Читать книгу Wildnis ist ein weibliches Wort - Abi Andrews - Страница 20

Heute fahre ich wieder auf demselben Schlitten wie Genen. Während solcher Momente ziehe ich mich geistig an die entlegensten Orte zurück: wenn ich unbewegt unterwegs bin, mit meinen Gedanken allein. Ich bin eingenickt und habe von Rachel Carson geträumt. Ich war in dem »Wald« in der Nähe unseres Hauses, in Wahrheit bloß eine rechteckige Fläche mit hageren Bäumen, die nicht gefällt wurden, als man die Siedlung damals erbaut hat. Außerdem ist er mit Radon verseucht. Er dient den Bewohnern der Siedlung als Naherholungsgebiet, wo alle mit ihren Hunden Gassi gehen. Es stinkt dort nach Hundescheiße. Als ich noch klein war, hat Mum mir verboten, dort zu spielen, damit ich den Mist nicht irgendwie in die Augen bekäme und davon blind würde.

Ich war also im Wald, stand ganz still da, weil ich ein Summen hörte, und versuchte zu entscheiden, in welche Richtung ich besser nicht gehen sollte. Da bewegte sich plötzlich der Hügel neben mir, den ich schlicht für Unterholz gehalten hatte. Nach und nach bildete sich eine liegende menschliche Gestalt heraus. Sie rappelte sich auf, warf dabei die Erde um sich herum auf, riss die Wurzeln der Pflanzen aus der Erde, als wären es berstende Geigensaiten. So klang es auch: plack, plack, plack. Als sich die Gestalt aufgesetzt hatte, fing sie an, sich abzuklopfen, ihre Kleider waren schlammverkrustet, ihre Haut mit Dreck und Hundekot verschmiert. Ich erkannte Rachel Carson, obwohl ich gar nicht weiß, wie sie aussieht, und ihr Gesicht nur ein undeutlicher Fleck war, mit Flechten anstelle von Augen.

»Tauben fallen plötzlich tot vom Himmel.«

Ich war mir nicht sicher, ob sie mit mir gesprochen hatte. Es war schwer zu sagen, wohin ihre Flechten-Augen blickten, und sie hatte den Kopf sowieso von mir abgewandt. Dann wachte ich von einem kribbelnden, piekenden Gefühl auf; Genen saß auf mir und bohrte mir seinen Oberschenkel ins Bein.