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KLARER VORTEIL FÜR MEIN GESCHLECHT
ОглавлениеAuf unseren Schlitten über all den Schnee dahinzugleiten, fühlte sich an, als wären wir auf der entgegengesetzten Version von Robert Falcon Scotts Antarktis-Expedition. Vor meiner Abreise aus England hatte ich Herbert Pontings Dokumentarfilm über den messianischen Polarforscher gesehen, um mich inspirieren zu lassen. Zu Anfang sieht man ein Dia mit einem Zitat von König Georg V., unterlegt mit fröhlicher Trompetenmusik aus Kolonialzeiten. König Georg sagte: ICH WÜNSCHTE, JEDER ENGLISCHE KNABE KÖNNTE DIESEN FILM SEHEN, DAMIT IN IHM DER ABENTEUERGEIST GEWECKT WERDE, AUF DEM DAS EMPIRE ERBAUT IST.
Ich wollte mir ein Stück von diesem Abenteuergeist abschneiden, auch wenn ich zu den fünfzig Prozent gehöre, die KG von vornherein ausschließt. Wieder positioniere ich mich als männlich; als mein männliches Gegenstück, das in meinem Gehirn lebt, und füge ihm eine Penis-Attrappe hinzu, damit ich in meiner Vorstellung Scotts Antarktis durchqueren kann.
Wir jagen und schießen ein paar Robben, aber wir fühlen uns nicht zu schlecht deswegen, weil wir mit dem Fleisch die Hunde füttern müssen. Man stellt mich dem Lager-Maskottchen vor, der schwarzen Katze Nigger, und in dem Moment werden mir noch einmal die heftigen Widersprüche ihrer Moralvorstellungen bewusst. Und dann fangen sie an, die Robben zu vermenschlichen, was irgendwie süß ist, ach, nette Jungs, nicht wahr? Und wir vergucken uns alle in eine der Robbenmütter und ihr Junges, das zu klein und speckig ist, um aufs Eis rauszurobben, als es von ein paar hungrigen Orcas gejagt wird. Wir harpunieren die Orcas, um das Robbenbaby zu retten. Dann setzen wir uns hin und essen eine Schüssel Robbeneintopf.
Scott und seine Männer starben, nachdem sie am Südpol ihre Flagge gehisst hatten. Sie überschritten die feine Grenze zwischen Forschungsreise und Imperialismus. Ihre Expedition entsprang weder Neugier noch Abenteuerdrang, sondern war ein von Nationalstolz befeuertes Wettrennen. Männer lieben es einfach, ihre Flagge irgendwo reinzustecken. Nordpol, Südpol, auf dem Meeresgrund unterhalb des Nordpols, auf Berggipfeln, auf dem Mond. Wie Tiere, die ihr Territorium markieren, indem sie an Dinge pinkeln.
Die Bergsteigerin Annie Smith Peck hängte Hiram Bingham, das Vorbild für Indiana Jones, bei der Besteigung des Coropuna ab und hisste auf dem Gipfel eine Fahne mit der Aufschrift »Frauenwahlrecht«. Sie war eine der wenigen weiblichen Forschungsreisenden, die für ihren Erfolg Anerkennung ernteten. Schön und gut, meine Damen, Annie Smith Peck hat es sich wirklich verdient, also wollen wir mal nicht so sein, aber sie war eine »Superwoman«, also macht ihr normalsterblichen Frauen euch bloß keine falschen Hoffnungen.
Die Leute sind auch heute noch ganz wild auf dieses Zeug – die jungenhafte Peter-Pan-Nostalgie nach Erforschung und Imperium. Auf Pfadfinderlager, Survival-Tipps und »Bear« Grylls, den eifrigen christlichen Naturburschen und Abenteurer vom Discovery Channel. Der Pfadfinder-Ratgeber Scouting for Boys wurde nach Veröffentlichung in punkto Verkaufszahlen nur von der Bibel übertroffen. Tatsächlich erschien er nach dem imperialistischen Zeitalter von Scott und Shackleton, als sich die britische Männerwelt durch die schwindende Macht des Empire und das Aufkommen der Frauenrechtsbewegung bedroht fühlte. Die Entmannung der Männer. Genau daher rührt vermutlich das momentane Wiederaufflammen der Mountain-Man-Dokus im Fernsehen. Und Bear Grylls wurde zum neuen Chief Scout ernannt.
Mein Dokumentarfilm soll das Gegenteil kolonialer Ausbeutung werden. Er soll erforschen, unaufdringlich, ohne seinen Stempel aufzudrücken. Für alle Dinge durchlässig sein, ohne zu verschmutzen. Er soll sich der Spuren bewusst sein, die er im Schnee hinterlässt (auch davon habe ich Filmmaterial erstellt).