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SEGELN PELIKANE GERN DURCH DIE LUFT?

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Die anderen schlafen. Draußen setzt sich die Tundra für uns zusammen. Gestern haben wir den Tag damit verbracht, durch die Gegend zu wandern und zu filmen, auf der Suche nach etwas Brauchbarem für meinen Film. Wir sind durch die Berge landeinwärts gelaufen, entgegen dem Gletscherschmelzwasser, das sich den Weg zum Meer bahnt. Ein reißender Strom, dicht und grau; panisch wie ein umgekippter Krug mit Farbwasser, das sich über eine akkurate Landschaft ergießt.

Ich suche nach etwas, weiß aber nicht genau, wonach. Vielleicht nach der Vorstellung, die ich von diesem Ort hatte, bevor ich hierhergekommen bin. Von der Reise, bevor ich sie angetreten habe. Jetzt bin ich tatsächlich hier, ich bin angekommen. Aber wo bin ich wirklich? Tatsächlich hier zu sein, ist schwierig genug, und erst recht, es mit einer Handkamera zu vermitteln.

Heute Morgen haben wir eine Herde Rentiere aufgescheucht. Sie müssen uns gewittert haben und losgeflitzt sein. Sie rannten schnell, selbst die winzigen Kitze und hochschwangeren Kühe. Eine einheitliche Bewegung wie ein Schwarm Stare, durch ihre Lautlosigkeit umso zauberhafter. Unsere Münder formten sich zu einem O, und wir stießen simultan ein sehnsüchtiges Seufzen aus. Danach lachten wir ungläubig darüber, wo wir waren, was gerade passiert war und wie hellwach wir uns fühlten.

Wir hatten sie erst gesehen, als sie schon davonstoben. Abends sahen wir sie wieder, diesmal, bevor sie uns wahrnahmen. Vermutlich kam der Wind aus einer anderen Richtung. Wir waren auf den Gipfel eines niedrigen Bergs gestiegen, um zu sehen, was sich auf der anderen Seite verbarg, und entdeckten die Rentiere in einem Tal, durch das sich ein kleiner See zog. Wir robbten auf dem Bauch bis zu einem Punkt, von dem wir sie beobachten, sie uns aber nicht sehen konnten. Kurz darauf entdeckten uns die Stechmücken, und es wurde schnell schwierig, still liegen zu bleiben. Der See hatte weitere Rentiere herbeigelockt. Ich beobachtete die kleinen Tiere durch den pixeligen Suchbildschirm der Kamera, die jedes Mal wackelte, wenn ich mit der anderen Hand die Mücken verscheuchte. Die Rentiere wurden ebenfalls von ihnen geplagt, schüttelten alle paar Sekunden die Köpfe, damit sie ihnen nicht in die Ohren flogen.

Rentiere gehen beschwingt, wie auf Zehenspitzen. Angesichts ihrer geheimnisvollen Bewegungen fühlte ich mich verschlagen, wie ein Voyeur. Das Bildmaterial wirkte blass, als diente es nur dazu, die Neuartigkeit der Erfahrung festzuhalten. Aber es ist mehr als das.

Mir fällt es schwer, Dinge, die etwas aussagen, von denen zu trennen, die es nicht tun. Und Dinge zu finden, die das aussagen, was ich will, ist schwierig. Wenn ich mein Filmmaterial durchgehe, bin mir nicht sicher, ob ich damit sage, was ich zu sagen vorhatte, ob ich überhaupt etwas aussage oder ob ich bloß meine eigenen Gefühle dokumentiert habe. Ich bin unsicher, ob die Dinge selbst etwas aussagen oder ob ich es bloß in sie hineinprojiziere, so wie bestimmte Gefühle in einem aufsteigen, wenn man das Motiv einer Postkarte betrachtet, das man sehr gern mag; möglicherweise ruft dasselbe Motiv bei einer anderen Person, der man die Karte zeigt, nicht die gleichen Gefühle hervor.

Vermutlich nehme ich auf, was ich sehe, und mache es zu etwas Symbolischem, aber ich finde es schwer, das Gefühl zu vermitteln, im Augenblick präsent zu sein. Ebenso wenig wie sich dieses Gefühl in den Naturdokus und Enzyklopädien über exotische Spezies vermittelt, die meine einzige bisherige Erfahrung mit der Natur in diesem Ausmaß darstellen. Oder vielleicht ist es nicht so, dass es sich nicht vermitteln lässt, sondern hin und her vermittelt wird, bis es zerfällt, so wie das Foto vom Erdaufgang.

Ich will diesen Film nicht mit leeren Codes überladen, die für mich wie Talismane sind. Andererseits ist es vielleicht egal, vielleicht transportiert er mich weiter, wie ein Schiff, und ich bin gerade erst erwacht, um das Meer zu sehen. Und wir müssen versuchen, die Dinge zu vermitteln, sonst würde nie jemand irgendwen verstehen. Wir müssen Bilder von Tieren zeigen, die weit entfernt leben und zu denen wir keinen Zugang haben, sonst würden Leute wie ich nie von ihnen erfahren und sich für sie interessieren.

Ich habe mir die Aufnahme von den Rentieren immer wieder angesehen. Ein Rentier, das ich anfangs gar nicht bemerkt hatte, fährt mit der Schnauze um einen Stein auf dem Boden herum. Man kann es nur gerade so erkennen, aber das Rentier schnuppert die ganze Aufnahme über allein an diesem Stein. Nach einer Weile spürte ich beim Betrachten etwas, was ich zuvor nicht empfunden hatte. Vielleicht sind selbst leere Momente nie wirklich leer. Ich frage mich, ob das ein Anzeichen dafür ist, dass sich der Dokumentarfilm von selbst erschafft.

Wildnis ist ein weibliches Wort

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