Читать книгу Sieh ihnen nicht in die Augen - Ein Schweden-Krimi - Aino Trosell - Страница 8

Оглавление

Hinter dem eleganten und hellerleuchteten Empfangstresen des Hotels, hinter den bequemen Sitzgruppen und den hohen, kostspieligen Blumenarrangements gibt es einen weiteren Tresen, es ist ein schmaler schäbiger Tisch im Halbdunkel des Gangs, der zum Wintergarten und seinen Toiletten führt, und jeden Morgen um sechs versammelten wir uns dort.

Diejenige, die am weitesten zu fahren hat, kam zuerst, und das war ich. Schließlich war es nicht gesund, mit hundertzwanzig durchs Tal zu preschen, ich wollte genügend Spielraum haben, es konnten Schneepflüge dazwischenkommen, Unfälle oder Matsch auf der Fahrbahn – man musste auf beinahe alles gefasst sein. Aber der Zustand der Straße war im Allgemeinen gut, also traf ich manchmal schon um halb sechs am Ziel ein. Der Nachtportier begrüßte mich stets leicht verwundert, jung wie er war – offenbar dachte er, wie können Leute freiwillig auch nur eine Minute zu früh zu so einer unchristlichen Arbeit erscheinen.

Die anderen trudelten nach und nach fast unbemerkt ein. Die meisten, die in den Personalapartments wohnten, kamen durch den Hintereingang angeschlichen.

In diesen frühen Morgenstunden wurden nicht viele Worte gewechselt. Die gemeinsame Sprache war noch nicht richtig greifbar, man war nicht im Stande sich anzustrengen, nachzudenken, wie die Dinge hießen und auf Schwedisch ausgesprochen wurden.

Verstohlen betrachtete ich meine Arbeitskollegen. Sie taten mir leid. Die meisten von ihnen waren unter einer heißen Sonne und zunächst ohne jeden Begriff von Kälte und abnehmendem Tageslicht aufgewachsen, jetzt aber verbrachten sie ihre Tage hier zwischen Papierkörben, leeren Flaschen, Reinigungsmitteln und Schnee. Alle aber waren freiwillig hergekommen, und es passierte nicht oft, dass sich jemand beklagte. Anscheinend lebten sie heute besser. Waren sie nicht vor der Armut und Unsicherheit geflohen, dann aufgrund von Gewehrsalven und nächtlichen Razzias. Ich hatte inzwischen so manche Geschichte zu hören bekommen, und einige waren so unvorstellbar, dass die Versuchung groß war, sie als Lügenmärchen abzutun.

Jetzt erschien Muhammad aus Afghanistan, und ich dachte: Wer wird den Roman deines Lebens aufschreiben, wie du gefoltert und halb verhungert über die Berge nach Pakistan entkommen und dann hinaus aufs offene Wasser geflohen bist, ausgerechnet mit dem Ziel Australien und dann weiter über den halben Erdball, vermutlich mithilfe von Menschenschmugglern. Dergleichen hatte er angedeutet. Ich vermutete, dass er ihnen Geld schuldete. Sie hatten ihre Netzwerke, und wenn es Not tat, wurden die Schulden gewaltsam eingetrieben, war mir klar geworden, doch selten las man von solchen Abrechnungen, meist genügten wohl Drohungen. Ingalill behauptete, der übliche Preis würde bei fünftausend Dollar liegen.

Muhammad verdiente nicht mehr als ich. Wahrscheinlich bezahlte er seine Schulden noch immer ab. Und er schickte Unterhalt an seine Eltern. Muhammad könnte Geld gebrauchen, viel Geld. Dennoch grüßte er freundlich und lächelte, als gäbe es keinerlei Sorgen auf der Welt. Vielleicht spielte er ja Toto?

Bea aus Somalia hingegen lächelte nicht, vor allem nicht früh am Morgen. Sie war Mathematikerin, aber hatte sich irgendwie mit dem Regime ihrer Heimat überworfen. Also gehörte sie jetzt der bestausgebildeten Putzgilde der Welt an, nämlich der schwedischen. Glücklicherweise putzte sie gut. Sie ließ ihren Zorn an Bettwäsche und Duschräumen aus und konnte einen Apartmentflügel ganz allein schaffen, wenn es trotz voller Belegung an Kräften mangelte. Ja, Bea war gut, und sie redete auch nicht viel. Wie sie hier gelandet war, wusste ich demnach nicht, aber eins hatten alle meine Arbeitskollegen gemein, und zwar, dass man sie als erste Maßnahme von staatlicher Seite im Asylantenheim Kläppen untergebracht hatte, zwanzig Kilometer weiter unten im Tal.

