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*HUNDESTIMME* DU MUSST JETZT LERNEN, AUF WIEDERSEHEN ZU SAGEN

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Wir ritzten unsere Namen in den weichen Teil eines Felsbrockens, der dort aus dem Moos herausragte, wo wir unser Lager aufgeschlagen hatten. Es fühlte sich wie ein prägender Moment an, wie eine dieser Sachen, an die man sich immer erinnern wird, als wäre das Ritzen symbolisch und lege mehr von dem frei, was eines Tages meine vollständig geformte Seele ausmachen wird.

Kurz bevor wir im Wagen aus der Tundra hinausfuhren, fragten wir Klas nach dem Eisbären, und er sagte, es gebe keinen. Seit Monaten sei keiner mehr gesichtet worden. Die Vorstellung, von jetzt an ganz auf mich allein gestellt zu sein und ohne Urla und Naaja weiterzureisen, ist wirklich seltsam. Die Welt als Mädchenkarawane abzuklappern, wäre schön. Aber auch wenn beide mittlerweile ein fester Bestandteil meiner Reise zu sein scheinen (besonders Urla), müssen wir getrennter Wege gehen, so wie wir uns von Larus trennen mussten.

Aber ich finde es wirklich faszinierend, dass zwei oder drei Menschen bloß dank zufälliger Begegnungen und vorübergehend ähnlicher Bedürfnisse eine Symbiose eingehen können. In der Ökologie versteht man unter Symbiose die beidseitig vorteilhafte Beziehung zwischen zwei nicht identischen Organismen, die in enger räumlicher Nähe leben, was in gewisser Weise Darwins Vorstellung von der Evolution als reinem Konkurrenzkampf widerspricht. So wie Putzerlippfische, die nur die Ektoparasiten von den Lippen der Süßlippen fressen, einer größeren Fischart. Die Putzerfische finden Nahrung, und die Süßlippen werden die Parasiten von ihren rauen Lippen los. Beide müssen ein Gefühl der Erleichterung verspüren, wenn sie in den Weiten des Ozeans auf den jeweils anderen treffen. Und vielleicht könnte man sogar so weit gehen zu sagen, dass diese Fische auf ihre Weise Freunde sind.

Manchmal wird in der Literatur erwähnt, dass symbiotische Verbindungen zwischen den Spezies einen so integralen Bestandteil ihrer individuellen Biologie und Identität bilden, dass ihre individuelle Biologie und Identität außerhalb der Beziehung tatsächlich nur von geringer Bedeutung sind.

Ich glaube, eine echte Freundschaft ist eine solche Art von Symbiose. Wenn du der anderen Person jedes Detail von dir verrätst, um ihr näherzukommen, selbst deine düsteren kleinen Geheimnisse, die dich aufgrund ihrer winzigen Einzigartigkeit zu einem Individuum machen. All das teilst du bloß mit dieser einen Person, die dir nahesteht, sodass eure beiden Konturen zu bröckeln beginnen; du wirst porös und durchlässig, und es ist kaum noch etwas übrig, um zu definieren, wo du endest und wo der andere anfängt. Ineinander verflochten wie Bäume, die an einer bestimmten Stelle zusammengewachsen sind.

Vielleicht klingt es übertrieben, so etwas über jemanden zu sagen, den ich erst seit kurzem kenne, aber vielleicht passiert das, wenn die Situation von vornherein zeitlich begrenzt ist. Du bist im Fast-Forward-Modus, weil du die andere Person vielleicht nie wiedersehen wirst. Also gibst du dich einfach so, wie du wirklich bist.

Ich werde Urla echt vermissen. Bei unserem Abschied habe ich ziemlich viele Tränen vergossen. Ich glaube, sie war deswegen beunruhigt und hat meine Tränen fehlinterpretiert; sie sagte: »Hey, keine Angst, du schaffst das!« Ich habe gelacht und gesagt: »Ich weiß, dass ich es schaffe, ich werde dich nur echt vermissen.« Dann habe ich resolut gelächelt und gedacht: Genau davor muss ich mich in Acht nehmen – dass mich mein Heimweh zu Fall bringt. Ich mache diese Reise allein, mit mir und für mich selbst, und dieser emotionale Sog ist die Über-Sozialisation, die man von uns Frauen erwartet, die uns gefangen hält und wogegen ich angehen will.

Naaja sagt, wenn sie sich in ihrem Dorf umsieht, ihre Freunde und deren Leben betrachtet, fühlt sie sich so ganz anders als sie. Ich verstehe, was sie meint, denn ich habe früher ab und zu auch die Menschen um mich herum betrachtet, den leeren Gesichtsausdruck der Kassiererinnen im Supermarkt, die kompaktgepuderten Gesichter der Mädchen im Einkaufszentrum, ihre Arme mit schweren Tüten behängt, oder die müden Gesichter im kränklich gelben Licht des Bowling-Kino-Komplexes, erschöpft von einer Woche Arbeit und dem Wochenende, das nicht vergeudet werden darf. Ich fand mich selbst nicht an diesen Orten wieder und gab mir große Mühe, es nicht zu tun.

