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Am nächsten Morgen bestellte Professor Doktor Doktor Lackmus Ali in seine Abteilung für Psychoseerkrankungen. Lackmus, Chefpsychiater der Klinik und Universitätsprofessor, hatte einem Schreiben von Dr. Bengel entnommen, dass ein wissenschaftlich äußerst interessanter Fall eingeliefert worden war. Es handelte sich um einen Patienten aus dem orientalischen Kulturraum, der von der Wahnvorstellung befallen sei, ihm würden zweiundsiebzig hörige Jungfrauen zustehen. Gerade das Forschungsgebiet der sexuellen Abartigkeiten beherbergte noch große Schollen wissenschaftlichen Neulandes. Professor Lackmus hatte deshalb sofort entschieden, sich mit diesem Fall näher zu beschäftigen. Aber die Gespräche mussten so rasch wie möglich erfolgen. Herr Islami war ohne Pass und Aufenthaltsrechte nach Deutschland gekommen. In dem zu erwartenden Hickhack um Abschiebung oder Duldung würde sich der Patient bestimmt wenig kooperativ verhalten.

Mit gemischten Gefühlen begab sich Ali auf den Weg ins dreizehnte Stockwerk. Schon im Aufzug fiel ihm die kurzhaarige Frau mit schwarzer Nickelbrille und weißem Kittel auf. Mehrfach blickte sie verstohlen zu ihm hin. Irritiert fragte er sich, was so eine deutlich ältere Frau von ihm wohl wolle. Oben angelangt stieg auch sie aus dem Aufzug aus und bedeutete Ali, ihr in einen Seitengang zu folgen. Dort zog sie ein samtrotes Briefcouvert aus der Tasche, hielt ihm dieses vor die Nase und flüsterte: „Fremder, du bist in großer Gefahr. Die Schergen des kapitalistischen, vom Rassismus verseuchten Staates sind schon auf dem Weg, um dich zu deportieren. Wir wollen dich retten und tun alles, damit du in diesem Land bleiben und kämpfen kannst. Hier nimm, da steht drin, was du zu tun hast. Lies den Brief noch heute und lass ihn niemand sehen. Wir bringen dich in Sicherheit.“

Verwundert nahm Ali den Brief entgegen und fragte: "Www, wer sind Sie? Stimmt das überhaupt, was Sie sagen?“

„Pscht, nicht so laut!“ Die Kurzhaarige blickte um sich und flüsterte hektisch: „Ich bin von der Anti-rassistischen sozialistischen cooperativen Heilsfront. Wir haben zuverlässige Verbindungen zu den deutschen Ausländerbehörden. Wir wissen, du bist dort registriert - als Flüchtling ohne Pass und ohne Aufenthaltsberechtigung. Damit erklärt dich dieser Schweinestaat zum Illegalen und will dich abschieben.“

„Wohin soll ich denn abgeschoben werden?“, fragte Ali und dachte daran, dass er eigentlich nicht nach Deutschland wollte.

Die Rothaarige blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Du wirst dahin abgeschoben, wo du vorher gelebt hast!“

Der Gedanke, erneut in El Aoutsch leben zu müssen, mittellos und ohne Aussicht auf Jungfrauen, gefiel ihm überhaupt nicht. Beunruhigt stieß er aus: „Aber, woher weiß ich, dass das stimmt, was Sie mir sagen?“

„Wir bekämpfen den Kapitalismus, den Rassismus und das Deutschtum, wo immer wir es antreffen. Wir wollen die faschistoide, mittelmäßige deutsche Spießbürgerlichkeit überwinden durch eine international-solidarische, sozialistisch-multikulturelle, antikapitalistische und antipatriarchalische, allen Einwanderern dieser Welt offen stehende klassenlose Gesellschaft. Wir sind für ein Land, das nicht im Geringsten dicht ist, völlig ohne Grenzen. Deutschland muss sterben, damit alle hier leben können!“ Voller Wut schleuderte die kurzhaarige Frau Ali die letzten Worte entgegen.

