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BESUCH VON DER ROTEN ARMEE

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KULUSUK: Eine Spielzeugstadt. Eine winzige Insel-Siedlung mit nur fünfhundert Einwohnern, was für Grönland offenbar recht viel ist. Die Häuser sehen aus, als wären sie aus Faltkartons erbaut und könnten fein säuberlich zusammengeklappt und mitgenommen werden, falls die Bewohner umziehen sollten. Sie sind in Primärfarben gestrichen: kleine Puppenhäuschen, Bühnenrequisiten. Sie wurden in gewagten Winkeln in die Felsen hineingebaut. Die Hänge fallen steil vor dem ruhigen Wasser ab, als wäre die Insel die Spitze einer Bergkette, die direkt unter der Wasseroberfläche verläuft. Die See wird hier hoffentlich nicht stürmisch, denn einige der Häuser stehen bloß wenige Meter vom Wasser entfernt.

Urla ist froh, wieder an Land zu sein. Sie war gereizt und ruhelos, huschte herum wie eine Katze, konnte sich nicht entscheiden, ob sie sich zum Lesen in die Schlafkabine zurückziehen oder sich zu uns ins Ruderhaus gesellen sollte, aber ohne ein Wort zu sagen, als wollte sie uns in Erinnerung rufen, dass sie auch noch da war, bevor sie wieder zurück zu ihrem Buch verschwand.

Ich kann gerade nicht schlafen, mein Unterleib fühlt sich an, als wäre er voller Säure und mit Teer ausgekleidet, und ich kann mich nicht im Bett herumwälzen, wie ich es zu Hause tun würde, weil ich sonst Urla wecke. In einem der Häuser nebenan wohnen Huskys und heulen schon seit Stunden den mondlosen Himmel an. Meine Schlafmaske juckt, meine Menstruationstasse sitzt schlecht, und ich habe Angst, in unserer letzten Nacht bei Larus die Bettlaken zu besudeln.

Meine Periode erfordert eigentlich eine dicke, fette Monatsbinde, aber ich versuche, gut zur Umwelt zu sein. Ich bin immer noch zu froh darüber, wieder meine Periode zu bekommen, um mich darüber zu ärgern. Wegen der Pille war sie ausgeblieben, und während der ganzen Zeit, die ich sie genommen habe, hatte ich keinmal meine Tage. Ich hatte aus dem gleichen Grund mit der Pille angefangen wie viele andere Mädchen im Teenager-Alter auch – weil ich starke Regelschmerzen hatte, die den steten Vorwärtsmarsch zum Trommelschlag des Patriarchats unterbrachen und wegen der ich in der Schule und bei der Arbeit fehlen musste. Als wäre Frau zu sein eine Krankheit, die man mit Medikamenten heilen kann.

Seit rund einer Stunde starre ich jetzt schon auf das allererste Bild von der Erde. Es entstand während der Apollo-Mission, bei der die Astronauten um den Mond flogen, um Krater zu fotografieren; es war die Mission vor der eigentlichen Mondlandung. Die ursprüngliche Idee war zwar, Aufnahmen von den Mondkratern zu machen, doch dann drehten die Astronauten die Kamera um und filmten, wie die Erde hinter dem Mond aufging.

In jenem Moment tauchten auf den Bildschirmen der NASA zum allerersten Mal aus dem Weltraum aufgenommene Bilder von der Erde auf. Fast in Echtzeit beobachteten sie, wie sie sich selbst beobachteten, aus einer Entfernung von 385000 Kilometern. In diesem Augenblick erreichten sie einen neuen Grad der Selbstwahrnehmung, der sich außerhalb jenes Raums und Augenblicks vermutlich nie wieder rekonstruieren lässt. Eine kopernikanische Revolution.

Der Wettlauf ins All in den Sechzigern erweiterte die menschliche Psyche um das Konzept von tiefem Raum und tiefer Zeit. Das Foto vom Erdaufgang führte dazu, dass die Menschen innehielten und ein ganzheitlicheres Denken über die Erde entwickelten. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sich Leute in den Sechzigern mehr Gedanken über ihre Mitmenschen und die Umwelt machten.

