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WIE MAN UNSICHTBAREN TOD SICHTBAR MACHT SCHADSTOFFE MIT UNERWARTETEN FOLGEN
ОглавлениеIch stand wieder auf der Eisdecke in einem Schneesturm. Zwei Gestalten in orangefarbenen Jacken versuchten sich dort mit Kapuzen und Gletscherbrillen vor dem Schneesturm zu schützen – Glaziologen. Sie waren über einen dieser großen Bohrer gebeugt, mit denen man Eiskernproben entnimmt. Als der Eiskern heraufgebohrt wurde, traten seine unterschiedlichen Färbungen zutage – oben leuchtend grün wie radioaktives Erz, unten rein weiß. Die Glaziologen berieten sich.
»Zeugen schilderten die riesigen Holzfeuer, auf denen man die Kadaver der Vögel verbrannte«, sagte Rachel Carson direkt neben mir.
Ich konnte deutlich hören, was die Glaziologen sagten, obwohl sie sehr weit entfernt waren.
»Am Kern sind Rückstände zu erkennen«, stellte der eine fest.
»Hmm, ja, in den unterirdischen Flüssen wurden auch welche gefunden«, entgegnete der andere.
»Als man einige Eskimos selbst überprüfte und ihrem Fettgewebe Proben entnahm, entdeckte man geringe Reste von DDT (1,9 Teile pro Million)«, sagte Rachel Carson mit monotoner Stimme. Sie sprach weder zu mir noch zu jemand anderem. Vielleicht mit sich selbst.
»Es ist viel schlimmer, als wir dachten.«
»Viel schlimmer.«
»Die Fettproben stammten von Leuten, die ihr Heimatdorf verlassen hatten, um sich im Krankenhaus des Gesundheitsdienstes der Vereinigten Staaten in Anchorage einer Operation zu unterziehen.«
Ich fragte: »Wohin sind die Bienen verschwunden, Frau Carson?« Doch meine Stimme wurde vom Wind verschluckt.
»Für ihren kurzen Aufenthalt in der Zivilisation wurden die Eskimos mit einer kleinen ›Giftgabe‹ belohnt«, fuhr sie stattdessen fort.
»Leer es schnell aus und dann lass uns gehen.« Die Glaziologen kippten den Inhalt ihrer Laborbeutel in das Bohrloch. Stille, während sie sich vorbeugten, gefolgt von plätschernden Geräuschen, wie Kieselsteine, die in ruhiges Wasser fallen. Dann setzten sie den Kern wieder ein.
Bei dem Geräusch musste ich an die Sackgasse bei uns zu Hause zurückdenken, an die beiden Laternenpfähle, die den Bereich abgrenzten, in dem ich als Kind spielen durfte, wo Mum mich vom Wohnzimmer aus sehen konnte, während sie putzte und dabei Boyzone hörte. Das Nachbarskind Charlotte saß gegenüber der Mauer, die zum Haus von Marge und Graham gehörte, und ich hörte das Krack-krack-krack, das die Schnecken machten, wenn wir sie aus Langeweile dagegenschmissen, sodass ihre Häuser zerbrachen und ihre Eingeweide herausspritzten. Wir schoben sie schnell mit dem Fuß in den Gully, bevor Graham herauskam und uns anbrüllte, weil ihm dämmerte, was wir mit seiner Mauer anstellten. Runter in den unterirdischen Abwasserkanal, plopp, plopp, plopp.
Als kleines Mädchen war ich fasziniert vom Abwassersystem. Wenn man etwas loswerden wollte, brauchte man bloß die Spülung zu betätigen. Im Garten gab es eine Klappe am Abwasserrohr, und wenn man sie anhob, konnte man zusehen, wie all die Dinge, die aus den Rohren im Haus kamen, dort vorbeigespült wurden – auf ihrem Weg wohin auch immer. Dort haben wir früher die Hundescheiße reingetan und dann die Klospülung im Erdgeschoss betätigt, um sie wegzuspülen. Und wann immer ich etwas ausgefressen und einen Beweis hinterlassen hatte, hob ich einfach den Abwasserdeckel an, legte das Corpus Delicti hinein, rannte ins Haus, zog ab und rannte wieder zurück, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie es fortgespült wurde – in Vergessenheit.
