Читать книгу Vom Himmel abgewiesen - Abdul Maria-Lama - Страница 7
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ОглавлениеAm nächsten Morgen teilte der Frühdienst Ali mit, dass er sich ab fünfzehn Uhr in seinem Zimmer aufzuhalten hätte. Professor Doktor Hackehügel, Chefarzt der Abteilung, käme zu einer Visite. Nach kurzem Zögern entschied sich Ali, die Visite abzuwarten, und sich erst danach zu seinen Helfern zu begeben. Zu groß schien ihm das Risiko, dass seine Flucht vorzeitig entdeckt werden könnte. Aber Professor Hackehügel ließ lange auf sich warten. Erst wenige Minuten vor sechzehn Uhr ging die Tür auf und ein grauhaariges, untersetztes Männchen, begleitet von einer fünfköpfigen Schar Weißkittel, trat in das Krankenzimmer ein. „Tag Herr Islami“, sagte das Männchen und streckte Ali seine rechte Hand hin. „Hackehügel mein Name - Professor, Doktor Hackehügel, ich möchte mich mal nach Ihrem Zustand erkundigen, wie fühlen Sie sich?
„Nur mäßig Herr Doktor“, antwortete Ali und zog die heftig geschüttelte Hand wieder zurück. „Das Essen schmeckt einigermaßen, der Zimmernachbar ist ganz nett, aber Jungfrauen finde ich hier keine.“ In seiner Anspannung hatte er glatt vergessen, dass er nichts mehr von seinem Wunsch nach Jungfrauen erzählen wollte.
Professor Hackehügel warf einem seiner Begleiter einen kurzen Blick zu. Dieser entrollte einen großen Papierbogen, auf dem unzählige Punkte wolkenförmig verteilt waren.
„Gucken Sie mal tief rein auf das Bild, junger Mann, ob Sie da Figuren erkennen“, sagte Doktor Hackehügel.
„Oh nein, mein Herr, ich sehe keine Figuren nur ganz viele Punkte“, antwortete Ali, nachdem er oberflächlich darauf geblickt hatte.
„Schauen Sie länger auf das Blatt, dann merken Sie, dass die Punkte Figuren ergeben.“
Konzentriert betrachtete Ali die vielen Punkte auf dem Papierbogen. Je länger er hinsah, desto deutlicher entdeckte er weibliche Rundungen - Frauenköpfe mit langen Haaren, Brüste mit Warzen, Beine, Hüften, erst zusammenhangslos, dann sich zu ganzen Frauenkörpern formend. Ja, das musste ein gepunktetes Bild all der Jungfrauen sein, die ihn erwarteten.
„Was sehen Sie nun?“, fragte der Professor, Ali eingehend beobachtend.
In seiner freudigen Erregung vergaß dieser erneut, dass er nicht mehr über seinen Wunsch sprechen wollte, und sagte aufgeregt: „Oh, ich sehe lauter Jungfrauen. Ich denke, es sind zweiundsiebzig und alle werden mir gehören.“
Der Professor drehte sich zu seinem Trupp Weißkittel hin, der ehrfurchtsvoll an seiner rechten Seite stand. „Na, da hat sich der Kollege Lackmus aber heftig getäuscht. Sie denken doch auch, meine Damen und Herren, dass wir Herrn Islami so nicht entlassen können!“
Seine Begleitung nickte einstimmig.
„Lassen wir ihn also hier,“ fuhr Hackehügel fort, „und informieren die Behörden. Die andere Maßnahme muss noch aufgeschoben werden. Sie Herr Islami, beruhigen sich wieder, alles wird gut. Wir kümmern uns um Sie.“
Angeordnet wie eine Herde Gänse verließ der Professor mit seinem Trupp das Zimmer. Erschrocken nahm Ali wahr, dass Dieters Wecker bereits Viertel nach vier anzeigte. Jetzt, da er seine Jungfrauen auf dem Punktebild gesehen hatte, wollte er unbedingt die angebotene Hilfe in Anspruch nehmen. Hastig zog er sich einen Pullover über. Dann warf er einen Blick auf das leere Bett von Dieter, der sich gerade in einer Gruppentherapie befand, und wünschte ihm im Geiste Lebewohl. Um kein Risiko einzugehen, hatte ihm Ali nichts von seinem Fluchtplan erzählt. Behutsam öffnete er die Tür und spähte nach draußen. Niemand war zu sehen. Nur aus einem Nachbarzimmer drangen gedämpfte Worte. Umgehend trat er auf den Flur hinaus und eilte auf die nächstgelegene Treppe zu. Problemlos erreichte er den Ausgang des Klinikgebäudes. Dem Pförtner ein freundliches Nicken schenkend passierte er die Pforte und durchquerte hastig den Klinikgarten, den er vormittags besichtigt hatte. Zielbewusst steuerte er auf das Tor des Hinterausganges zu, wo sich seine Helfer angekündigt hatten. Dabei vernahm er immer deutlicher Stimmen, die nach einem handfesten Streit klangen.
