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DER SUPERTRENDIGE SPONGE-CLUB

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Wale sind zum Maskottchen ökologischer Verantwortung geworden, zum Symbol unseres Mitgefühls für andere Tiere, weil sie die Vorstellung verkörpern, dass Menschen nicht die einzigen Wesen auf der Erde mit einem Bewusstsein sind. Erst kürzlich haben wir begonnen, das anzuerkennen und uns zu fragen, ob andere Tiere, insbesondere Wale, emotional so weit entwickelt sein könnten, dass sie unsere eigenen emotionalen Fähigkeiten womöglich übertreffen.

So gibt es im limbischen System von Orcas – also in dem Teil des Gehirns, der Emotionen verarbeitet – Regionen, die deutlich größer und komplexer sind als im menschlichen Gehirn. Dort hat sich etwas entwickelt, was sich bei Menschen nicht entwickelt hat. Da Orcas einen so starken sozialen Zusammenhalt haben, vermuten Wissenschaftler, dass dieser Teil des Gehirns an etwas Verrücktem arbeiten könnte, zum Beispiel an einer kollektiven Selbstwahrnehmung. Als könnten sie sich in Echtzeit in andere hineinversetzen, eine Art Mega-Empathie oder Telepathie. Was schrecklich traurig ist, wenn man an Wale denkt, die in Massen stranden: Aufgrund ihres angeborenen Gemeinschaftssinns ist ein Leben abgetrennt von ihrer sozialen Gruppe für sie unvorstellbar. Wie für Frauen!

Waren Scott und seine Männer gestrandete Wale, die mit dem Rest des Schwarms starben, ihr Leben für ihr Königreich opferten, vom Gemeinschaftssinn durchdrungen ihr »Selbst« der Identität des britischen Empire unterordneten?

Ich tippe mal auf nein, weil ich glaube, dass sie nicht den Tod suchten, als sie in den vernichtenden Schnee vordrangen, nicht das Ende ihres Selbst, sondern im Gegenteil Unsterblichkeit (also das konzeptuelle Gegenteil von einem Wal, der durch Selbstmord jegliche individualisierte Vorstellung eines Selbst aufgibt und mit seiner Gruppe stirbt, weil es ohne seine Gruppe kein Selbst gibt). Die Männer in Scotts Expedition strebten danach, sich als Individuen hervorzutun; geehrt, glorifiziert, nie vergessen zu werden. (Bei einem Bienenvolk begatten rund zwölf Drohnen die Bienenkönigin und geben ihre DNA weiter. Nach der Befruchtung explodieren die Drohnen, aber es kann schließlich nicht jeder von sich behaupten, eine Königin geschwängert zu haben.)

Denken wir an Lawrence Oates, der auf Scotts Expedition das Zelt mit den Worten verließ: Ich gehe nur mal raus. Vielleicht hoffte er auf eine Art Kryokonservierung. Vielleicht ging er in Wahrheit nach draußen, um seinen Körper in eine Zeitkapsel zu verwandeln.

Die International Time Capsule Society mit Sitz an der Oglethorpe-Universität in Georgia verzeichnete zu Beginn des neuen Jahrtausends weltweit einen deutlichen Anstieg an Zeitkapselprojekten. Vielleicht weil der Jahrtausendwechsel einen Markierungspunkt in der Tiefenzeit bildet. Vielleicht weil unsere neue Vorstellung von unserem Platz im Universum dazu führt, dass wir uns winzig fühlen, vielleicht weil die Atomenergie wieder im Aufschwung ist.

Was könnte repräsentativer sein als ein vollständig geformtes und kryogen gefrorenes Selbst? Die Sehnsucht, in der Zukunft reanimiert zu werden, ein ganzes menschliches Wesen, das in die unbekannte Zukunft überführt wird. Vielleicht machte Lawrence Oates in Wahrheit einen auf Präsident Carter.

In Shark Bay, Australien, hat sich eine Gruppe von Delphinen zu einer kleinen Clique zusammengeschlossen, in die man nur aufgenommen wird, wenn man ein sogenannter »Sponger« ist. Der »Sponge-Club« wurde von einem Delphinweibchen ins Leben gerufen, das Sponging Eve getauft wurde; sie hatte einigen ihrer Freundinnen beigebracht, wie man einen Schwamm auf der Schnauze trägt, damit man sie sich bei der Futtersuche auf dem steinigen Meeresgrund nicht aufschürft. Sponger geben sich tatsächlich nur mit anderen Spongern ab oder mit Delphinen, die den Schwammtrick ebenfalls erlernen wollen. Bei Menschen bezeichnen wir dieses Verhalten als kulturelle Übertragung. Bis auf einen Delphin sind alle Mitglieder des Sponge-Clubs Weibchen; sie scheinen größeres Geschick darin zu besitzen, Beziehungen zu pflegen, und sind somit für die kulturelle Übertragung geeigneter. Wahrscheinlich hängen die Männchen währenddessen am Rand der Gruppe herum, schikanieren andere Männchen und machen einen auf Macho.