Das Hotel seinerseits hatte herausgefunden, dass es in Kläppen willige und billige Arbeitskräfte gab. Dank der veränderten Gesetze konnten die Asylbewerber jetzt während der Antragszeit arbeiten, und da sie nicht so unzuverlässig waren wie die aufsässigen Teenie-Girls, die das Hotel früher beschäftigt hatte, so war der Stamm der Putzmannschaft nunmehr stabil. Hin und wieder hörte jemand auf, aber die Löcher wurden rasch gestopft, die anhaltende Konjunkturflaute hatte dafür gesorgt, dass heute jeder Arbeitsplatz Attraktivität besaß.

Draußen war es schneeverhangen und ziemlich kalt, und jetzt trat die Hauptfigur des nächsten Romans aus dem Schatten, nämlich Hedy aus Tschetschenien. Ihrem Mann war es gelungen, sie herzuholen, ich glaubte verstanden zu haben, dass er ein ehemaliger Guerillakämpfer war. Sie wohnten unten im Dorf Sälen und nicht wie die meisten anderen in den teuren Personalapartments auf dem Berg. Ja, auch Hedys Geschichte war ein Roman, aber wer vermochte ihn zu interpretieren, bei diesem fernen, unbegreiflichen Land und obendrein der Sprachbarriere – die Gespräche blieben wahrhaftig ziemlich einförmig. Aber auch Hedy war gut im Putzen, und aufgrund ihrer sympathischen Art fügte sie sich hier gut ein. Über ihren Mann wusste ich nicht mehr, als dass er viel herumreiste, vielleicht war er Dolmetscher, er weilte ja schon weitaus länger in Schweden als sie.

Der Zeiger näherte sich der Sechs, die Reinigungskräfte trafen jetzt am laufenden Band ein, das Gemurmel wurde lauter, und Ingalill war im Anmarsch, wir hörten, dass sie den Nachtportier begrüßte.

Wo steckte Dunja, sie kam doch immer pünktlich? Aber an diesem Morgen trafen die Russinnen vor Dunja ein. Die Mienen so unergründlich wie die der Sphinx betraten die beiden pompös die Bühne, ließen ihre Taschen schwingen, warfen die lange Mähne zurück, lächelten leicht zweideutig und kauten wie besessen auf ihrem Kaugummi herum. Ich spürte förmlich, wie der Bombenregen auf die arme Hedy niederprasselte, vielleicht war es nur ein kurzer Blick oder eine Bewegung, vielleicht bildete ich mir das aber auch ein. Sie war doch so grau und diese beiden so farbenprächtig mit ihren Strähnchen im Haar, den Ohrringen und dem Eau de Toilette – selbst um sechs Uhr in der Frühe –, sie waren einfach souverän.

Valentina, die Blonde, war beim Putzen nicht ganz zuverlässig. Einmal hatte ich sie erwischt, als sie oben in einem Zimmer saß und eine Seifenoper guckte. Sie stand nicht einmal auf, als ich zufällig die Tür öffnete, sondern kaute nur weiter auf ihrem Kaugummi herum und starrte auf den flimmernden Bildschirm. Sie dachte, ich würde es genauso machen.

Jelena, die Dunkle, war flink. Zu flink, fand ich, aber es war ja nicht meine Angelegenheit, die Qualität ihres Putzens zu kontrollieren, sondern Ingalills. Und Ingalill schien zufrieden. Außerdem war Jelena schön, man übersah sie nicht. Auch bei den Gästen erregte sie Aufmerksamkeit, und offenbar hatte sie nichts dagegen. Diese Sache hatte Ingalill, wie ich feststellen konnte, im Blick. Jelena bekam oft die Endreinigung übertragen, wo keine Gäste mehr in Sicht waren. Vermutlich hatte sie den Grund dafür selber begriffen, aber wie fast immer reagierte sie auch darauf mit einem Grinsen. Ihre Schwedischkenntnisse waren beeindruckend, wir beide aber hatten keinen engeren Kontakt.