„Wenn das so ist, nehme ich eure Hilfe an“, sagte er verwundert über den mullahmäßigen Ausbruch. „Nur was soll ich jetzt tun? An sich bin ich auf dem Weg zu einem Professor Lackmus, der mich sprechen will.“

„Ähm, geh am besten erst mal hin. Verrat ihm aber nichts über dich. Erzähl ihm einfach, du wärst Bademeister am Toten Meer. Dort hättest du eine deutsche Urlauberin kennengelernt, die dich nach München eingeladen hat und dich heiraten will. Verstanden?“

Ali nickte.

„Ich muss jetzt weiter, wir sehen uns Morgen“, flüsterte die Frau und ging auf den Aufzug zu.

Aus der wissenschaftlichen Perspektive von Professor Lackmus verlief das Gespräch mit Patient Islami sehr enttäuschend. Selbst eine intensive Befragung erbrachte keinen Anhaltspunkt über eine unerforschte Sexualstörung. Auch an zweiundsiebzig Jungfrauen zeigte der Patient kein Interesse, obwohl die Akte des überweisenden Krankenhauses sowie eine Notiz des psychiatrischen Pflegedienstes darauf hinwiesen. Weshalb Kollege Bengel mit seiner Diagnose so daneben gelegen hatte, blieb Lackmus deshalb ein Rätsel. Der junge Mann schien ganz normal auf die Ehe mit einer deutschen Frau gepolt, die er als Bademeister am Toten Meer kennenlernte. So verabschiedete der Professor ihn mit dem Hinweis, dass er seine zukünftige Ehefrau veranlassen sollte, sich zu melden. Wenn das mit der Ehe stimmen würde, könne er entlassen werden und ganz legal in Deutschland leben.

Diesmal wollte Ali nicht den Aufzug benutzen, sondern zu Fuß nach unten gehen. Ein bisschen Bewegung würde sicher gut tun. Als er sich dem Treppenhaus näherte, steckte eine hagere Frau um die Mitte vierzig ihren Kopf aus der Damentoilette heraus. Ihre dunkelbraunen Haare fielen strähnig auf den blauen Reinigungskittel. „Pssst, pst“, machte die Hagere. Ali drehte sich erstaunt zu ihr hin. ´Nein, so eine kommt für mich nicht in Frage`, dachte er und wandte den Blick wieder ab.

„Pssst“, machte die seltsame Frau erneut und flüsterte ihm zu: „Fremder, du bist in großer Gefahr. Komm her zu mir in die Toilette.“

Ali streckte abwehrend seine rechte Hand aus. „Lass mich in Ruhe, du hässliche Jungfer, ich habe schöne Jungfrauen verdient!“

„Oh, du vom kapitalistischen Schönheitsterror geknechteter Mensch, ich bin hier, um dich vor der Fremdenfeindlichkeit in diesem Kontinent zu schützen.“ Ein unterdrückter Hustenanfall begann die seltsame Frau zu schütteln. „Ich komme von den Antikapitalistischen Fremdenfreundlichen Europäer“, fuhr sie hastig fort, nachdem der Husten abgeklungen war. „Wir wollen dich retten und tun alles, damit du in Europa dein Leben leben kannst. Du musst wissen, die Schergen des kapitalistischen, ausländerfeindlichen Systems machen sich schon auf den Weg, um dich in Haft zu nehmen und zu deportieren.“

Schnellen Schrittes trat sie auf Ali zu und hielt ihm ein blutrotes Couvert vor die Nase: „Hier nimm den Brief, lass ihn niemand sehen. Tu einfach, was drin steht!“

Verwundert nahm Ali den Brief in die Hand, steckte ihn zu dem Anderen und ging die Treppe nach unten auf sein Zimmer. Dort angekommen nickte er Dieter zu und suchte umgehend die Toilette auf. Gespannt kramte er die beiden Briefe aus seinem Hosenbund hervor. Als Erstes öffnete er den Samtroten, den er von der kurzhaarigen Frau erhalten hatte. Ohne Mühe gelang es ihm, den Text zu lesen.

