Читать книгу Fern von hier - Adelheid Duvanel - Страница 55

Kavalier

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Der magere Jochen möchte Isländer sein; er stellt sich vor, dass er dann das Recht hätte, zu schweigen und zu fischen.

Gedanken wie Blattgerippe: Veronika hält sie dem mageren Jochen vor; am Stiel. Sie dreht sie, wirbelt sie. Er weiß, dass sie als Kind viel gelitten hat. Man hat sie im Suppentopf gekocht, man hat sie geschält, man hat sie am Baum vor dem Haus aufgehängt; ein Rabe hat sie aufgefressen, wieder ausgespuckt. Noch immer lebt sie. Aber nein, natürlich wurde sie nicht im Suppentopf gekocht; man hat sie, abwechselnd, mit brühheißem und eiskaltem Wasser übergossen. (Die Vorstellung, dass es ihrer Katze gut geht, wenn sie durchs Quartier streift, sollte sie glücklich stimmen. Und dass die Katze nachher vor der kalten Zentralheizung sitzt und sie anbetet – vermutlich in der Erinnerung an den Winter, wenn der Heizkörper heiß ist.) Der magere Jochen beneidet Veronika; sie kann die kleine Tippmaschine am Bankschalter an der Grenze, wo die Leute Geld wechseln, flink bedienen. Sie rechnet im Nu, begreift immer, was die Bankkunden wollen. Auch der magere Jochen hat seine Vorzüge: Er erkennt die Busstationen, wenn er gewisse Orte in der Stadt aufsucht – zum Beispiel die am Arbeitsamt, an der Krankenkasse oder an der Volkszahnklinik. Er weiß, welche Gesichter die Häuser an welchen Stationen machen, wenn er auch die Gesichter nicht beschreiben könnte; es sind keine Einzelheiten, die ihm im Gedächtnis haftenbleiben. Die Häuser gruppieren sich immer ein wenig anders, die Bilder wechseln; eigentlich sind es verschwommene Zeichen, die ihm bedeuten: Jetzt bist du da, jetzt bist du – für eine Weile – angekommen.

Veronika und der magere Jochen leben in einem Betonhaus, dem hässlichsten Haus der Straße, im Parterre. Die Geräusche im Mietshaus sind aufdringlich: die Glocke, der Türöffner, die Fernseher, Schritte und Stimmen. Der Autolärm hinter dem Fenster ist laut, unaufhörlich, unhöflich. Der Himmel bildet ganz oben am Fenster einen gezackten, blauen oder grauen Rand; die Zacken entstehen, weil spitze Dachfenster wie winzige Häuser auf den schrägen Dächern stehen. Wer dahinter wohnt, kann man nicht ahnen. Der magere Jochen und Veronika sehen den Himmel, wenn sie sich bücken; sie bücken sich, um zu schauen, ob es regnen wird.

Sie nehmen das Mittagessen in einem dunkeln Restaurant ein, das keinen schlechten Ruf hat. Veronika trinkt zu viel Weißwein, raucht zu viel und spricht nicht wenig, aber im Restaurant schreit sie nicht oder nur selten. Immer am gleichen Tisch sitzen zwei Frauen zwischen vierzig und fünfzig und haben sehr enttäuschte Gesichter. Der magere Jochen nimmt sich am zweiundzwanzigsten April nach dem Mittagessen vor, am Abend seinen Wecker und seine Schlafpillen in einen Papiersack zu legen und mit dem Bus in ein stilles Hotel zu fahren, um dort zu wohnen. Er wird mit seinem Wecker reden; der Wecker heißt Kavalier und weckt ganz sanft, mit zupfenden Tönen; wenn man den Wecker nicht abstellt und einfach weiterschläft, beginnt er zu schrillen. Der magere Jochen erwacht immer schon beim ersten, sanften Stupfen; es ist, als ob der Wecker ihn mit den Tönen betupfen würde. Übrigens ist Veronika nicht allein, wenn er sie verlässt; sie hat eine große, eine mächtige Freundin, die ihr jedes Mal, wenn sie Veronika erblickt, aus einer kleinen Flasche Parfum an den Hals spritzt und dann fragt: «Du willst doch?»

Nein, der magere Jochen wird Veronika nicht verlassen, weil er sich ihre Rabenaugen nicht nur vorstellen will – wie sie aussehen, wenn sie lacht oder lächelt oder weint, und ihr Rabenhaar, durch das er mit allen fünf Fingerspitzen der rechten Hand auf die Kopfhaut drückt. Er erschrak einmal, als er sah, dass ihre Kopfhaut weiß ist; er hatte sie sich schwarz vorgestellt.

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