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ERSTE SPUREN IM FRISCHEN SCHNEE

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Jeder Tag hier ist bloß eine weitere Variation des ersten, die einzige Abwechslung bieten die Schlittenwechsel, schleppende Gespräche und ein Himmel, der sich manchmal dramatisch von Rosa zu Orange färbt, wie der Bauch einer Regenbogenforelle. Manchmal weht starker Wind. Die Konstanten sind der Geruch der Hunde, ihr Winseln beim Schnalzen der Peitsche, das Wappnen für die nächste Schneewehe, eingeschlafene Füße und das weiße Nichts. Ich versuche, proaktiv zu bleiben und zu lesen, aber irgendwie bin ich zu müde, um mich zu konzentrieren.

Ein Gedanke: Dieses Nichts wird einen sehr bedeutenden Teil meiner Reise ausmachen. Sehr viel rumsitzen, auf Dinge warten, auf der Durchreise sein, aber draußen auf dem Eis wird das verstärkt, wie auf dem Ozean, deine kleinen Umrisse zeichnen sich vor der Riesenhaftigkeit des Himmelsraums ab, und du blickst auf deine Hände vor dir, folgst den Umrissen deiner Finger auf und ab und denkst: Hier höre ich auf, mein ganzes Ich füllt diesen Behälter aus, der meinen Körper bildet.

Wie propriozeptive Wahrnehmung. Als Nächstes denke ich, dass ich der Erfahrung, über den Mond zu spazieren, hiermit vermutlich so nah komme wie nirgendwo sonst. Es gibt Parallelen: die gleiche klobige Oberbekleidung, das gleiche In-der-Leere-Sein. Ja, es ist fast wie ein Mondspaziergang.

Ich war den ganzen Tag über mit Urla zusammen, und wir haben nicht mehr als zehn Worte miteinander gewechselt. Heute ist Tag neun, und meine Logbucheinträge sind spärlich – weil ich nichts zu sagen habe. Ohne Stimulation fällt es schwer zu denken. Nichtstun laugt aus. Wir sind in einen mentalen Winterschlaf verfallen, abgesehen von Umik und Amos, die von ihren Aufgaben in Beschlag genommen werden. Ich habe viel geschlafen und lebhaft geträumt. Und das Eis durchdringt meine Träume. Nach einer Weile wird das Nichts mächtig und schwammig, weil man das wahrnimmt, was abwesend ist. Die Dinge werden mehr heraufbeschworen, als dass sie wirklich da sind: Farben, Höhen, Tiefen. Geringfügige Veränderungen in der monochromen Landschaft werden verstärkt. Wenn die Eisberge am Horizont Gestalt annehmen, erscheinen sie wie ein Flüstern und verschwinden ebenso leise wieder. Der Horizont ist die einzige räumliche Begrenzung, und er ist immer am Horizont. Wir befinden uns fortwährend mitten im Nichts.

Es fühlt sich an wie unbefugtes Betreten, an einem Ort lebendig zu sein, der nicht tot ist, sondern Nicht-Existenz, Negierung aller Möglichkeiten. Alles Lebendige ist hier immer nur auf der Durchreise. Mir fällt keine Bezeichnung dafür ein, und wenn ich es versuche, komme ich bloß auf ursprünglich, aber das Wort verheißt Möglichkeiten, weil ein Ursprung ein Anfang ist, eine Erzählung in Gang setzt. Das Wort, das ich suche, ist das genaue Gegenteil eines Anfangs.

Wörter werden schwieriger, und ich fange an, wie das Eis zu denken; ohne Kontrast keine Definition. Das Eis ist selbstbezüglich, und die Tautologie lässt mich außen vor. Ich kann meine Position nicht bestimmen, wenn es nichts Greifbares gibt.

Wildnis ist ein weibliches Wort

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