Eines Tages saß ich auf der Toilette, und etwas kitzelte mich am Bein. Ich sprang auf. Eine Schnecke schleimte sich den Weg aus der glänzend weißen Schüssel heraus. Sie war aus diesem Anderswo gekommen und durch die Rohre in unserem Haus bis zur Toilette im obersten Stock gekrochen. In dem Moment veränderte sich meine Sichtweise des Abwassersystems von Grund auf, ich erlebte meine persönliche kopernikanische Revolution. Mit einem Mal musste ich meine philosophische Schlussfolgerung, dass ich etwas in ein leeres schwarzes Loch hinunterspülte, kritisch hinterfragen, weil die Abwasserrohre nicht das Portal zu einem Ort ohne Wiederkehr waren, wie ich gedacht hatte; so ähnlich muss sich Jerry R. Ehman gefühlt haben, als er das Wow!-Signal empfing: »Ich bin nicht allein, etwas ist aus dem leeren Raum zu mir gekommen, wow!«
Vielleicht wurde mir in dem Traum von den Glaziologen im Schneesturm das bewusst, was Rachel Carson umtrieb – dass es Dinge gibt, die immer gegenwärtig sind, aber nicht wahrgenommen werden. Dass man manche Dinge vor einem strahlend weißen Hintergrund ins Scheinwerferlicht tauchen muss, damit sie gesehen werden, weil man sie nicht hinterfragt, wenn sie stets präsent sind.
Die Eskimos haben den unsichtbaren Tod nicht erfunden. Wir haben es. Die Eisfläche ist in Wahrheit keine reine Wildnis. Du und ich können es nicht sehen, aber die Glaziologen schon. Sie können die Kernproben lesen, als wären es Eingeständnisse unserer Schuld als geologische Einflussfaktoren, als Begründer des Anthropozäns. Und unter all unseren üblen Hinterlassenschaften gibt es eine, die alle anderen überleben wird. Als erste Zivilisation auf diesem Planeten haben wir einen unsichtbaren Tod erschaffen, der die Relikte aller zukünftigen Zivilisationen überdauern wird. Den Atommüll.
Damit geht eine Verantwortung einher, aber wie man die Nachwelt vor dem unsichtbaren Tod warnt, ist ein für unser Zeitalter einzigartiges Problem. Larus hat mir erzählt, dass einige der Mitglieder des Order of the Dolphin und vom Team der Golden Records auch zur Human Interference Task Force gehörten, der Arbeitsgruppe zur dauerhaften Sicherung von Atommüll. Die Task Force wurde ins Leben gerufen, um das »Ewigkeitsproblem« zu lösen, das Problem, an Atommülllagern für zukünftige Zivilisationen Warnhinweise aufzustellen, die so lange überdauern müssen wie die Halbwertzeit von Plutonium 239, rund 24000 Jahre also.
Sie konnten nicht nur eine einzige Sprache benutzen, weil Sprachen immer irgendwann aussterben, also ließen sie sich universelle Symbole einfallen: ein Monolith mit Warnhinweisen in mehreren Sprachen, Katzen, die zu leuchten anfangen, wenn sie sich Atommülllagern nähern, selbst erdichtete Legenden für die Zukunft, außerordentlich komplexe Piktogramme und eine »Atompriesterschaft«, um die düsteren Geheimnisse innerhalb der elitären Vereinigung an jede neue Generation weiterzugeben.
Der Müll wird uns überleben. Er ist unsere beständigste Zeitkapsel, unser hässlichstes Baby. Was sagt das über uns aus? Was haben wir getan, als wir die Macht der Kernenergie entdeckten? Na klar, wir haben eine Superwaffe erschaffen.
