Читать книгу Sieh ihnen nicht in die Augen - Ein Schweden-Krimi - Aino Trosell - Страница 10
ОглавлениеDie Dämmerung war immer tiefer geworden, und ein paar vereinzelte Schneeflocken tanzten um meine brennende Außenlampe. Ich stieg aus dem Auto und ging zur Vortreppe. Sie stand dort bereits im Dunkeln und rührte sich nicht. Sie glaubte wohl, ich sehe sie nicht, und wollte mich ein bisschen erschrecken.
Doktor Watson I presume, sagte ich dumpf. Sie lachte. Of course – at Your service Mrs. Holmes. Sie trat ins Licht und half mir mit den Tüten.
Ja, wir waren richtig listige Kumpane geworden. Doktor Watson passte gut – meist war sie es, die mir zuhören musste. Sie war eine gute Zuhörerin und eine gute Analytikerin, eigentlich sollten wir beide in Ministerien und Ausschüssen sitzen und unsere jeweiligen Talente nicht an Klobrillen und schlüpfrige Häute verschwenden. Aber jetzt war es nun mal, wie es war.
Solange ich selbst in der Gerberei gearbeitet hatte, war meine Beziehung zu Maja nicht sonderlich eng gewesen, sie war eine der anderen, damals hielt ich mich meist an Katarina. Doch nachdem Letztere glücklich mit einem Baggerführer aus Gävunda zusammengekommen war, bestand nicht mehr dasselbe Bedürfnis nach mir. Maja hingegen hatte mich mehrmals zum Kaffee eingeladen, und jetzt waren wir Freundinnen der guten, alten Sorte.
Auch heute begannen wir mit Kaffee, und dann machte ich mich ans Kochen, während Maja auf der Küchenbank saß und ihr Mundwerk laufen ließ. Es war gemütlich und lustig, Maja war eine wunderbare Person. Sie war ein paar Jahre jünger als ich, runder und kleiner und viel fröhlicher, zumindest nach außen hin. Sie hatte blonde, halblange Haare, und ihr Gesicht war offen wie das eines Kindes. Sie war eigentlich sehr hübsch, die Augen waren ausdrucksvoll und schön. Sie versuchte ständig abzuspecken, aber war darin genauso erfolgreich wie ich. Doch wenn der Schnee erst verschwunden wäre, dann. Wir würden Sport treiben, hatten wir beschlossen. Aber bis dahin waren es noch mehrere Monate, und in der Zwischenzeit tranken wir Kaffee und aßen ein paar Muffins, manchmal, wenn es schnell gehen sollte. Einer mehr oder weniger spielte ja wohl keine Rolle, und etwas musste man sich schließlich gönnen. Außerdem hatten wir beide eine Menge Bewegung in unserem jeweiligen Job, wir liefen herum und wienerten, zogen und hoben, fielen auf die Knie, wuchteten und trugen, streckten uns, krochen, eilten und klopften aus, sitzen konnten wir nur in den Pausen. Es war tatsächlich ein Wunder, dass wir nicht klapperdürr wie die Models waren.
Maja lebte allein, aber sie hatte eine Tochter, genau wie ich. Ihre Tochter befand sich jedoch in einer psychiatrischen Klinik, und dieses Trauma war das Einzige, über das wir nicht anders als oberflächlich sprachen. Majas offene Wunde. Ich hätte gewünscht, dass sie auch darüber reden wollte, aber das tat offenbar zu weh. Durch frühere Arbeitskollegen war mir jedoch die ganze Hintergrundgeschichte bekannt. Die erklärte auch, warum da kein Mann existierte. Denn es hatte einen gegeben, und der war nicht gerade ein Traumprinz gewesen.
Sie hatten in der Gerberei in verschiedenen Schichten gearbeitet, weil das für die Tochter das Beste war. Nur hatte er das Mädchen missbraucht, seine eigene Tochter, hatte sie jahrelang sexuell missbraucht, sodass sie jetzt ein neunzehnjähriges psychisches Wrack war.
Als Maja schließlich die furchtbare Wahrheit begriffen und ihn angezeigt hatte, war es zur Inhaftierung, zum Prozess und totalen Skandal gekommen, und Greger, wie er hieß, war für das, was er getan hatte, zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Aber das Thema war tabu. Obwohl die ganze Gegend davon wusste, und obwohl ihr das natürlich klar war und sie daher auch wusste, was man redete, wenn sie nicht anwesend war. Dennoch hatte sie nicht darüber sprechen können. Die Tür war geschlossen worden, und so war es noch immer.
