Читать книгу Fern von hier - Adelheid Duvanel - Страница 59
Das Foto
ОглавлениеDie Fenster sind verschieden groß, und das Dach ist auf der einen Seite steiler als auf der andern. Mitten auf der geteerten Straße, die vom Haus zum Fluss führt, ist eine lange, schwarze Bremsspur zu sehen. Der kleine Hermann mit dem weißblonden Haar, das wie eine Perücke aussieht, die über seinen Kopf gestülpt wurde, stellt sich den Fluss doppelt so breit vor, als er ist; er versucht zu denken, der Fluss sei ein Strom, obwohl er noch nie einen Strom gesehen hat. Der Fluss befördert wie ein grünes Fließband zwei Enten. Ob sie mit den Füßen rudern, obwohl sie weggetragen werden? Lange steht Hermann am Ufer und isst ein Stück Brot; er kaut auf der linken Seite, weil auf der rechten ein Zahn wehtut. In der Straße daheim scheint das Vogelgezwitscher aus Lautsprechern in den Autolärm gestreut zu werden; hier sind die Vögel wirklich: eine Elster wohnt im Garten. Hermann denkt, sie sammle in ihrem Nest Fünfliber, Stanniolpapier und Ohrringe.
Hermann ist bei den Großeltern in den Ferien; am Abend schlafen sie vor dem Fernsehapparat ein: die Großmutter mit zurückgelegtem, der Großvater mit gesenktem Kopf. Hermanns Mutter besitzt keinen Fernsehapparat; sie hört Radio mit Kopfhörern, während sie liest, immerzu liest. Einmal hat sie ein Blatt Papier genommen und mit blauem Filzstift in großen Buchstaben darauf geschrieben: «Ich will nicht mehr leiden, ich will nur noch überleben», und das Papier mit vier Reißnägeln neben ihrem Bett an die Wand geheftet. Einige Wochen später hat sie das Papier entfernt und ein neues angebracht, auf dem stand: «Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut.» Aber auch diesen Zettel warf sie wieder fort. Sie hat vom Erben eines Buchantiquars Bücher gekauft; sie lagerten in einer Garage, von wo Hermann und die Mutter sie mit einem Handkarren in die Wohnung brachten. Jeden Samstag verrichteten sie diese mühselige Arbeit, bis die vielen Schachteln mit den staubigen Büchern ein Drittel des Wohnzimmers versperrten. Die Mutter und Hermann sind nun wie in einem Güterwagen eingesperrt, der auf einem Nebengleis steht, weil man vergessen hat, ihn an die Lokomotive zu hängen; die Hausfassaden hinter den Fenstern bewegen sich nicht, aber im Kopf der Mutter tanzt die ganze Welt vorbei. Hermann bleibt allein; es beißt ihn im ganzen Gesicht – das kommt vom Staub der Bücher.
Gestern hat die Großmutter gesagt, als sie Hermann weckte und Hermann aus einem Traum heraus schrie: «Schrei mich doch nicht an.» Und gestern hat der Großvater einen Fotoapparat gekauft und blickt nun nach dem Mittagessen lange Zeit in den Sucher; dann muss Hermann seinen Stuhl näher zum Stuhl der Großmutter rücken. Die Großmutter, die sich vor dem Spiegel im Korridor gekämmt hat, stellt die Kaffeekanne beiseite und die Vase mit den Blumen in die Mitte des Tisches. Der Großvater befiehlt Hermann, den Kopf nicht zu senken und zu lächeln. Als der neue Fotoapparat dann plötzlich ein Papier ausspuckt, das der Großvater auf den Tisch legt, ist noch kein Bild darauf zu sehen; das Foto entsteht ganz langsam. Die Großeltern betrachten es aufmerksam. Die Großmutter entdeckt auf dem Foto, dass eine Schublade der Kommode nicht ganz geschlossen ist, und der Großvater versteht nicht, weshalb die Vorhänge im Hintergrund schwarz statt rot sind. Aber da der fotografierte Hermann lächelt, finden die Großeltern das Bild nett. Später, während die Großmutter das Geschirr wäscht und der Großvater das Tischtuch aus Plastik sorgfältig zusammenfaltet, zerknüllt Hermann das Foto langsam mit beiden Händen.