Aber ich weiß, dass meine Mum sich wünscht, ich würde in meinen Heimatort zurückkehren, heiraten und für immer dableiben, und manchmal tut es mir sehr leid, dass ich das nicht möchte. Mehrere Mädchen aus meiner Schule haben Kinder bekommen, den Ort nie verlassen und wirken wirklich glücklich damit. Wenn alle Mädchen auf und davon gehen würden so wie die Jungs, wie könnte sich dann irgendeine Kultur noch aufrechterhalten?

Aber sind es nicht bloß der unentrinnbare Drang der Jugend, die Langeweile, der Überdruss, die einen zum Aufbruch bewegen? Jugendliche sind immer unruhig, das waren sie immer schon. Erst müssen die Felder gepflügt werden, damit darauf Pflanzensamen keimen können: eine Phase unvermeidlichen Aufruhrs, bevor man als Erwachsener Wurzeln schlagen kann. Warum unterdrücken Mädchen diesen Drang?

Vor meiner Abreise hatte ich die Befürchtung, ich könnte mich – dort draußen angekommen – nur nach zu Hause zurücksehnen. Mein Lieblingsfilm als Kind war Zurück nach Hause – Die unglaubliche Reise. Darin werden zwei Hunde und eine Katze auf einer Farm in Pflege gegeben, während ihre menschliche Familie in Urlaub fährt; die Haustiere glauben, sie wären verlassen worden, doch statt sich verraten zu fühlen, nehmen sie an, dass etwas nicht stimmt, und beschließen, die Farm zu verlassen und nach Hause zu laufen. Doch der Weg führt sie durch die kalifornische Wildnis, und der Film handelt von ihrer abenteuerlichen Heimreise durch diesen unwirtlichen Ort voller Raubkatzen und Stachelschweine.

Als kleines Mädchen habe ich mir manchmal gewünscht, ich wäre Waise, weil die Waisen in den Geschichten immer ein aufregenderes Leben führten. Sie hatten keine familiären Bande, die sie festhielten und ihnen Schuldgefühle bereiteten. Die meisten guten Abenteuergeschichten handeln von erwachsenen Männern oder männlichen Waisen. Damals plante ich, von zu Hause fortzulaufen, aus bloßer Abenteuerlust, den Fluss entlang zu waten, bis ich ans Meer käme, weil die Spürhunde einen im Wasser nicht aufspüren können. Doch jedes Mal, wenn ich über die Straße bis zu der Grenze ging, die von den Laternenpfählen markiert wurde, steckte meine Mutter den Kopf zur Tür heraus und fragte, ob ich ein Stück Möhrenkuchen oder etwas anderes haben wolle, und ich brachte es einfach nicht über mich, ihr das Herz zu brechen.

Ich befürchtete, Zurück nach Hause – Die unglaubliche Reise hätte mir möglicherweise eine Gehirnwäsche verpasst, sodass ich meine Abenteuerlust verlieren würde, sobald ich die Reise angetreten hätte, denn die wahre Aussage des Films ist ja: Haustiere sind Haustiere, keine wilden Tiere, so wie Menschen keine wilden Tiere sind und nicht in die Wildnis hinausgehen, weil dort Böses lauert. Ich hatte die Befürchtung, dass der Film diese feste Vorstellung von Zugehörigkeit, Herkunft und der Welt da draußen in mir verwurzelt hatte.

Du wirst mich verlassen.

Fang doch bitte lieber an zu studieren.

Ich bin zu wild entschlossen, um es bleiben zu lassen.

Aber komm danach doch ins Dorf zurück. Mach dich für deine Kultur stark!

Wir werden nie wieder miteinander sprechen.

Wir bleiben in Kontakt.

Wir sprechen nicht mal dieselbe Sprache.

Dass Grönland sich von seiner alten Lebensweise abwenden will, um mit dem Rest der Welt Schritt halten zu können, ist eine Schande. Aber wie können wir ihnen sagen, sie sollten es nicht tun und wir wollten allen Wohlstand für uns behalten? Was wollen wir? Die etablierte Vorstellung von seiner Schönheit und Einzigartigkeit – als Kultur-Porno für uns? Bald werden mir von Naaja nur diese Erinnerungen und das Filmmaterial bleiben. Dann werde ich sie mit mir forttragen, falls sie selbst nicht weggehen kann.

Wildnis ist ein weibliches Wort

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