier.

Draußen peitschte der Regen immer stärker über den Hof, jetzt war Wind aufgekommen, der die Schauerschleier des Regens fast horizontal vor sich hertrieb.

Isolde hatte es gern, von einem warmen, trockenen Raum aus hinauszusehen, wenn es draußen stürmte und regnete.

Ich muss meine Arbeit machen, dachte sie schließlich und konzentrierte sich wieder auf das, was vor ihr lag.

Eine ganze Weile war sie damit beschäftigt und sah nicht mehr hinaus. Erst das Trommeln an den Scheiben lenkte sie erneut ab. Inzwischen war fast eine Stunde vergangen.

Aufmerksam geworden durch dieses Geräusch, stellte sie fest, dass es nicht mehr regnete, sondern graupelte.

Vielleicht kommt doch Schnee. Ach, bis Weihnachten ist er wieder weg, das ist ja der Jammer. Wie selten hatten wir in der letzten Zeit wirklich weiße Weihnachten. Dabei ist es so schön, dachte sie, wenn es zum Heiligen Abend weiß ist oder man am ersten Feiertag morgens diese weiße Pracht sieht.

Ihr fiel der Weihnachtsbaum ein, den ihr Bruder jedes Jahr mitten im Hof aufstellte und mit elektrischen Kerzen bestückte. Das hatte er noch gar nicht getan. Da wird es Zeit, ich muss ihn daran erinnern.

Während sie noch darüber nachdachte, verwandelte sich draußen der Graupel in Schneefall. Zuerst blieb überhaupt nichts liegen, dann aber, als es immer stärker schneite, lag schon Schnee in den Winkeln.

Wieder fragte sich Isolde, ob es nicht besser wäre, wenn sie jetzt nach Bonn führe. Die Straßen waren noch frei, und ganz sicher hatte ihre Bekannte nichts dagegen, wenn sie jetzt schon auftauchen würde. Auf der anderen Seite stand Weihnachten vor der Tür. Und es war wirklich noch weit bis zum berechneten Termin der Niederkunft. Ach was, dachte sie, ich bin überängstlich, ich mache mich selbst verrückt. Und der Schnee bleibt ja sowieso nicht liegen.


Tränen, Glück und schwerste Stunden: Arztroman Sammelband 6 Romane

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