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ICH KOMMUNIZIERE ÜBER SCHALLWELLEN

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Wir haben die Schule Langflossen-Grindwale entdeckt. Es sind über hundert, und sie bieten ein unglaubliches Schauspiel, wie ihre Körper geschmeidig und gewölbt wie Luftpolsterfolie aus dem grauen Wasser auftauchen, wie sie Luft aus ihren Blaslöchern pusten, Wasser verspritzen wie Spucke aus einem Luftballon, den man aufbläst und loslässt. Nachdem wir sie zwei Tage lang beobachtet haben, verliere ich langsam die Angst, dass sie sich alle zusammen als ein riesiger Grindwal aus dem Wasser erheben werden, um unser kleines Boot umzukippen. Beruhigt hat mich die Tatsache, dass sie auch mit Delphinen gemeinsam herumschwimmen. Delphine sind Tiere, denen ich vertrauen kann. Zu unserer Schule hier gehört eine Gruppe Atlantischer Weißseitendelphine; Larus erzählt, sie treiben gemeinsam mit den Walen die Beutefische zusammen. Die Delphine sind neugierig auf uns und kommen bis ans Boot herangeschwommen, spielen in dem Schaum, den unsere Schiffsschraube erzeugt. Aus ihren Gesichtern und Geräuschen scheint unbändige Freude über dieses seltsame Ding zu sprechen, das ihr Wasser zerhackt und schaumig macht.

Inzwischen duldet mich der mürrische Larus. Er hatte lamentiert, dass »Leute wie ich« Bali zerstört haben, weil wir uns für spirituell halten und alles mit unseren Yogamatten zupflastern. Seines Erachtens ist das ein psychischer Makel der heutigen Jugend. Als ich wissen wollte, wie viele Kinder er habe, antwortete er, er habe fünf, von drei verschiedenen Frauen, weil das in den sechziger Jahren nun mal so war. Ich habe ihn gefragt, ob die Tatsache, dass Bali so überlaufen ist, nicht bloß das unvermeidliche Ergebnis der Überbevölkerung sei, und angemerkt, dass in den sechziger Jahren schon die gleichen nervigen Yogamatten-Touristen dort waren, nur dass es in den Sechzigern weniger Menschen gab und somit einen geringeren Yogamatten-Andrang, und dass in Wahrheit seine Generation schuld daran ist, weil sie sich so ungehemmt fortgepflanzt hat. Er murmelte irgendein unverständliches Zeug, aber seitdem ist er halbwegs freundlich zu mir.

Zusätzlich zu seinen Forschungen für die Ocean Association betreibt Larus seine eigenen. Der Schwarm Grindwale ist für ihn wegen der Delphine von besonderem Interesse. Er benutzt die Ausrüstung an Bord, um ihre Schallwellen aufzuzeichnen und sie graphisch darzustellen, und wertet die Muster in der Hoffnung aus, dadurch ihre Sprache zu entschlüsseln. Die Diagramme im Ruderhaus beweisen bereits, dass die Delphine sprechen; Larus hat die Rangfolge der unterschiedlichen Lauteinheiten in absteigender Ordnung auf einer horizontalen Achse dargestellt und die relative Häufigkeit, mit der sie auftreten, auf einer vertikalen Achse. Ein Diagramm, das die Übermittlung von Informationen veranschaulicht, resultiert immer in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel, weil alle Sprachen aus Einheiten bestehen, die sich in einem Spektrum von häufig bis selten bewegen. Entsteht dabei kein Fünfundvierzig-Grad-Winkel, sind die Geräusche zufällig und dienen nicht der Kommunikation. Das gilt für jede Sprache, egal ob Isländisch, Englisch oder Delphinisch.


Larus sagt, er kann diese Methode auf jede längere Tonsequenz anwenden. Außerdem beschäftigt er sich mit Geräuschen, die von Satelliten aufgefangen werden, die auf den Weltraum gerichtet sind. Ein amerikanischer Freund von ihm hat sich hinter seinem Haus in der Wüste eine Satellitenschüssel gebaut und wertet gemeinsam mit Larus die Daten aus, weil die einzige von der Regierung finanzierte Satellitenschüssel, die speziell dazu gedient hatte, Signale von Außerirdischen aufzufangen, das Big-Ear-Radioteleskop aus Ohio, 1998 abgerissen wurde, um Platz für einen Golfplatz zu schaffen. Das Radioteleskop war zweiundzwanzig Jahre im Einsatz und fing tatsächlich die Art Signal auf, nach der man Ausschau gehalten hatte. Es schien nordwestlich vom Kugelsternhaufen M 55 im Sternbild Schütze zu kommen und dauerte zweiundsiebzig Sekunden an. Bekannt wurde es als Wow!-Signal, denn genau das hatte Astrophysiker Jerry R. Ehman auf den Computerausdruck geschrieben.