Rassistisch verfolgter Bürger der Einen Welt!

Wir, die Anti-Rassistische Sozialistische Cooperative Heilsfront, wollen dich vor dem rassistischen deutschen Staat und seinen kapitalistischen Schergen in Schutz nehmen. Man will dich ausweisen, in das Land zurückschicken, aus dem du gekommen bist. Aus purem Rassismus unterscheidet dieser deutsche Schweinestaat zwischen Deutschen, Europäern und außereuropäischen Ausländern. Solch eine rassistische Unterscheidung ist Faschismus pur! Alle Menschen sind gleich – immer und überall. Wir fordern, niemand darf abgeschoben werden! Jeder Mensch soll das Recht besitzen, sich in Deutschland niederzulassen und nach seinen Vorstellungen zu leben. Deutschland hat für alle Unterdrückten, alle Ausgebeuteten und alle Verarmten dieser Erde ein Fluchtplatz zu sein! Deutschland muss sich und seine Grenzen abschaffen und zwar sofort! Deutschland verrecke, damit es menschlich wird! Verfolgter Erdenbürger, komme morgen Nachmittag um 16 Uhr zum Hinterausgang der Gartenanlage des Klinikums, dort stehen wir bereit und bringen dich in Sicherheit. Mit antirassistisch- sozialistisch- solidarischem Gruß.

Die Anti-Rassistische Sozialistische Cooperative Heilsfront

Verwundert über die sonderbare Sprache legte Ali den Brief zur Seite. ´An sich möchte ich mit solchen Leuten nichts zu tun haben` dachte er. ´Aber, wenn das mit der Abschiebung stimmt, sollte ich das Angebot annehmen. Außerdem, vielleicht warten sogar einige Jungfrauen in dieser Heilsfront auf einen Mann wie mich. Ach, da ist ja noch der andere Brief, den diese hässliche Hagere mir zugesteckt hat.` Schon öffnete Ali den blutroten Umschlag und las:

Willkommener Neubürger,

Wir, die Antikapitalistischen Fremdenfreundlichen Europäer, wollen dich vor dem kapitalistischen europäischen System und seinen rassistischen Schergen retten. Man will dich ausweisen, dorthin zurückschicken, woher du gekommen bist. Aus purer Fremdenfeindlichkeit unterscheidet dieser Schweinekontinent zwischen EU-ropäern und Menschen aus anderen Regionen dieser Erde. Solche eine Unterscheidung ist Rassismus pur! Wir fordern, kein Mensch darf abgeschoben werden; jeder soll das Recht besitzen, sich frei in Europa niederzulassen. Europa hat allen Menschen auf der Erde seinen Wohlstand zu überlassen!

Neu Hinzugezogener, komme morgen Nachmittag um 16 Uhr zum Hinterausgang des Klinikums, von dort bringen wir dich in Sicherheit. Verhalte dich völlig unauffällig, tu so, als ob du ganz normal im Klinikpark spazieren gehst. Nimm auf keinen Fall Gepäck mit. Mit internationalistischem solidarischem Gruß.

Die Antikapitalistischen Fremdenfreundlichen Europäer.

´Na so was, gleich zwei Mal so ein seltsames Schreiben?`, dachte Ali. ´Anscheinend ist es wirklich besser, bei diesen Leuten unterzutauchen. Ich will nicht abgeschoben werden. In El Auotsch werde ich keine einzige Jungfrau bekommen. Ja, ich tue es, morgen gehe ich zum Hinterausgang und lasse mich von diesen seltsamen Menschen verstecken.`

Vom Himmel abgewiesen

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