Was die Russinnen anging, hatte man das Gefühl, dass sie die Arbeit jeden Augenblick hinschmeißen konnten, ich wusste nicht genau, woran ich bei ihnen war.

Wie mein Arbeitstag aussehen würde, hing meist direkt mit der Effektivität meiner Arbeitskollegen zusammen. Ingalill, unsere Hausdame, hatte mich zu ihrer Favoritin erkoren, und das bedeutete, dass ich oft einspringen musste, wenn etwas schief lief. Daher war ich in ein symbiotisches Verhältnis zu ihr verstrickt und betrachtete die Reinigungskräfte mit denselben Augen wie sie. Das war frustrierend. Ich war eine Art halber Boss, ohne es wirklich zu sein und auch ohne mehr zu verdienen als die anderen. Meine Arbeitskollegen sahen mich genauso. Ich war schließlich die einzige Schwedin, schon allein das, natürlich befand ich mich in einer besseren Position. Es fiel mir schwer, eine wirklich gleichberechtigte Beziehung zu ihnen aufzubauen – verdammt, war es meine Schuld, dass ich mit keinem fremden Akzent sprach?

Jetzt kam Dunja, wirklich auf den letzten Drücker. Zwei Minuten zu spät. Aber Ingalill sagte nichts. Wenn es die Russinnen gewesen wären – Großangriff. Aber jetzt betraf es Dunja, und bei ihr war es das erste Mal, dass sie nicht pünktlich erschien, also schwieg Ingalill.

Außerdem strahlte Dunja wie ein Weihnachtsbaum, hatte sie Glitzer auf den Wangen, oder waren es schmelzende Schneeflocken? Auch ihre Augen strahlten, und sie bat tausendmal um Entschuldigung in ihrem allerbesten Hochschwedisch, bei dem der Akzent kaum zu hören war. Die am besten ausgebildete Putzkolonne der Welt. Und Dunja war ein Sprachgenie, sie war Lehrerin gewesen, in welchem Balkanstaat auch immer, aus dem sie vor mehreren Jahren geflohen war. Sie konnte Englisch, Deutsch und Französisch nahezu perfekt, wenn ich die Sache richtig verstanden hatte, außer ihrer Muttersprache natürlich, von der ich nicht wusste, wie sie hieß, und Schwedisch nicht zu vergessen.

Dunja sah gut aus, aber sie war nie verheiratet gewesen. Doch würde das eines Tages bestimmt noch werden, wenn sie sich dazu entschloss. Sie war zweiundvierzig und arbeitete eigentlich an einer Schule in Tensta. Der Lehrerjob an der Stockholmer Vorortschule war jedoch so stressig, dass sie jetzt ein halbes Jahr Auszeit genommen hatte, um von dem Ganzen wegzukommen, wie sie sagte. Sie liebte das Skifahren, sowohl Langlauf als auch am Hang. Wir hatten freie Liftkarten, so konnte sie ihrer Leidenschaft nachkommen, sobald sie frei hatte. Sie war hier nach Weihnachten einfach aufgetaucht, und zu dem Zeitpunkt fehlten gerade Leute, also hatte sie anfangen können. In der Putztruppe gab es noch andere aus dem Balkan, aber ich wusste nicht, ob sie mit ihnen verkehrte.

Ich mochte Dunja, sie war intelligent und hatte Humor, und sie arbeitete gut. Niemand war direkt schlecht, aber von all denen, die hier sauber machten, arbeitete ich am liebsten mit Dunja zusammen, da lief die Arbeit wie geschmiert.

Sie war auch diejenige, der ich am meisten glich, bildete ich mir ein. Besonders wenn es ums Aussehen ging, hatte ich aus Spaß zu ihr gesagt – dickes dunkles Haar und ausdrucksvolle große Augen, außerdem schlank. Schön wär’s. Aber was das Innenleben anging, waren wir nicht so verschieden, sie wohnte ja schon mehrere Jahre hier, sie war ganz einfach wie eine Schwedin.

Ingalill wirkte müde. Bestimmt lag das wieder an ihrem Kind.