„Ihr habt ihn verscheucht, ihr falschen Antiimperialisten!“, keifte jemand.
„Nee, nee!“, tönte eine andere Frauenstimme hysterisch, „Ihr mit euren aufgesetzten Klassenkampfparolen habt ihm doch gar keine Chance gegeben, sich aktiv gegen den Schweinestaat zu wehren.“
Neugierig lugte Ali aus dem Tor nach draußen. Insgesamt acht Personen standen, in zwei Gruppen aufgeteilt, neben zwei Kleinbussen und gifteten sich an. Zu jeder Gruppe gehörten zwei Frauen und zwei Männer, allesamt von ungepflegtem Äußeren. Auch die beiden Frauen, die ihm den Brief gegeben hatten, waren anwesend.
„Hallo“, rief Ali laut und trat aus dem Tor heraus. „Hier bin ich!“
Sofort drehten sich alle zu ihm hin. Nach einem kurzen Moment der Stille schimpfte die kurzhaarige Übermittlerin des ersten Briefes der anderen Gruppe entgegen: „Haut endlich ab, ihr Affen, wir sind die einzig legitime Kraft, die den Unterdrückten aus der einen Welt gegen den Faschismus in diesem Land beisteht. Der neue Inländer gehört uns!“
Die hagere Übermittlerin des zweiten Briefes fuchtelte mit ihren Händen und schrie: „Ihr Ärsche, die ihr nichts vom Aufbau der weltweit klassenlosen Gesellschaft im Zeitalter des Neoliberalismus und der Globalisierung versteht, seid nie und nimmer legitimiert, ein entrechtetes Subjekt aus der südlichen Hemisphäre vor den Schergen des kapitalistischen europäischen Schweinesystems zu retten.“
´Die benehmen sich, als würden sie um den richtigen Glauben streiten`, wunderte sich Ali. ´Nur, dass sie auf keinen Fall den richtigen Glauben haben können. Sonst wären die Frauen verschleiert und blieben von den Männern abgesondert. Oh, jetzt stimmen auch noch die Anderen in das Gekeife der beiden Weiber ein. Das ist ja nicht zum Aushalten.` „Ruhe mal“, rief er den Streitenden zu. „Wollt ihr mir nun helfen oder nicht?“
Sofort gingen die beiden Frauen, die Ali einen Brief gegeben hatten, auf ihn zu. Die Hagere meinte: „Willkommen bei uns, den Antikapitalistischen Fremdenfreundlichen Europäern. Sag, was du von uns möchtest und wir geben es dir für deinen Kampf gegen das Schweinesystem.“
Ali wusste sofort, was er wollte: „Ich will zweiundsiebzig wunderschöne Jungfrauen, die mir alle treu ergeben sind!“
Die Frau blieb stehen, lief im Gesicht rot an und stammelte: „Der will wa wa was? - Zweiundsiebzig Jungfrauen, die ihm treu ergeben sind, der spinnt!“
„Nicht mit uns!“ tönte die andere Frau aus ihrer Gruppe. „Dieser Obermacho soll bleiben, wo der Pfeffer wächst. Kommt Leute, wir gehen wieder!“
„Richtig, den nehmen wir nicht bei uns auf!“, stimmte einer der beiden Männer mit ein und erntete ein grimmiges Nicken von seinem Genossen. Für einige Sekunden blieb die hagere Frau unschlüssig stehen, bevor sie missmutig kehrt machte. Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, stiegen die vier antikapitalistischen fremdenfreundlichen Europäer in ihren Kleinbus und fuhren davon.
Inzwischen drehte sich die Kurzhaarige zu ihren Leuten hin und fragte: „Sollen wir es mit ihm versuchen? Wenn er schon infiziert ist vom westlich-kapitalistischen Warendenken, das Frauen zu bloßen Gebrauchsobjekten degradiert, macht es vielleicht keinen Sinn mehr. Obwohl - er ist bestimmt ganz durcheinander wegen seiner Flucht und der Übersexualisierung in dieser Gesellschaft.“
Der ältere der beiden Männer strich bedächtig über seinen langen Zottelbart und sagte: „Na ja, versuchen wir es halt mit ihm, vielleicht läutert er sich noch zu einem eifrigen Mitkämpfer für die Revolution. Immerhin kommt er aus einer revolutionären Weltregion.“
„Aber sein revolutionäres Bewusstsein scheint nicht besonders ausgeprägt zu sein“, wandte die zweite Frau ein und entfernte eine Haarsträhne aus ihrem verbissenen Gesicht.
