Читать книгу Wildnis ist ein weibliches Wort - Abi Andrews - Страница 9

SYMBIOSE AUS ALGEN UND TIEREN

Оглавление

Urlas Mutter heißt Thilda. Ihr Haus steht ganz am Ende von Reykjavík, und man blickt über die Rückseiten aller Gebäude bis zum Meer. Es ist Frühling, und die Bäume und Parks sind sehr grün und das Wasser und der Himmel sehr blau. Die Häuser sind so nah ans Meer gebaut, dass es bei bestimmtem Licht, wenn der Horizont nicht zu sehen ist und die Häfen und Seen mit Himmel gefüllt sind, aussieht, als hocke die Stadt am Rand der Unendlichkeit. Die Sonne geht unter, scheint aber bloß außer Sichtweite zu schlummern, und ich musste mir eine Schlafmaske kaufen, um meinen Körper davon zu überzeugen, dass es Nacht ist. Für isländische Verhältnisse ist es recht warm, aber ich trage draußen immer meine Skijacke.

Die Blárfoss zu verlassen, hätte eine emotionale Angelegenheit werden können, aber da es für die meisten anderen eher eine Unterbrechung der Erfahrung ist als ein Ende – denn die meisten von ihnen werden die Überfahrt noch oft wiederholen, mit leicht veränderter Crew –, war es das nicht. Ich muss lernen, mich nicht emotional an Übergangsorte zu binden, schließlich ist die ganze Reise ein Übergang. Selbst Urla und Kristján haben sich erstaunlich gleichmütig voneinander verabschiedet. Sie sagt, die Blárfoss sei ihre Beziehung, sie hätten vereinbart, sich außerhalb des Frachters nicht zu treffen, bevor sie mit der Uni fertig sind, und sie glaubt nicht, dass ihre Beziehung überhaupt unabhängig davon existieren kann. Ich finde das sehr vernünftig.

Tatsächlich scheint sie in der Lage zu sein, ihre Beziehung mit einer männlichen, objektiven Klarheit zu betrachten, die ich bewundere. Sie macht den Eindruck, als wäre ihr Kristján vollkommen egal; tatsächlich hat sie die meiste Zeit an Bord mit mir verbracht, ist nur nachts zu ihm in ihre gemeinsame Kajüte gegangen. Wenn ich ihnen begegnete, verschwand Kristján jedes Mal unter irgendeinem Vorwand, was für Urla zu einem Running Gag wurde; sie lachte und rief ihm »Tschüss, Kristján« nach. Ich fing an, mich deswegen richtig schlecht zu fühlen, und ließ sie in Ruhe, aber daraufhin kam Urla zu mir.

Sie sagte, sobald sie mit der Uni fertig sei, wolle sie auch so eine Reise machen wie ich, die Reise sei mutig und wichtig. Ich wuchs innerlich vor Stolz, als wäre ich ein bisschen wie sie geworden, weil sie mein Vorhaben gutheißt. Ihre Selbstsicherheit beeindruckt mich, ihre Art zu reden und ihre Körperhaltung. Sie gehörte auf der Schule ganz offensichtlich zu den Mädchen, mit denen jeder befreundet sein wollte – oder die man zumindest nicht zur Feindin haben wollte, nicht ihre Verachtung zu spüren bekommen, von der ich annehme, dass sie schonungslos ist.

Ich blieb in der Schule lieber für mich. An den Wochenenden fuhr ich mit dem Fahrrad an verschiedene Orte, mein Rucksack – das Gegengift zur typisch weiblichen Handtasche – voll mit praktischen Dingen, die ich auch benutzte, wenn es gar nicht unbedingt nötig war, bloß um alles fein säuberlich mit einem Taschenmesser zu schneiden, selbst das, wofür ich meine Zähne hätte benutzen können, die kleinsten Schrammen mit meinem Verbandskasten zu verarzten, meinen Kompass zu benutzen, selbst wenn ich den Weg kannte, nur um das beruhigende Gefühl zu haben, genau zu wissen, wo Norden war. Diese Ordnung und simple Wahrheit verliehen mir das angenehme Gefühl, patent und autonom zu sein wie Thoreau.

Zu einem Ort fuhr ich besonders gern; eine Stunde mit dem Fahrrad entfernt, über den Fluss und über verwaiste Landstraßen bis zu einem Baum oberhalb eines verlassenen Kalksteinbruchs, hinter dem ich mich versteckte. Dort hockte ich mit meinem Fernglas und beobachtete Vögel. Die einzigen Vögel, die ich in der Stadt jemals zu Gesicht bekam, waren gewöhnliche Gartenvögel, wie Meisen, Buchfinken, Spatzen und Bachstelzen, aber draußen beim Steinbruch, außerhalb der Stadt, gab es Vögel, die andere Tiere, andere Vögel jagten, aufregende Raubvögel.