Maja wurde vermutlich von heftigen Schuldgefühlen geplagt, weil sie nicht viel früher verstanden hatte, was da ablief. Bestimmt war das der Grund, weshalb sie nicht darüber reden konnte. Das Reden war doch sonst eine Erleichterung. Sobald man einer wohlwollend eingestellten Person von einem Problem berichtet hatte, konnte man doch viel besser damit umgehen. Man hatte es in Worte gekleidet. Worte ließen die Wirklichkeit schrumpfen, man konnte sie einkreisen und damit bändigen. Sie sollte mit mir über das Entsetzliche reden, was ihre Tochter psychisch krank gemacht hatte. Ich hoffte, dass es allmählich dazu kommen würde, ich wollte ihr so gern helfen.
Allerdings behauptete Maja, ich sei diejenige, die ihr tatsächlich helfe. Du bist meine beste Freundin, sagte sie oft. Der Grund war, dass ich ihr manchmal mein Auto lieh, eben damit sie nach Säter fahren und die arme Viktoria besuchen konnte. Sie wollte den Wagen jetzt wieder ausborgen, in Kürze. Natürlich, nimm ihn nur – ich brauche ihn doch bloß, wenn ich zur Arbeit muss, erwiderte ich.
Ich erzählte von meiner Chance zum Aufstieg. Maja gratulierte mir, und ich spürte, es kam von Herzen.
Plötzlich erkannte ich, dass es nicht so einfach werden würde, falls diese Sache mit der Hausdame tatsächlich Wirklichkeit wurde. Mit Maja auf der Küchenbank begriff ich unvermittelt, dass meine Position in diesem Fall viel Einsamkeit mit sich brachte. Kein lärmendes Frühstück zusammen mit kunterbunten Arbeitskollegen mehr, nein, in diesen Momenten rannte Ingalill immer umher, voller Panik, dass nicht alle Zimmer geschafft werden könnten. Ich käme um die ganz konkrete Scheiße herum, aber landete in einer anderen Scheiße – der des Antreibers. Auch wenn Ingalill uns äußerst selten antrieb, so war das doch die ganze Zeit zu spüren. Wollte ich da wirklich hin?
Natürlich, klar – die Isolierung des Dachbodens! Und die unterste Balkenlage! Ich ließ meine Bedenken fahren und lächelte fröhlich einer sonnigen Zukunft entgegen, im adretten Hausdamenkostüm und mit Entscheidungsweg direkt zur Chefin. Finanzielle Sicherheit war wirklich wichtiger als eine brüchige Gemeinschaft mit ausländischen Arbeitskollegen, bei denen man nicht immer wusste, woran man mit ihnen war. Und meine beste Kollegin Dunja würde nach Saisonende bestimmt nach Tensta zurückgehen, es war absolut nicht sicher, dass ich sie jemals wiedertraf. Auch die anderen verschwanden bestimmt nach und nach, sobald sie eine ständige Aufenthaltserlaubnis erhalten hatten und so viel Schwedisch konnten, dass es anfing interessant zu werden, ihren Geschichten zu lauschen.
Während des Essens erzählte ich von dem Bootsunfall auf der Piste und von Jelena, deren heimliches Gefummel am Putzwagen am Nachmittag seine Erklärung gefunden hatte. Wir waren gerade dabei, den Wagen neu zu bestücken, als ich plötzlich begriff, worum es sich handelte. Jelena roch nach Alkohol. Eine diskrete Untersuchung bestätigte, dass übrig gebliebene Alkoholreste aus den Abreisezimmern in einem Glas gelandet waren, das in einem zusammengerollten Badehandtuch ganz unten auf dem Wagen stand. Zur weiteren Beförderung in Jelenas Kehle. Das ist ja ein Ding, stieß Maja sensationslüstern hervor. Fand ich auch, erwiderte ich. Aber sie hat wirklich überraschend gut gearbeitet. Ein bisschen fahrig war sie zwar, aber das kann man so spät am Nachmittag ohnehin werden.
Was willst du tun, fragte Maja. Ich überlegte, hatte keine Ahnung. Ich sollte natürlich mit Jelena reden, aber vielleicht wurde sie dann wütend oder würde alles abstreiten. Dann stände ich vielleicht da. Mit Ingalill zu reden kam überhaupt nicht infrage.
Aber was, wenn ich nun selbst bald diese Ingalill war – würde ich dann nichts davon erfahren wollen?
Maja lachte vergnügt.
Das tat ich nicht.
Du wirst Boss, Siv, sie ließ die Handfläche auf den Tisch klatschen und fand es wirklich spaßig, ich glaube, ich werde mich dort oben bei dir anstellen lassen, Siv, das kann lustig werden!
Ich erklärte voller Ernst, ich würde beweisen, dass man Vorgesetzte sein konnte, ohne mit dem eigenen Gewissen in Konflikt zu geraten. Wenn es also dazu kommen würde. Bisher war das Ganze nicht viel mehr als eine Möglichkeit. Das geht nicht, konstatierte Maja. Du musst dich für eine Seite entscheiden. Du kannst nicht zugleich auf zwei Stühlen sitzen.
