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AUF IN DEN WESTEN, JUNGER MANN

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Urlas und meine Pläne für Grönland haben sich plötzlich auf großartige Weise weiterentwickelt. Urla und Thilda hatten im Geheimen ausgeheckt, uns auf das Boot von Urlas Onkel einzuschleusen. Er heißt Larus, ist Meeresbiologe und beobachtet Wale. Larus hat ein eigenes Forschungsboot und plant, in der Dänemarkstraße, der Meerenge zwischen Island und Grönland, eine Schule Langflossen-Grindwale zu beobachten. Sie hatten mir nichts davon erzählt, falls es nicht klappen sollte, aber es klappt, und in vier Tagen brechen wir nach Grönland auf.

Eigentlich widerspricht es den Vorschriften, weil höchstens zwei Personen an Bord erlaubt sind, aber Urla hat angedroht, sich als blinder Passagier aufs Boot zu schmuggeln, falls ihr Onkel mich mitnähme und sie nicht. Sie wird mich so lange begleiten, bis sie zurückfahren muss, um ihren Sommerjob anzutreten, also teilen wir uns die Doppelkajüte, und Larus schläft im Ruderhaus auf dem Boden. Danach wird Urla weiter mit mir durch Grönland reisen, bis ich einen Weg gefunden habe, um auf Gudrids Spuren nach Kanada zu kommen. Urla wird in Grönland für mich dolmetschen, und sie hat versprochen, die dänischen Untertitel zu erstellen, wenn ich das Rohmaterial für den Dokumentarfilm nachbearbeite. Die Überfahrt wird fünf Tage dauern, weil ihr Onkel Larus unterwegs seine Forschungen anstellen muss, aber so können wir Wale beobachten und etwas über das Verhalten von Langflossen-Grindwalen lernen.

Mich irritiert, wie leicht Thilda Urla wieder losziehen lässt, um mit einer Fremden quer durch ein unbekanntes Land zu reisen, obwohl sie sich nach langer Zeit gerade erst wiedergesehen hatten. Ich nehme an, dass ihr das Vorhaben sicher erscheint, weil wir vermutlich bei ihrem Onkel unterkommen werden und danach bei Freunden der Familie in Nuuk, sobald wir eine Möglichkeit gefunden haben, an die Westküste zu kommen. Vielleicht ist sie es auch gewohnt, dass Urla kommt und geht, schließlich studiert sie im Ausland und hat wegen der Trennung ihr halbes Leben bei ihrem Vater verbracht. Aber es ist ein heftiger Kontrast zu der Reaktion meiner Eltern.

Warum kannst du nicht wie andere Mädchen in deinem Alter sein, warum suchst du dir nicht in der Stadt einen Job und arbeitest dich hoch, oder wenn du schon weggehst, dann zumindest, um zu studieren und etwas aus dir zu machen?

Was haben wir dir getan, dass du so versessen darauf bist, uns zu verlassen?

Wir werden nicht mehr ruhig schlafen, bis du zurück bist.

Wir werden nie wieder ruhig schlafen.

Ich konnte ihnen nicht verständlich machen, dass es unvermeidlich ist, dass ich das Nest verlasse, denn nur dadurch wird die Geschichte der Welt am Laufen gehalten. Die Kinder verlassen immer irgendwann das Nest. Zumindest die männlichen Nachkommen unserer Spezies. Wäre ich ein Junge, wäre mein Fortgehen persönlichkeitsbildend, ein Initiationsritual. Frauen, die fortgehen, verlassen immer. Man male sich bloß die äußerste Steigerung davon aus – die Mutter, die ihre Kinder und ihren Mann zurücklässt. Unnatürlich! Ungeheuerlich! Und der Mann, der so etwas tut? Ich wette, der sucht sich selbstgefällig eine jüngere Frau und zahlt für seine Kinder nur den Pflichtunterhalt.

Urla muss sich Thilda nicht mühsam entwinden, weil Thilda sie gehen lässt. Die beiden sind unangestrengt miteinander verbunden, durch ihre Eigenheiten, eher wie Schwestern als wie Mutter und Tochter. Mir ist lieber, mein Wesen ist klar umrissen, ich weiß, wo es endet und was meine Eigenschaften sind. Ich habe die Nase meines Vaters, die grünen Augen und dunkelbraunen Haare meiner Mutter. Ich habe seine Sturheit geerbt und ihre Neigung, überempathisch zu reagieren, schnell zu weinen. Aber ich gebe mir auch große Mühe, nicht wie sie zu sein.

Wanderfalke; Buchfink; Ringeltaube.

Feld; Hecke; Fluss.

Mutter; Vater; ich.

Wildnis ist ein weibliches Wort

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