Schlüssel wurden hervorgeholt, Reinigungspläne ausgegeben und Anweisungen erteilt. Eigentlich war die morgendliche Zusammenkunft mehr eine Formsache, wir wussten im Allgemeinen, wie der Tag ablaufen würde. Aber wir mochten es, uns ein paar Minuten zu versammeln, wir bildeten trotz allem eine lose Gemeinschaft. Bei niemandem war es genauso wie bei uns. Außerdem gab es oft etwas, das die ganze Gruppe erfahren musste.

An diesem Morgen hatte es ungewöhnlich viel Hin und Her an der Rezeption gegeben, und jetzt gab uns Ingalill die Erklärung dafür. In der Nacht war erneut ein Matratzenunfall passiert. Eine Person war tot. Schneeskooter mit Polizei und Arzt waren gerade unterwegs den Hang hinauf, und der Pistenpfleger, der den Fund gemacht hatte, stand unter schwerem Schock und war mit dem Krankenwagen weggebracht worden. Nur damit wir Bescheid wüssten. Im Laufe des Tages würden sicher Unbefugte hier auftauchen, vielleicht von der Presse, und auch Angehörige, aber uns sei ja bekannt, worauf es ankomme, oder?

Allgemeines Gemurmel zur Antwort: Klar Ingalill, wir haben eine Dienstleistung zu erbringen, und es ist nicht unsere Aufgabe, Fragen zu beantworten. Aber wir sollen freundlich sein, nicht patzig. Dann machten wir uns bereit aufzubrechen, aber Ingalill war noch nicht fertig – der Restaurantleiter sei mit der Reinigung des Bistros unzufrieden – Gäste hätten über staubige Fußbodenleisten geklagt. Wenn wir selbst hier Gäste wären, hätte es uns dann etwa nicht gestört, eine solche Verwahrlosung zu sehen?

Wir lächelten spöttisch. Wir – hier Gäste? Für mindestens tausend Kronen die Nacht – besten Dank!

Und dann hätten wir da noch die Küche, fuhr sie unverdrossen fort. Dort verschwindet so manches. Sie sagen nicht, dass ihr es gewesen seid, aber es ist schon komisch, dass die verschiedensten Dinge Beine kriegen, besonders wenn die Küche spärlich bemannt ist. Sollte jemand also aus Versehen den Gefrierraumschlüssel mitgenommen haben, so geht es in Ordnung, wenn er völlig inkognito wieder an seinen Haken gehängt wird, und das gilt auch für diverse Küchengeräte wie Suppenkellen, Fischscheren, Fleischerbeile, Filetmesser und feine Salatbestecke!

Die sagen, wir hätten das geklaut?, fragte Muhammad bedrohlich leise, wir, die doch nie in der Küche sind?

Sie sagen es überhaupt nicht, verdeutlichte Ingalill, sie haben uns nur gebeten, diese Information oder diesen Appell oder wie man es sonst nennen will, an alle Personalgruppen weiterzugeben. Das gilt auch für die Direktion.

Her also mit dem Schlüssel! Und mit dem Neusilber-Besteck! Ingalill versuchte zu scherzen. Das kam ganz und gar nicht an. In der Hierarchie des Hotels standen wir am weitesten unten, und es war üblich, bei allem uns die Schuld zu geben. Andere Kategorien des Personals waren schnell mit Kritik bei der Hand, wenn wir einen Papierkorb oder irgendwelchen Glibber am Geländer übersehen hatten, das Gegenteil aber erlebten wir nie – dass man uns für die gut ausgeführte Arbeit lobte. Das war einfach selbstverständlich. Manchmal, wenn ich ein ungewöhnlich verdrecktes Zimmer betrat, hatte ich gute Lust, das Empfangspersonal und die Kellner herzubestellen, um ihnen zu zeigen, wie es vor der Reinigung aussehen konnte. Nach dreiundzwanzig Minuten musste der vorgefundene Schweinestall in ein blitzblankes Königslogis verwandelt sein, mit militärisch gemachten Betten, glänzenden Ablagen und Tischen samt einer gut gereinigten Toilette. Wir waren eine Personalgruppe, auf der man leicht herumhacken konnte, unser Job war nur im negativen Fall sichtbar, also wenn nicht geputzt worden war.