Seit dem Kalten Krieg befindet sich die Welt in einem prekären Gleichgewicht, und dieses Gleichgewicht ist stabil genug, um uns fast vergessen zu lassen, dass es uns aufrechterhält. Das Gleichgewicht des Schreckens folgt der Theorie, dass kein Land zum Erstschlag ausholen wird, wenn alle Länder über Nuklearwaffen verfügen, basierend auf der GEGENSEITIGEN GARANTIERTEN ZERSTÖRUNG: sprich, wir würden alle draufgehen, wenn ein Land ein anderes angreift, also hat niemand etwas davon. Doch um das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, muss die Rüstungssituation aller Seiten berücksichtigt werden. Hat eine Seite mehr Atomschutzbunker als eine andere, könnte theoretisch ein größerer Teil der Bevölkerung gerettet werden, sie besitzt einen unfairen Vorteil, und das Gleichgewicht gerät ins Wanken. Aus diesem Grund konnte es während des Kalten Kriegs vonseiten der Regierung keine landesweiten Pläne für den Bau von Atomschutzbunkern geben. Stattdessen wurden heimlich Schutzräume gebaut, unter Rathäusern, in den Gärten von Privatpersonen. Überall in der westlichen Welt gibt es geheime unterirdische Zeitkapseln. Was ein zukünftiger Archäologe wohl daraus machen wird?
Damit das Gleichgewicht des Schreckens funktioniert, muss jedes Land vorgeben, den Feind als Vergeltungsmaßnahme für einen Angriff in Grund und Boden bomben zu können. Die USA verfolgen die Strategie, dass sie bei einem Angriff in jedem Fall zum vernichtenden Gegenschlag ausholen werden. Russland geht mit der »Toten Hand« noch einen Schritt weiter; sie löst automatisch alle Sprengköpfe aus, sobald seismische Sensoren einen Angriff verzeichnen.
Ich habe mit Larus über Skype darüber gesprochen und ihm erzählt, dass England eine eigenartige Strategie fährt. Wir haben die Letters of Last Resort, die geöffnet und verlesen werden sollen, wenn eine bestimmte Folge von Ereignissen eingetreten ist: Die britische Regierung ist zerschlagen worden, die Premierministerin/der Premierminister samt Stellvertreter(in) wurden getötet. Unsere U-Boote treiben tief im Atlantik, und selbst an Bord kennt kaum jemand die jeweilige Position. Die U-Boot-Besatzung geht davon aus, dass unser Heimatland zerstört wurde, wenn a) vier Stunden lang kein Funksignal mehr vom Festland empfangen wurde oder b) BBC Radio 4 die Übertragung eingestellt hat. In diesem Fall öffnen die vier U-Boot-Kommandanten den Safe im Safe und verlesen die vier handschriftlichen Briefe des mittlerweile verstorbenen Regierungsoberhaupts, die sie/er bei Amtsantritt verfasst hat. In der Folge müssen die Kapitäne die darin enthaltene Anweisung befolgen, für die es im Prinzip drei Möglichkeiten gibt:
1 Zerbombt die Scheißkerle
2 Verschont die armen Wichte
3 Entscheide selbst, Kommandant
Die Briefe werden jeweils nach Amtsaustritt der Premierministerin/des Premierministers vernichtet, daher wird die Geschichte nie erfahren, was darin stand. Larus hat gesagt, das sei das Britischste, was er je gehört habe.
Ich vermute, in Anbetracht unserer kolonialen Vorgeschichte haben die U-Boote ihre eigenen, sorgsam konstruierten Zeitkapseln zur Erhaltung der Nation mit an Bord, etwas, was verkündet: WIR SIND GÖTTLICH UND NICHT AUSLÖSCHBAR. Unsere U-Boote heißen Vanguard, Victorious, Vigilant und Vengeance. (Wer hat sich diese Namen ausgedacht?) Während sie jetzt also unheilvoll im Atlantik treiben, ist die Entscheidung bereits gefallen.
Ein Paradox: Was bringt ein Vergeltungsschlag, wenn man bereits mausetot ist? Was bringt es, ungeheures Leid über die unschuldige Zivilbevölkerung des Feinds zu bringen?
Offenbar geht es darum: Wenn wir nicht existieren, dann dürft ihr es auch nicht. Und: Man wird sich an uns erinnern. Ihr habt den Zorn des Empire auf euch gezogen.
Ich habe Urla gefragt, ob sie schon einmal von den Letters of Last Resort gehört habe. Sie verneinte, also erzählte ich ihr davon. Sie sah mich leicht verwirrt an.
»Und Onkel Larus wollte mich gar nicht sprechen?«
Ich stutzte und überlegte, dann sagte ich, nein, dazu habe er nichts gesagt, allerdings habe er das Gespräch ziemlich abrupt beendet, was schon ein wenig seltsam war, wenn ich darüber nachdenke. Sie warf mir einen seltsamen Blick zu und wechselte das Thema.