„Gib ihm halt ´ne Chance, Lydie“, meinte die Kurzhaarige, „bei dem Wolle hat es auch gedauert, bis er zu gebrauchen war.“
Der Genannte, ein kräftiger Mann um die dreißig, fuhr hoch: „Was heißt hier gedauert und zu gebrauchen? Ich bin völlig gleichwertig in eurer Gruppe, das habt ihr mir mehrfach bestätigt!“
„Entschuldigung!“, antwortete die Kurzhaarige gereizt, „ich habe nur gemeint, dass du erst nach einer gewissen Zeit zu einem handlungsfähigen Bewusstsein kamst.“
„Darf ich nun mit euch kommen oder nicht?“ fragte Ali genervt und sah den bärtigen Weltrevolutionär an, der anscheinend der Anführer war. „Ich bin extra wegen euch aus der Klinik geflüchtet.“
„Na gut, nehmen wir ihn auf“, meinte dieser. „Gibt es noch Einwände? – Nicht? Okay, dann ist die Entscheidung gefallen. Du kannst mit uns kommen.“
„Und wie sieht es mit Jungfrauen aus?“, hakte Ali nach.
Der Anführer warf Ali einen irritierten Blick zu, überlegte kurz und meinte beschwichtigend:
„Ja, steig ein, deine Jungfrauen bekommst du!“
„Also nein Volker, so etwas kannst du doch nicht sagen“, zischelte die Frau mit dem verbissenen Gesicht.
„Bleib cool, Lydie“, flüsterte er zurück. „Ich meine das doch nicht wörtlich!“
Inzwischen war die Kurzhaarige an Ali herangetreten, deutete durch die geöffnete Schiebetür ins Innere des Busses und sagte: „Nimm schon mal Platz.“
Umständlich kletterte Ali ins Innere und platzierte sich auf die linke Seite der mittleren Sitzreihe. Zu seiner Überraschung setzte sich die Frau direkt daneben. Mit einem angestrengten Lächeln streckte sie ihm Ihre rechte Hand hin: „Übrigens, ich heiße Helga.“
Ali rührte seine Hand nicht von der Stelle und dachte: ´Jetzt besitzt diese Unverschleierte schon die Unverschämtheit, sich ungefragt neben mich zu setzen und dann reicht sie mir noch ihre Hand. Weiß sie denn nicht, dass ich als Muslim familienfremden Frauen keine Hand geben soll? Schon gar nicht Unverschleierten, die keine Ehre haben.`
„Na, was ist?“, fragte Helga und hielt Ali die Hand eindringlich entgegen.
Distanziert griff dieser nun danach und sagte: „Friede sei mit dir, ich heiße Ali.“
Helgas Gesichtszüge hellten sich wieder auf. „Hallo Ali, ich dachte schon, du willst mir nicht die Hand reichen. Übrigens, das ist Wolle, der Jüngste aus unserer Gruppe. Er war mal waschechter Arbeiter.“ Mit diesen Worten deutete sie auf den kräftigen jungen Mann, der sich gerade zur Schiebetür hereingequetscht hatte und sich neben sie setzte.
Wolle warf Ali ein gequältes Lächeln zu und sagte: „Servus!“
„Friede sei auch mit dir“, entgegnete Ali und sah Helga fragend an.
„Der ist ein Urbayer“, meinte sie. „Die sagen immer <servus> - zur Begrüßung und zum Abschied. Ihre Hirnleistung reicht nicht aus, sich dafür zwei Wörter zu merken.“
Ein Grinsen huschte über Wolles Gesicht. „Dafür gibt es in Helgas alter Heimat keinen einzigen richtigen Berg.“
Ali drehte sich nach vorne. Nahezu gleichzeitig waren die beide vorderen Türen aufgegangen. Der Mann mit dem Zottelbart setzte sich ans Steuer, die Frau mit dem verbissenen Gesichtsausdruck nahm auf dem Beifahrersitz platz.
„Das sind Volker und Lydie“, erklärte Helga. „Volker ist Soziologe, unser Cheftheoretiker, Lydie gelernte Journalistin, unser Sprachgenie. Ich als Sozialpädagogin organisiere die Außenkontakte unserer Gruppe.“
Der Zottelbart sah Ali an und meinte: „Du musst wissen, wir sind keine Revisionisten, wir glauben noch an die Weltrevolution.“
„Bitte fahren Sie mich dahin, wo die Jungfrauen auf mich warten, die Revolution interessiert mich nicht“, antwortete Ali spontan.
