Читать книгу Wildnis ist ein weibliches Wort - Abi Andrews - Страница 17
LAUF, QUIMMIG, LAUF, LAUF
ОглавлениеUrla hat mir beigebracht, auf Grönländisch zu sagen: Hallo, mein Name ist Erin, danke, ja, nein, das Essen war sehr gut. Eine Kalaallit-Inuit-Familie aus der Siedlung bricht heute nach Kangerlussuaq an der Westküste auf, um ihre Vorräte aufzustocken; dort gibt es einen Baumarkt, der ein ganz bestimmtes Werkzeug vorrätig hat, das sie brauchen, ein Familienmitglied will die Fähre nehmen, und verschiedene andere Kleinigkeiten müssen besorgt werden, für die es allesamt irrsinnig wirkt, eine Reise von FÜNFHUNDERT MEILEN auf sich zu nehmen.
Sie beabsichtigen, voll beladen zurückzukehren, daher sendet die Familie Vater und Sohn mit zwei fast leeren Hundeschlitten aus. Die Hunde können an einem Tag zwischen vierzig und sechzig Meilen zurücklegen, also sollten wir insgesamt dreizehn oder vierzehn Tage für die Strecke brauchen. Von hier aus kommt man nicht nach Nuuk, dafür ist die Strecke zu gebirgig, aber einmal pro Woche verkehrt eine Fähre zwischen Kangerlussuaq und Nuuk. Wenn alles glatt läuft, müsste ich einen Tag, bevor die Fähre ablegt, in Kangerlussuaq ankommen.
Der Vater heißt Amos und liebt seine Hunde. Er hat mich zu seinem Sohn Umik auf den Schlitten gesetzt und die Sache von Anfang an unangenehm für uns gemacht, indem er sagte, dass Umik mir gegenüber vermutlich etwas schüchtern sein würde, weil er im Dorf kaum Mädchen zu Gesicht bekommt. Umik ist etwa fünfzehn, spricht und lächelt kaum, trägt eine Miley-Cyrus-Mütze und eine Sonnenbrille mit neonorangem Gestell, die er nie absetzt.
Urlas Stimmung ist umgeschlagen, seit wir uns wieder in Bewegung gesetzt haben. Sie wirkt launisch, als ob eine Wolke abwechselnd ihren Schatten über sie wirft und dann davongleitet, sodass wieder die Sonne scheint. Ich hatte schon befürchtet, sie könnte von mir gelangweilt sein, sie schien genervt von den Unterhaltungen zwischen Larus und mir. Unsere Gespräche waren die einzige Möglichkeit, während der Tage auf See die Zeit voranzutreiben, aber Urla stöhnte immer wieder »öööööödeeeeee«, woraufhin Larus einen kleinen Gegenstand nach ihr schmiss und sie den Raum verließ.
Bei unserer Abreise umarmte Urla ihren Onkel stürmisch. Ich war traurig, ihn zurückzulassen, aber ich habe das Gefühl, dass er weiterhin eine Rolle in meinem Leben spielen wird, als eine Art Ersatzonkel. Er hat mir einen Stapel Bücher geschenkt und einen Button mit der Aufschrift Save The Bees, den ich an meinen Rucksack gepinnt habe, und ein Messer zum Fischausnehmen. Außerdem hat er mir seinen Skype-Namen und seine Handynummer gegeben und gesagt, ich solle mich einmal pro Woche melden und dass er sich Sorgen um mich machen werde, sobald seine Nichte nicht mehr an meiner Seite sei. Diese väterliche Bevormundung hat mich ein wenig verärgert.
Urla fährt bei Amos auf dem Schlitten mit und ich bei Umik und dem lahmen Hund Genen, der sich weigert, ohne das Rudel im Haus zurückzubleiben. Er ist süß, aber einen Tick anstrengend. Er hat einen Narren an mir gefressen und hält meine Beine warm, die wegen seines Gewichts aber immer wieder einschlafen. Und er stinkt, sie stinken alle, weil sie fast ausschließlich mit Fischkonserven gefüttert werden.
Ich habe versucht, mich mit Hilfe meines grönländischen Sprachführers ein bisschen mit Umik zu unterhalten, aber was die Aussprache der Wörter angeht, bin ich eine Niete. Ich glaube, er hat seinen iPod aufgesetzt, um meine stümperhaften Versuche zu unterbinden. Ich dachte, es wäre eine nette Geste, mich an ihrer Sprache zu versuchen, falls die Grönländer verärgert sind, immer noch unter dänischer Herrschaft zu stehen. Den Sprachführer habe ich im Hafenamt bekommen – im Austausch gegen meinen isländischen Sprachführer und acht dänische Kronen. Es ist ein schmales Büchlein und für ein richtiges Gespräch ungeeignet. Ich kann mir nur nützliche Sätze zusammenstückeln, die auf eigenartige Weise angeordnet sind und dadurch gelegentlich zu kleinen Geschichten werden:
Bitte
Danke
Wie viel kostet das?
Dieser Herr/diese Dame zahlt alles.
Darf ich um einen Tanz bitten?
Ich liebe dich.
Herzliche Grüße
Lass mich in Ruhe!
Hilfe!
Rufen Sie die Polizei!
Mir gefallen die kleinen Geschichten in Sprachführern. Sie scheinen immer einen planlosen Protagonisten zu haben, der sich ständig verläuft und die Rettungsdienste behelligt. Oh, unser Held ist in der Bäckerei. Jetzt ist er auf dem Blumenmarkt. Oh, jetzt braucht er einen Rettungswagen – Urlaub im Eimer! Die Sätze sind wie die Bezeichnungen, die sich Wissenschaftler für Dinge einfallen lassen – so gut wie nutzlos, aber besser als gar nichts, nehme ich an.
Allmählich muss ich dringend mal aufs Klo. Ich habe Urla gefragt, wie ich das Thema ansprechen soll, und vergeblich versucht, sie zu überreden, dass sie Amos sagt, sie müsste mal, weil ich nicht fragen will. Ich werde einfach so lange anhalten, bis wir Pause machen, wann auch immer das sein wird; wenn die Nacht hereinbricht, die nicht wirklich hereinbricht, sondern bloß ein Zustand sein wird, in dem wir uns zu irgendeinem Zeitpunkt in der unvorhersehbaren Zukunft befinden werden. Gegen Mitternacht wird die Sonne bloß für ein paar Stunden verschwinden.