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VERFOLGT VON GEDANKEN AN EIN ANDERSWO
ОглавлениеMeine Kabine liegt an einem Flur, von dem auch alle anderen Kabinen abgehen; jede Kabine hat zwei Schlafkojen, zwei Lampen, zwei Schließfächer und ein Bullauge. Die Türen lassen sich nicht abschließen, und der Typ aus der Kabine nebenan kommt ständig in meine gelatscht, weil er sie mit seiner verwechselt. Soweit ich verstanden habe, arbeitet er schichtweise als Ingenieur. Die meisten Besatzungsmitglieder sind Isländer, sprechen aber zumindest gebrochenes Englisch. Wir verständigen uns mit einem Kauderwelsch aus ihrem rudimentären Wortschatz und den Sätzen aus meinem Pocket-Sprachführer.
Außerdem befinden sich noch zwei Studenten an Bord: Kristján und Urla, die in Manchester und Leeds studieren und mit dem Frachter in den Semesterferien günstig nach Island heimreisen. Sie wohnen in verschiedenen Städten und haben sich auf ihrer ersten Überfahrt kennengelernt. Seitdem fahren sie immer gleichzeitig, um sich gegenseitig Gesellschaft zu leisten, und sie kennen die reguläre Schiffsbesatzung. Alle scheinen zu glauben, dass sie ineinander verliebt sind oder sich noch ineinander verlieben werden.
Ich versuche, die »Essenz« des Lebens an Bord der Blárfoss für meinen Dokumentarfilm einzufangen. Kann ich das, indem ich eine Speicherkarte mit Bildern und Videos von jedem Winkel des Schiffs fülle, genug, um aus den Mosaikteilchen eine 3-D-Nachbildung zu erstellen? Kann man zur Essenz von etwas vordringen, indem man es aus jedem Blickwinkel betrachtet, als wäre das eine wissenschaftliche Untersuchungsmethode, die alle Möglichkeiten ausschöpft? Vermutlich nicht, denn die Speicherkarte ist schon fast zu einem Viertel voll. Außerdem habe ich so gut wie jeden Englisch sprechenden Menschen an Bord interviewt. Besonders Urla findet den Dokumentarfilm »total cool«. Jeder hat sich beteiligt, zunächst, um ein wenig der Langeweile zu entfliehen, aber dann hat es sich zu einem merkwürdigen, ruhmbescherenden Ritual entwickelt, weil die Interviewpartner in der winzigen Welt des Schiffs Berühmtheit erlangen. Erst hatte ich befürchtet, das könnte dem Dokumentarfilm schaden, aber letztlich hilft es, die Situation an Bord zu veranschaulichen.
Die Ausstattung des Frachters ist funktionell und schmucklos, einfallslose, stumpfe Formen in kühlen Pastellfarben, die das Innere des Aufenthaltsraums, die Farben der Brettspiele und das Brummen der Heizkörper intensiver wirken lassen. Abgesehen vom allgegenwärtigen Schiffsmotor, den man mehr spürt als hört, ist außerhalb des Aufenthaltsraums so gut wie kein Geräusch zu hören, außer den gelegentlichen Lautsprecherdurchsagen unseres Kapitäns (dem wir den Spitznamen Käpten Oz verpasst haben). Uns allen ist aufgefallen, dass wir ein ungewöhnliches Interesse an Essen und Essenszeiten entwickelt haben; es gibt fast immer das Gleiche: Plokkfiskur – Fischeintopf in all seinen Varianten. Dem ganzen Erlebnis liegt eine Stimmung zugrunde, die ich als Trägheit oder Verträumtheit bezeichnen würde, oder eine Kombination aus beidem: verträumte Trägheit. Ein Schwebezustand, zugleich unbewegt und bewegt, wackelig, aufgrund des eigenartigen Gefühls von Bewegung, während sich nichts Sichtbares bewegt, die Schwerkraft mit dem Wellengang des Ozeans wetteifert. Wenn man sich auf einem schwimmenden Objekt befindet, wird einem die Schwerkraft bewusster. Da ich Zeit zum Nachdenken hatte, habe ich mir ausgedacht, wie sich Schwerelosigkeit anfühlen muss.
Ich könnte mir vorstellen, dass man im Weltraum ein stärkeres Bewusstsein für die propriozeptive Wahrnehmung entwickelt – darunter versteht man die Eigenwahrnehmung der Lage einzelner Körperteile zueinander (das habe ich in der Pro Bodybuilding Weekly gelesen, einer der wenigen englischen Zeitschriften im Aufenthaltsraum). Das Gehirn kann die Sinne so anpassen, dass sie einander ausgleichen, weshalb ein blinder Mensch besser hören und fühlen kann. Im Weltraum, wo es nur minimale Stimuli für Gehör, Augen, Nase, Zunge und Haut gibt, verstärkt sich vermutlich die propriozeptive Wahrnehmung. Schwerelosigkeit macht jede Körperbewegung mühelos. Aus dem Innern deines Körpers entströmt Energie, dein Puls pocht durch deine Gliedmaßen, und du fühlst dich im wahrsten Sinne des Wortes »verkörpert«. Das ist alles bloße Langeweile-Spekulation. Ich stelle mir auch gern vor, wie es sich anfühlen würde, nur einen Arm zu haben oder einen dritten Arm oder einen Penis.