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FRAUEN FÜR DIE ABSCHAFFUNG DES PAUSCHALURLAUBS

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Ich stand am Bug der Fähre, blickte aufs Wasser und aß Kekse mit ausgeprägt unenglischem Geschmack. Wenn man das Kinn auf die Reling stützte und lang genug aufs Meer starrte, wurde es surreal. Wie ein gläserner Rorschach-Test: Das Wasser verdoppelte alle Eisberge, war selbst ein Himmel, verdunkelte sich nur, wenn eine Eisscholle vorbeitrieb oder wenn von einer Flanke der Eisberge ein Stück Eis abbrach und den Spiegel zerschmetterte. Dann hörte man ein knackendes Geräusch, als würde ein Eiswürfel in einem lauwarmen Getränk zerplatzen.

NUUK: eine surreale Stadt. Wie Kulusuk, nur größer und dichter gedrängt. Auch hier wirken die Gebäude wie Puppenhäuser, aber mehrstöckig, verwinkelt zueinander ausgerichtet, ein trotzig auf dem Felsen erbautes Modelldorf, eine Playmobil-Stadt. Schiefergrau ist die vorherrschende Farbe, die Farbe der Berge, der Felsbrocken und Kieselsteine. Alle bunten Farben existieren in Blöcken, als wären sie aus Bastelpapier ausgeschnitten und zusammengesetzt worden. Ich brauchte etwa eine Stunde, bis mir klar wurde, was dort fehlt: Abgesehen vom drahtigen Gras sieht man so gut wie keine Pflanzen oder Bäume.

Ein neues Einkaufszentrum ist offenbar ein Zankapfel zwischen der jungen und alten Bevölkerung. Einige der älteren Bewohner sehen es als Anzeichen dafür, dass Nuuk zu »europäisch« werde. Grönland befindet sich mitten im Wandel, nicht zuletzt deshalb, weil die globale Erwärmung die Eisdecke zum Schmelzen bringt. Eine völlige Eisschmelze würde bedeuten, dass Rohstoffe, die bislang versteckt unter dem Eis liegen, zutage treten und abgebaut werden können. Wären sie autarker, könnten sie unabhängig von Dänemark überleben und das weltweit einzige Inuit-Land werden. Doch wenn man den Blick noch weiter in die Zukunft richtet, besteht die Gefahr, dass die entstehende Wassermenge Grönland in eine Inselgruppe verwandeln würde. Die Kultur der Inuit würde sich bis zur Unkenntlichkeit verändern. Könnte man sie dann noch als Inuit bezeichnen?

Naaja ist die Tochter der Familie, die mit Urlas befreundet ist. Sie ist etwa in Umiks Alter, spricht recht gut Dänisch, ist mir gegenüber ein wenig schüchtern, hängt aber an Urlas Lippen. Ihr Vater, Klas, ist Däne, und ihre Mutter, Kalistiina, ist Inuk. Die Einrichtung ihres Hauses ist interessant, eine Art Museum ihrer gemischten Kulturen. Jede Menge Fisch- und Wal-Ornamente und ein Schrank voll skurriler Votivfiguren, die von den Familienmitgliedern hergestellt werden, um negative Gefühle zu vertreiben, wie uns Naaja erzählt. Sie sind gruselig, hier aber offenbar weitverbreitet. Einige bestehen aus Knochen und Zähnen und etwas, was aussieht wie Überraschungsei-Teile. Außerdem fällt mir auf, dass in den Fenstern vieler Häuser, an denen wir vorbeigehen, extravagante Blumenvasen stehen, vermutlich weil Grönlands Flora so spärlich ist und Blumen etwas ganz Besonderes sind.

Wildnis ist ein weibliches Wort

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