Mit meinem Handbuch der Vogelbestimmung für Großbritannien saß ich stundenlang reglos da, bloß um ihren Anblick, ihre Namen und deren Klang wie Talismane zu sammeln. Zahlreiche Bussarde und Turmfalken zischten auf ihrer Jagdroute dort vorbei, glitten in der warmen Luft dahin, schwebten wie Schnorchler an der Wasseroberfläche auf der Stelle und beobachteten, verdrehten die Hälse wie Periskope, brachten sie vor dem Abtauchen in Position, bündelten alle Bewegung für die finale Aktivität. Oder das aufgeregte Schwirren der Habichte, die sich gelegentlich im Tal hinter dem Steinbruch oder auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht zwischen den Bäumen entlangschlängelten, ein- und wieder auftauchten. Manchmal führten die Habichte einen Balztanz auf, spreizten die Schwanzfedern wie Finger und fielen wie greifende Hände durch die Luft.

Doch worauf ich wirklich wartete, waren die Tage, an denen ich einen oder sogar das Paar der seltenen Wanderfalken zu sehen bekam, die in den Bäumen beim Steinbruch nisteten. Sie erfüllten mich immer mit dem Zauber der Hoffnung, wenn ihre winzigen kämpferischen Körper am Himmel kreisten, so klein vor dem Großen, so dunkel vor dem Blau und so frei. In ihrem Himmelstanz trotzten sie der Tatsache, dass sie in bestimmten Regionen bereits ausgestorben waren.


In der Lage zu sein, den Unterschied zwischen diesen Vögeln anhand ihrer Form und ihrer Bewegungen zu bestimmen, auf sie zu deuten und ihre Namen zu nennen, diente mir immer als Bestätigung für die solide Wahrheit der Natur als ein System, das mittels Taxonomie beschrieben werden kann, und rief mir meinen Platz darin in Erinnerung. Und es wirkte beruhigend auf mich; es zeigte mir, dass diese Dinge nach wie vor existierten, weil ich sie sammeln konnte. Dass es immer noch Orte gab, die ich beobachten konnte, und dass ich Teil einer echteren Ordnung war, außerhalb der abgetrennten Zivilisation.

Ich weiß nicht, ob Urla mir anmerkt, dass ich in der Schule zu den Personen gehört habe, die ihre Mittagspause in einer Toilettenkabine verbrachten, mit angezogenen Beinen, damit niemand mich an den Schuhen erkannte. Meine Eltern können mein plötzliches Unabhängigkeitsstreben und den mangelnden Drang nach Sesshaftigkeit nicht mit dem in Einklang bringen, was sie für meine Natur halten: Introvertiertheit und Fügsamkeit. Mein Selbstvertrauen verwirrt sie, und sie glauben, dass hinter diesem Impuls eine Erkrankung stecken muss; dass ich zu viel über Dinge nachgrüble, zu viel fühle, dass ich keine Nachrichten mehr sehen sollte, wenn sie mich so sehr ängstigen, dass ich alles hinter mir lassen will, was ich offenbar als unabwendbaren Zusammenbruch der modernen Gesellschaft ansehe.

Was sie nicht zu verstehen scheinen: Dieser beschränkte Teil meiner Persönlichkeit ist einer der Gründe dafür, warum ich weggehen will; ich möchte lernen, frei davon zu sein. Ich will mir und allen anderen beweisen, dass Abgeschiedenheit nicht nur Mountain Mans Ding ist, sondern auch meins und nicht automatisch Einsamkeit und Vertreibung bedeutet, bloß weil ich eine Frau bin. Meine Suche nach Abgeschiedenheit ist wohldurchdacht und beabsichtigt und war von Anfang an Bestandteil meines Plans. Ich habe meinen Eltern immer gehorcht, war eine Vorzeigetochter. Mum und Dad haben gesagt, ich solle die Schule zu Ende machen und mich anstrengen, also habe ich es getan. Ich habe mich nie in Ärger verwickeln lassen und immer brav mein Gemüse gegessen (tiefgefroren fürs Erntefrischgefühl).

Schon jetzt spüre ich, dass sich etwas verändert. Ich beobachte Urla, wie die Informationen nur so aus ihr heraussprudeln, und frage mich: Liegt es an diesem Projekt, dass sie mich so wahrnimmt? Bin ich diese Person, wenn auch nur aus einem bestimmten Winkel betrachtet? Verleiht mir die Tatsache, dass ich eine Kamera und einen Plan habe, diese Autorität? Oder liegt es einfach daran, dass ich neunzehn Jahre alt bin, weiblich und allein reise? Vielleicht hat sich Kristján in meiner Gegenwart unwohl gefühlt, weil er so etwas wie Ehrfurcht verspürt hat, so wie für Urla, der er nie widerspricht.