Ich werde beweisen, dass es geht, antwortete ich, aber jetzt reden wir von etwas anderem. Maja kicherte schadenfroh.
Das Essen war gut. Während wir uns beide ein zweites Mal auftaten, erhielt ich die letzten Berichte von den Kalktrommeln und der Enthaarung. Die Leute ackerten und waren loyal. Das Durchschnittsalter erreichte langsam eine ziemliche Höhe, aber Krankschreibungen gab es nur wenige. Es schien schwer zu sein, die Rentabilität richtig anzukurbeln, und keiner wagte es, sich sicher zu fühlen.
Danach nahmen wir uns die nähere Umgebung für einen Lagebericht vor, aber da war nicht viel passiert. Also blieb uns nichts weiter übrig, als in die Berge und zu der bevorstehenden Konferenz zurückzukehren. Die Sache würde hart werden, besonders für mich, die ich Ingalill versprochen hatte, ihr Stand-in und verlängerter Arm zu sein, ich musste mich von früh bis spät bereithalten. Aber es würde auch Spaß machen. Ich wäre für sämtliche Erfrischungen in der Kongresshalle verantwortlich. In manchen Pausen sollte es Obst und Mineralwasser geben, in anderen Kaffee und Kuchen. Man würde mir bestimmt eins von den Frühstücksmädels zur Seite geben, und irgendwie fühlte ich mich ein bisschen aufgeregt. Zwar hatte ich gesehen, wie die Sache im vorigen Jahr gelaufen war, aber jetzt würde ich selber mitten im Schlamassel stehen und die Verantwortung tragen.
Auf einer solchen Konferenz sind ja wohl hauptsächlich Männer, sagte Maja. Das hört man schließlich schon an dem Namen, Verteidigung, das ist ja wohl das Männlichste, was man sich vorstellen kann.
Ich erklärte, dass dennoch ein paar Frauen kommen würden, angefangen bei der Zivilen Fahrbereitschaft und dem Lotta-Verband, also den freiwilligen militärischen Frauenhilfsdiensten, bis zu Politikerinnen, heutzutage gab es sogar weibliche Offiziere, doch vermutlich von viel zu niedrigem Rang, als dass sie hier hineinpassten. Die wichtigen Posten waren natürlich von Männern besetzt. Andererseits stand das Verteidigungsministerium im Augenblick unter der Leitung einer Frau.
Verräterin, knurrte Maja. Wir lachten. Soll man sich denn nicht verteidigen, fragte ich. Maja wurde ernst. Natürlich soll man das, sagte sie still. Aber ich habe das Gefühl, dass sie es nicht tun würden.
Was?, fragte ich, wer würde was nicht tun?
Sie würden es nicht packen, wenn es tatsächlich kracht, verdeutlichte sie, ich glaube es einfach nicht. All die teuren Waffen, von denen man liest, wenn nun all das nur ein riesiger Sandkasten ist, in dem diese Jungs aus egoistischen Gründen spielen. Wenn sie uns bei einem Angriff überhaupt nicht verteidigen würden, wenn das nie ihr Motiv gewesen ist. Wenn sie sich nur gegenseitig beeindrucken und Karriere machen wollen.
Ist ja wohl klar, dass sie uns verteidigen, stellte ich fest. Ich wusste nicht sehr viel darüber, wie diese Verteidigung funktionierte, ging aber davon aus, dass die Militärs ihr Bestes taten. Alle wollten ihre Arbeit ja wohl so gut wie möglich machen.
Man hätte sich mehr damit beschäftigen müssen. Wie auf Bestellung meldeten sich Jans alte Vorhaltungen. Es ist deine Pflicht, Siv, du hast genauso viel Verantwortung für dieses Land wie wir, die gewählten Funktionäre und Politiker. Du kannst dich nicht dahinter verstecken, dass du nichts gewusst hast, du bist volljährig und du hast Stimmrecht – das bedeutet, du hast nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten.
So konnte er stundenlang reden, obwohl er wusste, wie es mit meinem Job stand und dem Zuhause, um das ich mich allein zu kümmern hatte, da war keine Rede von irgendwelchen Pflichten, da war seine Arbeit plötzlich so viel wichtiger als meine.
Schließlich kam es aber dann ja auch zur Scheidung. Verdammt, ich wollte nicht an den gut geschminkten Anlass dafür, an diese Ingela Katz und die ganze darauf folgende Hölle denken.
Hallo Siv, ist jemand zu Hause? Maja wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum. Willst du, dass ich gehen soll?
Nein, entschuldige, antwortete ich. Ich habe nur über die Landesverteidigung nachgedacht. Dass es gut ist, dass es sie gibt, falls wir angegriffen werden, allerdings kapiere ich nicht, was wir in anderen Ländern zu suchen haben.
Das ist doch, weil wir zur NATO gehören, konstatierte Maja.
Tun wir das?, stieß ich verblüfft hervor.