Es ist das am häufigsten reproduzierte Bild überhaupt und wurde immer abstrakter, bis es zu einem Symbol für die menschlichen Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts verkam, seine Bedeutung vollkommen umgekehrt wurde. Es löst ein etwas eigenartiges Gefühl in mir aus: Weil ich es schon so oft gesehen habe, hat es mich quasi für das blind gemacht, was ich wirklich ansehe; ich starre darauf und versuche, das Abgebildete wirklich zu sehen. Wenn ich die Augen zusammenkneife, verbleibt es auf meiner Netzhaut, und wenn ich die Augen öffne, verschmilzt es mit dem Bild auf dem Monitor, sodass ich mir ein wenig vorstellen kann, wie die Erde aufgeht.

Das Gefühl, das Astronauten empfinden, wenn sie zur Erde zurückblicken, bezeichnet man als »Overview-Effekt«. Wenn sie im Orbit herumkreisen und versuchen, ihre Eindrücke in Worte zu fassen, kommen dabei Ausdrücke wie Blumenkohlwolken und tanzende grüne Polarlichtstreifen und Leuchten wie flackernde Modemlichter heraus. Egal, wie sie es ausdrücken, es hört sich dümmlich an. Es muss sie frustrieren, dass ihre Vergleiche so banal und irdisch klingen, während sich das Gesehene gleichzeitig außerhalb unserer weltlichen Logik befindet.

Das Gleiche gilt für Wissenschaften, die sich mit Realitäten befassen, welche sich unserer Logik entziehen. Wissenschaftler müssen die Dinge vereinfachen und eine Sprache benutzen, die wir alle verstehen. Dreimal darfst du raten, welche Sprache das ist.

Aber sie brauchen Sprache, um sich mit anderen Wissenschaftlern auszutauschen, und sie müssen ihre komplizierten Theorien hinunterbrechen, bis sie uns Laien verständlich sind. Doch dadurch machen sie sie zu etwas, das keine Ähnlichkeit mehr mit dem hat, was sie ursprünglich sagen wollten, und wir glauben an dieses Endprodukt, weil es dem Mund eines Wissenschaftlers entstammt. Sie sprechen über Quark-Flavour-Mischungen und Quantensuppe, und man überlegt, ob sie eher wie eine Minestrone aussieht oder wie eine cremige Erbsensuppe. Und sie nennen ihre Instrumente zum Beispiel SUPERCONDUCTING SUPER-COLLIDER, und man fragt sich, ob sie mit der Namensfindung ein paar aufgeweckte Fünfjährige beauftragt haben.

Mein Lieblingsbeispiel hierfür ist die Bezeichnung des Physikkönigs und Frauenmanipulators Albert Einstein für den unmittelbaren Informationsaustausch zwischen zwei weit voneinander entfernten Teilchen. Die Teilchen sind im selben Augenblick im All entstanden, wurden dann weiträumig getrennt, können aber immer noch als ein und dasselbe Teilchen angesehen werden, und wenn man eins davon misst, hat das sofortigen Einfluss auf das andere. Ich verstehe es nicht hundertprozentig, aber mir gefällt Einsteins Bezeichnung dafür: spukhafte Fernwirkung.

Und Astronauten sagen Dinge wie: »Man begreift, dass die ganze Welt miteinander verbunden ist«, und du schnaubst verächtlich darüber, wie offensichtlich und einfältig diese klugen Astronauten klingen, doch dann denkst du darüber nach, und vielleicht liegen sie damit gar nicht so falsch. Sie sagen Sachen wie: »Man begreift, dass wir uns bereits alle im Weltraum befinden, auf einem riesigen Raumschiff, dem Raumschiff Erde«, und du denkst, dass sie das bloß als herablassende Ausrede für all diejenigen benutzen, die sich nie in einem echten Raumschiff befinden werden, bis dir klar wird, dass du dich genau so betrachtet hast – als wärst du fest an diesem Punkt verankert, von dem aus man Raumschiffe ins All schickt, dabei bist du die ganze Zeit dort draußen gewesen. Unter dir ist nichts – und über dir auch nicht, für eine sehr, sehr lange Strecke. Der Mond rotiert in einer Rille in der Raum-Zeit-Materie, die durch die Anziehungskraft der Erde entsteht.

Etwa alle fünf Jahre sollte es einen Flug geben, der alle aktuellen Weltherrscher in den Weltraum befördert, damit sie auf die Erde hinabschauen können. Wenn die UN Weltfrieden will, warum sind sie darauf dann noch nicht gekommen?

Wildnis ist ein weibliches Wort

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