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Fräulein Heim

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Die Lampe auf Fräulein Heims Pult, das in einer Ecke stand und durch Tageslicht wenig beleuchtet war, brannte nicht. Man bedeutete Fräulein Heim, ein Herr Kinkelmann oder Hunkelmann ersetze die defekte Birne; sie ging zu dem Herrn, der eine Ärmelschürze trug und ihr eine neue Birne gab, die Fräulein Heim jedoch nicht in die Lampe einschrau­ben konnte. Fräulein Heim suchte den Herrn abermals auf, doch der sagte, er sei nicht Herr Kinkelmann, obwohl die Ärmelschürze dieselbe war. Er zeigte Fräulein Heim, dass ein Ring, der an der defekten Birne angebracht war, an die neue gesteckt werden müsse; doch auch mit diesem Ring konnte Fräulein Heim die neue Birne nicht in die Lampe schrauben; sie arbeitete im Halbdunkel.

Als Fräulein Heim um zwölf Uhr aus dem Büro auf die Straße trat, hatte sie den Eindruck, Spinnen webten ein dichtes Netz von Dach zu Dach. Im Gartenrestaurant, wo sie das Mittagessen einnahm, setzte sie sich unter einen roten Baum, der inmitten von grünen Bäumen stand. Sie äugte durch ihre große Brille und hatte dabei einen Ausdruck im Gesicht – nicht hart, nicht vulgär, aber furchtbar, als ob sie etwas Entsetzliches erlebt hätte. Ein junger Mann mit Pferdeaugen trat auf sie zu und fragte, ob der Platz neben ihr noch frei sei; Fräulein Heim bejahte, dann aber sah sie, dass der Mann den Stuhl, nicht den Platz meinte, denn er trug den Stuhl fort an einen andern Tisch. Fräulein Heim saß dort viele Stunden und rauchte. Sie dachte daran, dass Hirten die Gesichter von Tieren lesen können. Wer die Gesichter von Menschen liest, gerät manchmal ins Stottern. Die Fähigkeit von Fräulein Heim, Gesichter wiederzuerkennen, war sehr beschränkt. Sie stellte sich vor, dass es vielleicht leichter sei, Rosen vonein­ander zu unterscheiden als Menschen. Sie lebte jeden Tag nur für wenige Stunden oder Minuten; dann nahm sie Konturen wahr; den Rest des Tages, den größten Teil des Tages hing sie wie eine noch nicht abgebetete Perle eines Rosenkranzes im Leeren, wanderte fühllos, bis der Beter sie hochzog, zwischen die Fingerspitzen nahm und leicht drückte. An den gestrigen Tag zum Beispiel konnte sie sich nicht erinnern; sie wusste nur noch, dass am Abend die Menschen, darunter auch Kinder, von acht bis halb elf Arm an Arm, Rücken an Bauch am Brückengeländer und an beiden Ufern des Flusses standen und auf ein Feuerwerk warteten. Plötzlich erblühten und welkten große Bäume aus farbigem Licht.

Wenn sie sich an den vorgestrigen Tag erinnern wollte, musste sie nachschauen, was sie in ihrer Agenda notiert hatte; da standen der Name und die Adresse einer Firma. Ja, sie hatte sich in einer Firma für Beleuchtungskörper vorgestellt. Sie wollte sich verändern, wie sie in einem Stelleninserat kundtat. Die Eingangshalle war leer: Kein Mensch, kein Stuhl, nichts befand sich dort – nur ein Telefonhörer, den der Eintretende abheben musste; eine Stimme wies ihr den Weg. In einem Großraumbüro, das mit Neonlicht erhellt und mit dunkelgrünen, glänzenden, südlichen Pflanzen (Plastik?) ver­stellt war, saßen die Arbeitenden hinter halbhohen, orangefarbenen Wänden, die unzählige kleine Zellen abteilten. Man hörte nur, wie an Telefonen leise gesprochen wurde. Die Per­sonalchefin stellte lächelnd Fangfragen; Fräulein Heim war von Anfang an klar, dass sie die Stelle nicht bekäme, nicht bekommen wollte. Lieber wollte sie verhungern: auf frosthartem Grund hockend, über ihr das Glas des Himmels, in dem sich nichts spiegelt.

Vereinzelt saßen noch Gäste an wenigen Tischen, als Fräulein Heim aufstand und davonging, nach Hause, um ihr langes Kleid anzuziehen. Um acht Uhr abends betrat sie den Konzertsaal; man hörte dort die Straßenbahn: Während Papa Haydn im Feuerwagen über die Köpfe der Zuhörer rollte, ratterte die Straßenbahn unter den Stuhlreihen durch; Fräulein Heims Stuhl zitterte. Fräulein Heim mochte den Dirigenten; sie bewunderte seine Eitelkeit, liebte die abstrakten Gemälde, die er mit seinem Taktstock in die Luft malte; er malte und tanzte gleichzeitig. Als die ungeduldigsten Zuhörer schon am Ausgang drängelten, stand Fräulein Heim immer noch vor ihrem Stuhl und klatschte langsam in die Hände; die Brille war auf ihre Nasenspitze gerutscht und Tränen liefen über ihr Gesicht; es war ihr, als beklatschte sie die Schrecknisse der gewöhnlichen Tage.

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