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DIE GROSSE WEISSE STILLE

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Das Kommando, mit dem sie die Hunde zum Anhalten bringen, ist extrem befriedigend. Sie sagen einfach richtig laut »Aaahhh«, als würden sie einen gewaltigen Seufzer ausstoßen. Die Hunde werden langsamer, und die Schlitten kommen zu einem zügigen, aber sanften Halt, proportional zur Dauer des Seufzers/Kommandos. Aaaaaaahhhhhhh. Wir sind heute erst am Nachmittag aufgebrochen und deshalb sieben Stunden ohne Unterbrechung durchgefahren. Gegen acht Uhr abends haben wir schließlich angehalten, sehr hungrig und durchgesessen. Ich war so gut wie sicher, dass meine Monatsblutung meine Skilatzhose besudelt hatte, aber durch den dicken Stoff konnte es niemand sehen, also nicht weiter tragisch. Kurzer Augenblick der Panik, was ich tun sollte, aber jetzt haben wir die Toilettensituation ausgeklügelt. Eine von uns hält ein Stück Plane hoch, während die andere pinkelt, aber uns ist noch nichts eingefallen, womit wir Umik und Amos den hysterischen Lachanfall erklären können, den Urla erleidet, wenn ich versuche, mich diskret um meine Menstruationstasse zu kümmern.

Es bringt mich dazu, über die Beziehung der Inuit zu ihrem Land nachzudenken, wie behutsam sie damit umgehen, wie bewusst sie sich der Tatsache sind, dass jeder einzelne Mensch einen Abdruck, eine Spur auf der Erde hinterlässt. Draußen auf dem Eis, wo es keine Sanitäreinrichtungen und keinen Erdboden gibt, wird das überdeutlich. Jedes Mal, wenn man seine Ausscheidungen loswerden muss, lässt man eine Spur im blendend weißen Schnee zurück, und der Abdruck wird sehr konkret. Jeder, der wollte, könnte unsere Spur verfolgen, von unserem Startpunkt bis zum Ende – so sehr wir auch versuchen, alles wieder so zu hinterlassen, wie wir es vorgefunden haben –, indem er den Pfotenabdrücken, Schlittenspuren, vergrabenen Knochen und dem aufgeworfenen Schnee folgte.

Die zwei Zelte, die Amos dabeihat, wirken vor der riesigen weißen Eisfläche winzig und grell; fehl am Platz, nutzlos, trotzig, unbedarft. Wie eine einzelne Pflanze, die sich an die Flanke einer Klippe klammert. Wir teilen uns zu zweit ein Einmannzelt; zumindest garantiert das maximalen Körperwärmeaustausch. Ohne das Rauschen der dahingleitenden Schlitten, und während alle Hunde schnaufen und schlafen, ist dieser Ort gespenstisch still. Außer wenn der Wind das Zelt zum Flattern bringt, die straff gespannten Wände aufpeitscht. Die Stille ist unheilvoll; wir spüren es alle, aber während ich das schreibe, habe ich das Gefühl, die Natur zu vermenschlichen. Doch meilenweit gibt es nichts außer uns, die nächste Stadt ist die, von der wir aufgebrochen sind. Urla sagt, Eisbären kommen nie so weit nach Süden, ich bräuchte mir also nicht zu große Sorgen zu machen, sie mit meinem Blut anzulocken. Ich war gar nicht auf die Idee gekommen, mir Sorgen zu machen, bis sie es erwähnte.

Urla hat heute ein richtig gutes Interview mit Amos geführt. Sie übernahm natürlich das Reden, ich das Filmen. Während wir es uns angeschaut haben, hat sie für mich übersetzt. Amos spricht darüber, wie es ist, draußen auf dem Eis zu sein, besonders allein (den Großteil seiner Fahrten macht er ohne Umik, nimmt aber Genen mit).

Ich habe die Szene so gefilmt, dass er im Schneidersitz mit Genen auf dem Eis zu sehen ist und sonst nichts. Es war fast perfekt, wie eine Zusammenfassung dieses ätherischen Gefühls, das wir beide vergeblich zu beschreiben versucht haben: eine Beinahe-Leere, eine weiße Collage.

Thoreau sagte, in der Wildheit liege die Erhaltung der Welt. Häufig wird er fälschlich so zitiert, als hätte er von Wildnis gesprochen, aber er meinte pure Wildheit. Nicht Wildnis so wie man sie normalerweise versteht: ein Stück Land, das abgegrenzt wird, um chaotisch, wild oder artenreich zu sein. Er meinte Natur, die ganz ihrem eigenen Willen folgt. Wie wenn man aufs weite Meer hinausblickt oder ins All – einen freien und menschenleeren Ort – und sich winzig fühlt; das war es, was Thoreau meinte. Das genaue Gegenteil von Kultur oder Zivilisation.

Das Gefühl ist überwältigend, weil es einem vor Augen führt, dass man kein Teil dieser Landschaft ist; gewaltig, gleichgültig, unergründlich. Das Eis wird einen ausradieren. Wenn du und alles, was hier lebt, verschwindet, wird das Eis eure Spuren vollständig verschlucken. Kein einziges Zeichen wird zurückbleiben. Du. Kein du.

Die Eisdecke entzieht sich jeglicher Kartographie. Sie ist eine leere unmarkierte Fläche ohne etwas, woran man die Grenzen einer Landkarte verankern könnte. Gut, vielleicht gibt es Glaziologen, die sie auf irgendeine Art kartographieren könnten, vielleicht ihre Eisdichte, vielleicht die Anhäufung atmosphärischer Teilchen, aber das lässt sich nur mit ganz besonderen Untersuchungsmethoden erfassen. Eine esoterische Landschaft hilft jemandem, der sich verirrt hat, nicht weiter; du könntest hier vom Zentrum aus losgehen und nie wieder zurückfinden.

Mir wird schwindlig angesichts dieser Nichtigkeit, während ich dastehe und auf die Fläche hinausblicke. Doch es ist nicht das lähmende Gefühl von Platzangst, sondern vielmehr der Ruck einer plötzlichen Befreiung, das Loslösen eines Ankers. Alles ist so vollkommen anders als zu Hause, wo Kartographie unausweichlich ist, in die Erde verwoben, und wo keine Möglichkeit besteht, sich zu verlaufen, nicht wirklich. Dies ist ein Wanderweg, dies nicht, Willkommen in der Grafschaft Worcestershire, Privateigentum, Betreten des Rasens verboten.

Ich habe Amos gefragt, ob er glaube, dass wir die Fähre erwischen werden. Er sagte bloß: »Immaqa«, was so viel bedeutet wie »vielleicht« und in Grönland das Schlagwort schlechthin ist. Es verheißt Gutes. Die meisten öffentlichen Transportmittel verkehren hier nur einmal pro Woche.

Wildnis ist ein weibliches Wort

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