Die Erkenntnis, dass Errungenschaften wie Kultur, die bisher als typisch menschlich galten, auch anderen Tieren zu eigen sind, verwischt die Grenzen unserer äußerst akkuraten Klassifizierungslehre. Doch esoterische Betrachtungsweisen verfälschen die Wissenschaft; die Diskussion darüber wird häufig erschwert durch mystifizierende und sentimentale Darstellungen der Tiere.

John Lilly ist dafür mitverantwortlich. Seine unorthodoxen Experimente mit Halluzinogenen und seine Obsession, die Sprache der Delphine zu dekodieren, um sich mit ihnen unterhalten zu können, hat die Delphinforschung als Pseudowissenschaft in Verruf gebracht. Zudem hat er die Sache von der falschen Warte aus betrachtet. John Lilly stufte Sprache als höchste Form von Intelligenz ein, als wären wir den Tieren auf der Messlatte des Fortschritts voraus, als hätten sie sich noch nicht so gut wie wir an die maßgeblichen Erfordernisse angepasst, die ihre Umwelt an sie stellt. Er platzierte Menschen immer noch außerhalb der übrigen Lebewesen und hielt nach dem nächstbesten Anwärter Ausschau, um ihn in unser erhabenes Reich einzuladen. John Lilly war Narziss auf der Suche nach seinem Spiegelbild.

Die Auffassung, dass Menschen auch nur Tiere sind, ist bei Kindern vermutlich schon angelegt; sie empfinden Tieren gegenüber Empathie, weil sie sie als pelzige, schuppige oder gefiederte Menschen ansehen. Doch natürlich ist das kindliche Verständnis von der Tierwelt nicht perfekt, weil sie menschenähnlichem Verhalten die Bedeutung zuschreiben, die es bei Menschen hätte.

Als kleines Mädchen habe ich SeaWorld besucht und jede Sekunde davon genossen. Ich dachte, die Wale seien glücklich und dick mit ihren menschlichen Trainern befreundet. Von einem superfröhlichen Ort wie Florida, wo der Orangensaft und Micky Maus erfunden wurden, erwartet man, dass er seine Tiere gut behandelt. Und sie schwimmen in den riesigsten Becken, die man je gesehen hat, und machen ihre Kunststücke von Herzen gern – sieh dir nur an, wie sie springen und lächeln und planschen, offensichtlich ein Ausdruck der Freude und Begeisterung.

JUCHUUUUU, so der innere Monolog des Delphins. Und die Wale sind zwar weit weg von zu Hause, aber sie haben einander und sind eine Familie. Sie bekommen den köstlichsten Fisch, die beste Versorgung, lustige Spielzeuge und Stimulation von Menschen, was sie in der Wildnis nicht hätten, und sie sind vor den fiesen japanischen Wilderern in Sicherheit. Die Show mit dem Wal Shamu gibt es schon ewig, also müssen die Wale ein langes, glückliches Leben in Gefangenschaft führen.

Nie wäre man auf den Gedanken gekommen, dass der große Wal, den sie am Ende der Show für den Big Splash herausholen, in Wahrheit nicht Shamu heißt und noch viele Menschen töten wird. Er ist emotional völlig traumatisiert, weil Menschen ihn masturbiert haben, um sein Sperma für mehrere Millionen Dollar zu verkaufen, und weil er in einem Betonbecken eingesperrt lebt – mit Fremden, die seinen Waldialekt nicht sprechen und ihm Bisswunden zufügen, weil er anders ist als sie.

Wale sind ausgesprochen soziale Wesen. Sie verständigen sich mit verschlüsselten Klicklauten. Wir können nicht entschlüsseln, was sie einander mitteilen, aber sie scheinen Muster zu wiederholen. Die Klicklaute dienen offenbar dem sozialen Austausch. Wenn Wale überhaupt etwas sagen, dann vielleicht HALLO HALLO HALLO, in ihrem spezifischen Dialekt. Möglich, dass die traurigen Wale in Gefangenschaft einfach immer wieder HALLO HALLO HALLO sagen, weil sie die Dialekte der anderen nicht verstehen.

Wale sind im Kampf gegen das Patriarchat die Verbündeten der Frauen, weil das Patriarchat die Wale so wie uns kleinhält. Orcas reisen in der Gruppe ihrer Mütter. Die griechische Wurzel des Wortes Delphin, delphýs, bedeutet Gebärmutter.

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