Читать книгу Fern von hier - Adelheid Duvanel - Страница 54

Der Abstecher

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Stämpfli Max, der von der Insel, auf der er zwanzig Jahre lebte, zurückgekehrt war, erzählte von den Alten Zeiten. Er sprach vom Greis, der mit Bleistiften, deren Spitze abge­brochen war, unermüdlich Geisterschrift geschrieben hatte, Briefe oder Gedichte, die niemand, selbst der Alte nicht, hatte lesen können. Als Kinder hatten sie ihn verspottet. «Er wollte nach dem Tod seiner Frau», sagte Stämpfli Max, «die Augen nicht mehr anstrengen; sie waren auf die weiße Leere gerichtet, die er überschreiben, die er mit Worten zudecken wollte, aber er vermochte es nicht.»

Stämpfli Max und die Frau seines toten Schulfreundes saßen am hohen Bogenfenster. Die Tanne im Garten, die der Sturm gebrochen hatte, war gestern weggeräumt worden; nur ihr Stumpf ragte noch aus der zerwühlten Erde. Überraschend war der Blick über die Ebene frei geworden. Blumen lagen zerfetzt und Sträucher stützten sich gegenseitig. Die Autos, die sich auf der fernen Straße im Gänsemarsch fortbewegten, schienen auf der Suche nach einer saftigen Weide; die alte musste verdorrt oder abgegrast sein. Der Abend schleppte müde seinen mattgoldenen Mantel über die Wolkenklippen und sprang in das Rauschen der Nacht. Stämpfli Max trank einen Schluck Wein und leckte sich den ergrauten Schnurrbart, den er wie sein lockiges Haupthaar wild wuchern ließ. Er war ein kurzer, breiter Mensch, ein Bildhauer mit mäßigem Talent und wenig Erfolg. «Auch ich bin seit dem Tod meiner Frau wunderlich geworden», sagte er mit einer gewissen Behäbigkeit. Er wusste, dass er gut und sicher formulierte, aber er saß während des Sprechens unbewegt da – auch seine Stimme hob und senkte sich nicht, und seine Augen erloschen. «Wünsche oder Befürchtungen verstecken sich zum Beispiel blitzschnell in Gegenständen und beseelen sie. Sie offenbaren sich mir in verlogenen Gebärden; sie zeigen sich maskiert; ihre Maskierungen wollen erkannt sein. Es kommt vor, dass die Türfalle der Eingangstür meines zerfallenden Hauses abbricht und in meiner Hand zurückbleibt, wenn ich am Abend überprüfen will, ob die Tür auch wirklich verschlossen ist. So überfällt mich flüchtig und schreckhaft der Eindruck, ich könne die Tür nie mehr öffnen; meine Angst vor der Einsamkeit zeigt sich mir in einem kurzen Augenblick und verflüchtigt sich sogleich wieder, denn natürlich merke ich, dass die Falle sich noch immer an der Tür befindet. Oder ich sehe – ebenfalls in Sekundenschnelle –, dass die Wand eines Zimmers sich neigt und auf mich zu stürzen droht; die versteckte Angst, auf jener Insel unter den Trümmern meiner Hoffnungen für immer begra­ben zu werden, tritt auf diese Weise in mein Bewusstsein.»

Die Frau lauschte schweigend; Schatten versenkten ihr Gesicht. Plötzlich hörte er ihre Stimme wie das Flüstern von Blüten im Wind: «Mein Haus ist meine Insel. In der Todesanzeige, die von Karls Arbeitgeber in der Zeitung veröffentlicht worden war, las ich: ‹Während über zwanzig Jahren hat Herr Wagner seine ganze Kraft und sein Können in den Dienst unserer Bank gestellt.› Nun erst begann ich zu weinen. Der Hass auf ihn und auf alle steigt manchmal in mir hoch wie Brechreiz, bleibt beim Herzen stehen und versetzt ihm Stöße.» Nach einer Weile setzte sie hinzu: «Siehst du den Mond? Er ist wie ein Katzenauge; einmal eng, einmal weit. Er belauert uns.» Sie saß ein wenig zur rechten Seite geneigt; den Arm hatte sie auf der Lehne des Sessels aufgestützt. Während der Gesprächspausen klemmte sie ihre Lippen zwischen Zeige- und Mittelfinger der mit der Innenfläche nach außen gedrehten Hand. Stämpfli Max erinnerte sich, dass sie vor ihrer Heirat Tänzerin gewesen war und als junges Mädchen den Ehrgeiz gehabt hatte, zu verhungern; dies war ihr als höchste Seligkeit erschienen. Sie war damals ein schönes Mädchen mit einer großen Nase, die sie aber später durch eine Operation verkleinern ließ, da Karl über die Nase gerne Witze machte. Nun hatte sie sich eingeschlossen in den Mauern der Nacht; keine Ritze, keine Luke ließ Licht hereinschimmern. Er erkannte sie nicht mehr. Er fühlte, dass sie dabei war, die Erinnerungen an einem geheimen Ort ihres Herzens zu verscharren. Die Bilder der Vergangenheit hatten ihm aus jener Welt geleuchtet, die klein ist wie das Nadelöhr und groß wie das Tor zum Paradies; diese Bilder hatten sein Herz erwärmt und erhellt und seinen Gedanken, die für einige Augenblicke leicht, ja, schwebend schienen, Süße verliehen. Nun herrschte Finsternis, und Kälte drang ins Zimmer.

Verwirrt wie einer, der Zeuge war, als eine Blume in weni­gen Sekunden ein Wasserglas leertrank, erhob er sich und verließ die Frau, um das Schiff zu erreichen und auf seine Insel zurückzukehren. Dort sagte er zu seinem Papagei: «Ich habe einen Abstecher gemacht.»

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