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DIE RECHTE DER NATUR
ОглавлениеWieder auf See. Diesmal auf der Modet, einem kommerziellen Fischerboot. Es wackelt noch schlimmer als auf der Blárfoss, denn das Boot ist deutlich kleiner. Aber ich bin jetzt seefest. Spannung liegt in der Luft, zumindest fühlt es sich so an, denn die Männer sind allesamt abergläubisch, auf Dreimal-auf-Holz-klopfen-sonst-geht-das-Boot-unter-Art, und besonders die älteren Kerle glauben, eine Frau an Bord bringe Unglück. Die Aversion gegen mich nimmt proportional zum Alter ab. Logan ist der Älteste, älter als Jon, der in Onkel Larus’ Alter ist, und mindestens zwei Jahrzehnte älter als der Rest der Besatzung. Er hat noch kein einziges Wort mit mir gesprochen.
Eine Seefahrer-Variante von Ted Kaczynski, dem »Unabomber«. Ted Kaczynski verschickte aus seiner Holzhütte in Montanas Wildnis Briefbomben. Man nannte ihn den Unabomber (University and Airline Bomber), weil er Briefbomben an Universitäten und Fluggesellschaften in den USA schickte. Seine Identität wurde erst Jahre später bekannt. Mit seinen Briefbomben wollte er »die Maschinerie« ins Wanken bringen, wenn schon nicht im wörtlichen, dann zumindest im übertragenen Sinn. Als Strafe dafür, dass die Maschinerie ihn unterdrückt hatte und in seine Wildnis eindrang. Für ihn war eine Universität eine Drehscheibe des Intellekts, eine »künstliche Kultur« und somit das genaue Gegenteil seiner Wildnis, einem Ort frei von menschlichen Zwängen. Er muss die Golden Records gehasst haben.
Bevor er sich in die Wildnis zurückzog, war Kaczynski ein herausragender Mathematiker an der Berkely-Universität gewesen. Einige verehren ihn wie einen Gott der Mountain Men. Onkel Larus ist Kaczynski-Sympathisant; er hat mir sogar eine Ausgabe von Kaczynskis Erzählung Das Narrenschiff gegeben. Er sagt, Kaczynski sei ein missverstandener Umweltschützer und kein Terrorist.
Wenn Logan mich ansieht, scheint er zu versuchen, mir telepathisch Briefbomben zu schicken, als könnten seine zusammengekniffenen Augen messerscharfe Bombenkuverts abfeuern, wenn er nur fest genug blinzelt, wie die Hindu-Gottheit Vishnu ihre Chakra-Wurfscheiben.
Ich habe eine eigene Kabine, einen Wandschrank mit einem Feldbett darin. In der Schlafkabine der anderen ist noch ein Bett frei, aber der Kapitän scheint die Vorstellung unanständig zu finden, dass ich mir die Kajüte mit ihnen teile. Vermutlich werde ich nicht weiter darüber nachdenken, denn mein Wandschrank gefällt mir recht gut. Es gibt keine Leselampe, aber es ist ruhig, und ich habe eine Stirnlampe.
Wie sich herausstellt, war die Modet früher ein Walfangschiff. Ich habe ein kurzes Interview mit Jon geführt, das irgendwie in einen defensiven Wortschwall ausgeartet ist. Grönland hat schon immer zur Selbstversorgung Wale gejagt. Warum sollte man sie nicht jagen, um die eigene Existenz zu sichern? Jetzt ist es illegal, sie zu jagen. Seit dem Walfangverbot fischen sie Schellfisch. Manchmal gehen ihnen dabei Wale ins Netz und sterben, und sie müssen die toten Wale zurück ins Meer werfen, weil ihnen sonst ein Bußgeld droht. Das Problem beim Walfang war ihm zufolge in erster Linie ein quantitatives: zu viele Fischer und zu viele Boote. Ein unausgeglichenes Verhältnis zwischen Walen und Fischern. Moralische Bedenken hatte er nicht. Kein Mitgefühl mit den Seelen der Wale. Ein Zitat von Jon: »Wir wurden gut bezahlt. Sich über die Zukunft Gedanken zu machen, ist schwer, wenn die Bezahlung gut ist.«
Jon klingt wie das Echo der Walfänger aus alten Zeiten. Damals sah man die Wale als schwimmende Fleisch- und Fettberge an, weil sie sehr, sehr wertvolle Rohstoffe waren. Warum hätte man Rohstoffen Gefühle zugestehen sollen? Waltran und besonders das Öl der Pottwale waren vor den fossilen Brennstoffen unsere wichtigste Energiequelle. Sie waren entscheidend für den Beginn der industriellen Revolution. Das Abschlachten ihrer Artgenossen traumatisierte die Wale, und sie begannen, Walfangflotten anzugreifen, weshalb sie uns als Monster erschienen. Im neunzehnten Jahrhundert wurden sie beinahe ausgerottet. Dann überschritt das Walöl seinen Produktionszenit. Der Pottwal wurde dank der Erfindung des Kerosins und der Ausbreitung der fossilen Brennstoffindustrie gerettet. Heute greifen die Wale keine Schiffe mehr an.
Sie sind keine fühlenden Wesen. Sie sind Fische. Fische sind dazu da, gegessen zu werden.
Wale sind keine Fische.
Und was kommt als Nächstes? Schellfische haben auch Gefühle? Wir dürfen keinen Schellfisch mehr essen? Was sollen wir dann essen?
Vielleicht werden Wale eines Tages als nicht menschliche Personen anerkannt, und dann wird dieses ganze Gespräch als hochgradig anstößig empfunden werden, so wie wir heute auf die Zeiten vor der Frauenrechtsbewegung zurückblicken.
Ha! Das kannst du als Frau nicht sagen. Du vergleichst Frauen mit Tieren. Ausgesprochen unfeministisch.
Vielleicht haben die Leute vor den Suffragetten genau das über Frauenrechte gesagt und vor Abschaffung der Sklaverei über den Abolitionismus.
Das kann man nicht miteinander vergleichen.
Ich überlege, diese Dinge zu sagen, aber damit würde ich meine Überfahrt nur noch unangenehmer machen. Im Moment halte ich wohl besser den Mund. Immerhin jagen sie ja keine Wale mehr.
Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass die böse Saat immer noch da ist.
Als ich von der Sache mit dem Walfang erfuhr, fragte ich mich, wie Larus mit diesen Leuten befreundet sein kann. Er hilft ihnen, wenn ihnen versehentlich ein Wal ins Netz geht und er zufällig in der Nähe ist. Zusammen verfrachten sie den Wal wieder ins Wasser, und er markiert ihn. Er versucht, sie über die Wale aufzuklären, damit sie sie besser verstehen und vielleicht so etwas wie Mitgefühl mit ihnen entwickeln. Er ist nicht ihr Freund. Er verbündet sich mit dem Feind, um seine eigene Sache voranzutreiben.