Gestern ist Thilda mit uns zu einer Thermalquelle gefahren. Keine von uns hatte daran gedacht, Badesachen einzupacken, also mussten wir in Unterhose und BH ins Wasser. Aber es war nicht weiter schlimm, weil es geregnet hat und außer ein paar Wanderern niemand vorbeikam, und die waren zu weit weg, um Unterwäsche von Badesachen zu unterscheiden.

»Regen ist der beste Zeitpunkt, um zu den Quellen zu fahren, weil die Touristen lieber trocken bleiben. Aber wir Isländer finden, wenn man von unten nass wird, kann man auch von oben nass werden«, hatte Thilda gesagt.

Sie parkte den Wagen dort, wo das Gelände abseits der Straße nicht mehr schräg abfiel, ein Stück von den Quellen entfernt, deren graues Schillern wir gerade erkennen konnten. Der Himmel hing tief wie das Fell eines traurigen, nassen Schafs, der Regen verwischte alle Umrisse zu einem verschwommenen Aquarell, und der moosbewachsene Erdboden umgab die Felsen und das Wasser, leuchtete im Kontrast. Wir zogen uns die Kleider und Schuhe aus, schlugen die Autotüren zu und liefen lachend und kreischend auf das dampfende Wasser zu. Der Regen peitschte unsere Haut rosa.

Wir ließen uns vornüber ins heiße Wasser fallen, rutschten und ruderten mit den Armen, versuchten so weit wie möglich unterzutauchen, raus aus der Kälte, spuckten, husteten und lachten, während uns das Wasser in den Mund lief. Dann beruhigten wir uns, nur unsere Augen und der Oberkopf ragten noch aus dem Wasser, wir blinzelten uns den Regen von den Wimpern und reckten die Nasen wie Seehunde in die Luft. Thilda erzählte uns eine Geschichte.

»Die berühmte Legende von Erik dem Roten handelt in Wahrheit von einer starken Heldin, einer Skörungur, wie wir sie nennen. Ihr Name war Gudrid, die Weitgereiste, sie war seine Frau und lebte im zehnten Jahrhundert.«

Island ist von Sagen und Mystik durchdrungen, weil die Landschaft mit Leben erfüllt ist, als würde sie ihre eigenen Geschichten erzählen. Gletscher wandern, der Boden bewegt sich, Magma sickert, und Geysire brechen aus dem Blasloch eines buckligen Giganten aus – als wären es Lebewesen, die ihre eigenen Erzählungen in Szene setzen. Die isländischen Sagen wurden von den Elementen geformt, weil die Elemente hier überall präsent sind.

Und die Landschaft ist unberechenbar und grimmig. Die Isländerinnen sind starke Frauen, wie Thilda sagt, weil sie von den Wikingern und Eroberern abstammen und weil sie von den eisigen Meerwinden aufgezogen werden, die sie in die Wangen kneifen, von den heißen Dämpfen der Geysire, die sie abbrühen. Und in einem Land, in dem Feuer und Eis miteinander kämpfen und sich wenig um das scheren, was sie umgibt, müssen alle Menschen stark sein.

In der Landschaft verschmelzen die Elemente miteinander, als könnten sie alles ungehindert durchdringen, als gäbe es keine klar umrissenen Konturen. Du spürst, wie sie in dich einsickern, wie sie durch die Algen im Wasser und den Schlamm zwischen deinen Zehen strömen, als nährten sich alle gegenseitig. Du spürst, wie das Beben des Wassers deinen Körper dazu bringt, ihm umgekehrt alles entgegenzustrecken, jedes Haar ein Tentakel. Halb untergetaucht in der heißen Quelle; drinnen und draußen; halb still und warm, halb kalt und aufgepeitscht; Ohren unter Wasser, Augen draußen; das Prasseln des Regens auf der Oberfläche, das Keuchen der Quelle.

Thildas Geschichte ruft ein Gefühl des Wiedererkennens in mir hervor, der Unvermeidbarkeit und Vervollkommnung, als würde etwas einrasten. Als ob man etwas wiederfindet, wovon man gar nicht wusste, dass man es verloren hatte, bis man es wiederfindet und einem klar wird, dass seine Abwesenheit einen die ganze Zeit gequält hat. Ich erkenne es wieder, weil mir seine Antithese vertraut ist – mein eigenes Zuhause und meine Umgebung. Dort wo ich herkomme, gibt es diese Grenzenlosigkeit nicht. Die Natur, die ich kenne, ist zerstückelt und zerstreut.