Der Zottelbärtige verzog das Gesicht und startete das von Aufklebern übersäte Gefährt. Knatternd fuhr der Kleinbus zwei Seitenstraßen entlang, bevor er in eine vierspurige Schnellstraße einbog.
´Mann oh Mann, sind da viele Motorfahrzeuge unterwegs`, dachte Ali, während er interessiert nach draußen blickte. ´Und wie die alle glänzen!` Für einen Moment erinnerte er sich wieder an seine Heimatoase El Aoutsch. Dort gab es erst seit wenigen Jahren elektrischen Strom und kaum ein Fremder verirrte sich in diesen Ort. Nur zwei Großhändler besaßen einen staubigen Kleintransporter. Wer etwas zu transportieren hatte, benutzte meist Kamele oder Eselskarren. Zwei Mal die Woche kam ein Überlandbus vorbei, mit dem die Männer in die Provinzstadt fahren konnten.
Vergeblich hielt Ali Ausschau nach Transportkamelen und Eselskarren. ´Hier ist alles ganz anders als in meiner Heimat`, sinnierte er. ´Die Bewohner dieses Landes müssen sehr reich sein und ein bequemes Leben führen! Erstaunlich, wie diszipliniert die Menschen sind. Trotz der riesigen Schwärme von Motorfahrzeugen, die auf den Straßen fahren, ereignet sich kein Zusammenprall. Und immer, wenn ein rotes Licht von einem Metallständer aus leuchtet, halten alle Fahrzeuge davor an. Erst wenn eine grüne Lampe aufleuchtet, setzen sie sich wieder in Bewegung.`
„He Volker, wo fährst du hin?“, ertönte Helgas Stimme.
„Ins Kollektiv Knauerstraße“, brummte es zurück.
„Neee, das geht nicht! Die nehmen dort keine Flüchtlinge mehr auf. Zu viele Wanzen und Bullenobservierungen.“
„Scheiße, verdammt noch mal! Wie wär´s dann bei dir in der WG, Lydie, ein Plätzchen müsste doch noch frei sein?“
Lydie winkte ab. „Das macht der Enrico nicht mehr mit. Seit die beiden Verfolgten aus dem Surkasiland bei uns so abgehaust haben, ist er strikt dagegen. Und als Hauptmieter kann er sich quer stellen.“
„Was heißt denn abgehaust?“, fragte Helga.
„Zuerst haben sie unseren gesamten Wein- und Schnapsvorrat in den Abfluss geschüttet. Dann wollten Sie die WG-Kasse klauen und haben Enrico ein kapitalistisches Schwein genannt, als er sie zur Rede stellte.“
„Und wie hat Enrico darauf reagiert?“ fragte Volker.
„Er hat schließlich klein beigegeben. Dem Vorwurf, sein Besitzstreben sei ihm wichtiger als internationale Solidarität konnte er nichts entgegen setzen. Was Enrico aber nicht wusste, die beiden haben sich von der Knete ein Lamm gekauft, das sie in unserer Wohnung schächten wollten. Als er das an den Beinen zusammengebundene Lamm in der Badewanne entdeckt hatte, bekam er einen Tobsuchtsanfall. Hassan und Bellili, so hießen die beiden, sind zunächst ganz ruhig geblieben und haben gemeint, ihr Glaube schreibe ihnen vor, nur geschächtetes Fleisch zu essen. Da ist die Tanja voll ausgeflippt, und hat herumgebrüllt, dass ihr als überzeugte Veganerin das Leben eines unschuldigen Lammes mehr wert sei, als die Blutrünstigkeit zweier männlicher Moslems. Daraufhin hat Bellili die Tanja gewürgt und gebrüllt, von einer deutschen Dreckshure lasse er sich nichts vorschreiben. Es gab ein riesiges Gerangel, das beinahe mit einer Messerstecherei geendet hätte.“
„Und was war mit dem Lamm?“, fragte Volker.
„Das haben die beiden bei einem islamischen Metzger schächten lassen müssen.“
„Ich wusste es schon immer“, warf Helga ein, „die Tanja und der Enrico sind verkappte Spießer, die fremde Lebensweisen einfach nicht akzeptieren. Ihr kultureller Rassismus macht sie blind für die Bedürfnisse diskriminierter Minderheiten.“
„Du spinnst Helga“, entgegnete Lydie, „irgendwo muss eine Grenze sein! Gerade wenn sich Typen alles herausnehmen wollen.“
Volker warf Lydie einen kurzen Seitenblick zu und sagte: „Darüber lässt sich sicher streiten, wir sollten aber lieber überlegen, wohin mit dem Oasen-Ali.“
„Hm“, machte Lydie und schwieg.