Doch das Signal wiederholte sich nicht, und nachdem man vergeblich versucht hatte, ein weiteres aufzufangen, nahm man schließlich an, dass es bloß Zufall gewesen sei, weil man davon ausging, dass jegliche intelligente Zivilisation ein Signal wiederholt aussenden würde, um die Wahrscheinlichkeit, gehört zu werden, zu erhöhen. 1974 wurde ein dreiminütiges Signal von der Erde zu einem Sternhaufen am Rand der Milchstraße ausgesendet und danach nie wiederholt. Bis eine hypothetische Zivilisation das Signal erhalten und eine Antwort zurückgesendet haben könnte, werden wir uns etwa im Jahr 52000 nach Christus befinden. Die Aufmerksamkeitsspanne eines durchschnittlichen Menschen beträgt zwischen fünf und zwanzig Minuten. Die Männer, die das Signal aussendeten, nannten sich The Order of the Dolphin. Eins der Mitglieder, der Meeresbiologe John C. Lilly, hatte in der Vergangenheit Halluzinogene genommen und war in Delphinbecken gestiegen, um artübergreifende Kommunikation zu erforschen. John Lilly fand heraus, dass Delphine in der Lage sind, menschliche Satzstrukturen zu verstehen. Er brachte ihnen bei, zwischen Kommandos wie Bring the ball to the doll und Bring the doll to the ball zu unterscheiden.

Er sprach über Delphine, als hielte er sie für Menschen. Larus spielte uns die Aufnahme einer Spoken-Word-Dichterin vor, die mir gefiel. Sie stellte sich vor, was ein Wal zu John Lilly sagen würde, wenn er telepathisch mit ihm kommunizieren könnte: Während der Wal in seinem gefliesten Gefängnis im Kreis herumschwamm, fragte er, ob jeder Ozean Wände habe.

Weil es so schwierig ist, eine Nachricht durch tiefen Raum und tiefe Zeit zu übertragen, hält Larus es für möglich, dass Außerirdische vor mehreren Milliarden Jahren auf die Erde gekommen sind und in unserer DNA eine verschlüsselte Botschaft hinterlassen haben, in unseren ungenutzten Genen, die nur faul herumsitzen. Er erzählt, dass manche Entschlüsselungsgeräte nach mathematischen Mustern suchen, weil intelligente Zivilisationen Dinge wie Pi und Primzahlen als sprachübergreifende, universelle Wahrheiten verstehen müssen. Wie Pythagoras sagte: Der ganze Kosmos ist Harmonie und Zahl.

Einige Mitglieder des Order of the Dolphin, wie der Celebrity-Kosmologe und Rollkragenliebhaber Carl Sagan, arbeiteten auch an den Golden Records, den Datenplatten, die zusammen mit der Sonde Voyager 1 in den Weltraum geschickt wurden, die sich mittlerweile außerhalb unseres Sonnensystems befinden könnte und auf dem Weg zu einem anderen. Die Golden Records sind eine Art Zeitkapsel. Sie enthalten Bilder von unterschiedlichsten Kulturen und Lebewesen, Geräusche von unserem Planeten wie Geschrei und Gelächter und Grüße in vielen verschiedenen Sprachen. US-Präsident Jimmy Carter hinterließ den Außerirdischen in der Zeitkapsel eine schriftliche Nachricht:

Dies ist ein Geschenk einer kleinen, weit entfernten Welt, eine Probe unserer Klänge, unserer Wissenschaft, unserer Bilder, unserer Musik, unserer Gedanken und unserer Gefühle. WIR VERSUCHEN, UNSER ZEITALTER ZU ÜBERLEBEN, UM SO BIS IN EURE ZEIT HINEINLEBEN ZU DÜRFEN.

Präsident Carter

Die Zeitkapsel ist Präsident Carters Baby. Mit ihr hat er die Zukunft gedanklich kolonisiert.

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