Unsere Stichstraße in einer Vorstadtsiedlung, errichtet am Standplatz eines ehemaligen Kraftwerks, das noch bis in die achtziger Jahre in Betrieb war. Alle Häuser sehen gleich aus, mit säuberlich gestutzten, rechteckigen Rasenflächen und Fachwerk im Tudor-Stil, kein Unkraut (dagegen gibt es Sprays), alle Straßen tragen die Namen berühmter Schiffe. Unsere Stadt war eine Industriestadt in den Midlands, direkt am Kanal- und Flussnetz gelegen. Es gab ein Kraftwerk, eine Essigfabrik, eine Zuckerrübenfabrik und mehrere Teppichfabriken; in einer davon hat meine Mutter als Sekretärin gearbeitet, während ich in ihrem Bauch war. Das Kraftwerk wurde mit Kohle betrieben und war veraltet, und die Fabriken wurden nach China verlegt, also wurden sie allesamt abgerissen und an ihrer Stelle die Vorstadtsiedlung und ein riesiger Supermarkt erbaut. Meine Eltern fanden eine halbe Autostunde entfernt Arbeit, Richtung Großstadt, und niemand konnte bei uns in seinem Garten Obst oder Gemüse anbauen, weil das Kohlekraftwerk im Mutterboden Radon hinterlassen hatte.

Die Natur, die ich kenne, ist landwirtschaftlich geprägt, ein Raster aus reglementierten Flächen in Privatbesitz, für die Produktion gebändigt. Manche Menschen finden die englische Landschaft schön, und das ist das Tragische daran.


Denn sie spiegelt wider, wie unser kleines Land erbaut wurde, als ein Haufen reicher Männer das bis dahin gemeinschaftliche Land in Parzellen unterteilte, damit es leichter war, das Feld zu bestellen und die Erträge zu steigern. Unsere gemeinsame Wildnis wurde zu Wirtschaftsgut. Auf einer so kleinen Insel sind die Spuren davon schwer zu übersehen: ein monotones Patchwork aus Rechtecken, durch Hecken abgegrenzt. Besonders in den Midlands, wo es kaum Berge, Sumpfland oder andere Flecken widerspenstig unprofitablen Lands gibt und wo gescheiterte Industrie eine Friedhofslandschaft hinterlassen hat, deren Stümpfe notdürftig mit Vorstadt-Prothesen versorgt wurden.

Der Wanderfalken-Steinbruch war der einzige Ort, den ich kannte, der zumindest den Anschein von Wildnis erweckte, von Reichhaltigkeit und Unbegrenztheit. Es ist eine unsichtbare Art der Armut – die völlige Abwesenheit jener komplexen Natur, in die Urla und ihre Mutter hineingeboren wurden.

Gudrid lebte zur Zeit der großen Langschiffe und wütender See. Sie reiste an den Ort, den wir heute Neufundland nennen, der auch meine erste Anlaufstation in Kanada sein wird. Das war lange vor Christoph Kolumbus’ glücklicher Irrfahrt, und Thilda erklärt stolz, auch wenn die Spanier gern behaupteten, die Legenden wären bloß ausgedacht, wüssten die Isländer, wer das neue Land wirklich entdeckt hat. Gudrid war die erste europäische Mutter in der westlichen Hemisphäre.

Sie bekam einen Sohn, den sie Snorri nannte. Aber ihr Clan war klein, er besaß nicht die Waffen der Spanier und wurde von den Eingeborenen verjagt. Oder von den Wilden, wie Thilda sie nennt.

Sie beendet ihre Geschichte mit den Worten: »Gudrid ist weiter in der Welt herumgekommen als alle ihre Ehemänner, die einer nach dem anderen gestorben sind, und sie hat schon früh in der Geschichte bewiesen, dass ein großer Abenteurer keinen Penis zwischen den Beinen braucht.« Ich blicke zu den hohen Bergen hinauf und denke, dass Gudrid sie personifiziert, so wie die Geysire, die Winde und die bedrohlich aufragenden, ausdauernden Vulkane, den bewegten Boden. Und wie viel von Thilda in Urla steckt – und Gudrid in ihnen beiden. Und dieses ganze Durchdringen hat etwas Weibliches. Wie Empfängnis.

Es ist die raue Zartheit einer Landschaft, die zugleich fruchtbar und feindselig ist. Für mich und für meine Reise nimmt es diese Bedeutung an, und ich quieke unter Wasser in die Blasen, weil ich zum ersten Mal das Gefühl habe, genau zu wissen, warum ich genau jetzt da bin, wo ich bin.

Wildnis ist ein weibliches Wort

Подняться наверх