„Wie wär´s mit Kirchenasyl? Wir könnten doch mal ...“
„Nee, Wolle“, entgegnete Volker. „Mit denen haben wir abgeschlossen, seit die sich öffentlich gegen unsere Aktivitäten ausgesprochen haben und uns vorwerfen, wir instrumentalisierten Flüchtlinge für revolutionäre Zwecke.“
„Aber wohin denn nun mit dem Ali? Wir müssen ihn doch irgendwo unterbringen“, überlegte Lydie laut.
„An einen Ort, wo ihn die Häscher des kapitalistischen deutschen Schweinestaates nicht einfangen“, ergänzte Helga.
„Also an einen ausgefallenen Ort“, sinnierte Lydie. „Das wird ganz schön schwierig.“
„Hm, ein ausgefallener Ort - wenn ich bloß wüsste ...“, überlegte Helga halblaut. „Halt, eine Möglichkeit gibt´s. Die ist so verrückt, dass sie schon wieder genial ist.“
„Lass hören Helga“, sagte Lydie.
„Wir könnten ihn doch in einem Frauenhaus unterbringen!“
„Wau, das wäre ein Hammer!“, kommentierte Volker. „Vorausgesetzt die machen da mit!“
„Der Ali als einziger Mann in einem Frauenhaus, da würde kein Bulle draufkommen!“ Wolle schlug sich mit der Faust auf die flache Hand.
„Das geht nicht“, warf Lydie ein. „Die Frauen werden sicher auf die Barrikaden gehen – zu Recht!“
„Deswegen ist ein Frauenhaus das sicherste Versteck für unseren Freund hier“, fügte Volker hinzu. „Ein Haus, in dem kein Mann Zutritt hat, bleibt völlig unverdächtig - aber nehmen die ihn auch auf?“
Helga nickte. „Im Frauenhaus Süd arbeitet die Irmi als stellvertretende Leitung; die wird das schon managen. Die Irmi steht absolut auf Multikulti, ich kenn die, ich hab mit ihr studiert.“ „Auf geht´s, fahren wir gleich hin!“
„Moment mal!“, wandte Lydie ein. „Wir sollten erst basisdemokratisch ausdiskutieren, ob sich die Unterbringung eines männlichen Flüchtlings in ein Frauenhaus mit unserem revolutionären Bewusststein und unseren frauenemanzipatorischen Ansprüchen implementieren lässt!“
„Mach jetzt halblang, Lydie!“, erwiderte Helga. „Diskutieren sollten wir lieber über andere Themen. Dies hier verlangt Handeln. Probieren wir´s doch einfach mit dem Frauenhaus.“
„Ja, Helga, du hast doppelt recht“, meinte Wolle. „Fahren wir gleich hin und knüpfen lieber an unseren Diskurs von gestern an. Volker, ich glaube du hast gesagt, unserer fundamentalen Strategie der Revolutionierung jugendlicher Schulabgänger ohne Ausbildungsplatz im östlichen Niederbayern fehlt noch der neomarxistische Überbau in Anlehnung an die ältere Frankfurter Schule. Da wollte ich sowieso noch fragen ...“
„Du Wolle, halt bloß das Thema hier raus“, entgegnete Lydie gereizt. „Mir liegen die neuneinhalb Stunden diskursive Disputation von gestern noch im Magen.“
„Aufhören zu streiten!“, brummte Volker und wechselte die Fahrspur nach links. „Wir machen jetzt den Abflug ins Frauenhaus Süd.“
Helga nickte. „Gut so! Eine bessere Lösung gibt es nicht.“
Gebannt hatte Ali die Geschichte aus der WG mit angehört und die Ungläubigen verflucht, die seine Glaubensbrüder so schlecht behandelt hatten. Als er vernahm, dass er in einem Haus untergebracht werden sollte, in dem nur Frauen lebten, verwandelte sich seine Wut in pure Freude. Da in diesem Haus Männer keinen Zutritt hatten, war es mit Sicherheit von lauter Jungfrauen bewohnt.
„So weit ich weiß, befindet sich das Frauenhaus Süd in der Wurzelseppstraße“, sagte Volker und bremste vor einer Ampel ab, um den Bus über die Linksabbiegerspur zu wenden.“
Lydie verzog das Gesicht. „Woher weißt du denn das? Als Mann solltest du die Adresse überhaupt nicht kennen.“
„Tja, man hat halt so seine Connections“, murmelte Volker grinsend.