Trotzdem kam ich gut klar. Zu behaupten, ich fühlte mich wohl, wäre wohl übertrieben, aber ich fand die Sache okay. Alles war besser als die öde Arbeitslosigkeit, was die Alternative gewesen wäre, nachdem ich meine Anstellung in der Gerberei aufgegeben hatte. Dafür gab es wahrhaftig gute Gründe, aber es war, wie die Sachbearbeiterin auf dem Arbeitsamt gesagt hatte: Du musst begreifen, wo du hingezogen bist. In diesen Gegenden gibt man eine relativ sichere Stelle nicht einfach auf.

Also hatte ich mir einen neuen Job gesucht und war ganz zufrieden damit, auch wenn es jeden Tag ein Stück hin- und herzufahren galt. Mit Ausnahme von Krisensituationen, da besorgte mir Ingalill eine Schlafgelegenheit, damit ich am Ort übernachten konnte.

Jetzt brach also ein weiterer Arbeitstag an. In der Rezeption lungerte das Rettungspersonal herum und bei uns inzwischen ein ganzer Haufen Reinigungskräfte: Somalier und Türken, Jugoslawen verschiedenster Herkunft, ein Palästinenser und ein Deutscher, der das Skilaufen liebte. Sie füllten den ganzen Gang aus. Schlüssel klapperten, wir nahmen unsere Reinigungspläne und Hauptschlüssel und setzten uns langsam in Bewegung. Take care of yourselves out there, rief Ingalill unseren schlaffen Rücken hinterher. Ja, ja, sie tat ihr Bestes. Aber wir waren nun mal keine coolen New Yorker Bullen. Sie konnte uns nicht besser bezahlen, aber sie versuchte uns ab und an mit Worten zu erwärmen. Sie war in Ordnung. Die Woche über allein mit dem Kind, sie stand genauso unter Druck wie wir. Sie sah müde aus.

Izzadin, der Palästinenser, startete die Poliermaschine, um den riesigen Fußboden aus Älvdalsporphyr in der Eingangshalle zum Glänzen zu bringen, und ich ging zum Empfangstisch, hinter dem ein großer Papierkorb geleert und außerdem gewischt werden sollte. Dadurch bekam ich automatisch die Gespräche der Rettungsmannschaft mit, aus denen hervorging, dass der Verunglückte sich den Schädel gespalten hatte, als er gegen das Liftfundament geprallt war. Weiß Gott kein schöner Anblick, den Pistenpfleger hatte es schließlich total umgehauen. Offensichtlich war der nächtliche Schussfahrer allein gewesen, was wirklich ein Glück gewesen war, solche Suffgeschichten passierten ja sonst meist in der Gruppe.

Ich war nicht direkt neugierig, aber aufmerksam. Ich bemerkte, dass der Nachtportier in seinem Computer nachschaute, er suchte wohl nach einem möglichen Kandidaten, weil er fragte, ob sie genau kontrolliert hätten, dass kein Hotelschlüssel in den Taschen steckte. Da war keiner, bestätigten die Männer, aber der Verunglückte konnte ihn ja verloren haben, so ein Schlüssel sah ja nicht viel anders aus als die Liftkarte, der Bursche konnte ihn sogar weggeworfen, ihn einfach mit einem Zettel verwechselt haben.

Ein Schlauchboot. Ein Rafting den Berg hinunter. Der Gedanke gefiel mir, wie schrecklich das Geschehene auch sein mochte. Ich konnte die Verlockung begreifen.

Der Nachtportier steppte freundlich zur Seite, während ich den Rest fertigschwappte. Notgedrungen steuerte ich danach auf die vielen überquellenden Aschenbecher und Papierkörbe der Lobby zu und konnte damit dem interessanten Gespräch am erleuchteten Tresen nicht länger folgen.

Izzadin warf mir einen raschen Blick zu, so als missgönnte er mir den Zugang zu den Sensationen gleich am frühen Morgen. Es war natürlich typisch, dass die einzige Poliermaschine im Gelände von einem Mann bedient wurde. Bestimmt tat er so, als würde er einen Panzer fahren, dachte ich irritiert, vielleicht gekapert von der israelischen Armee?

Die Herrentoilette des Wintergartens bot einen prächtigen Anblick. Hier hatte ein Fest stattgefunden. Papierhandtücher türmten sich auf dem Boden, und der ganze Raum schwamm. Leere und halbvolle Biergläser bildeten eine modernistische Installation auf dem Waschbeckenrand, auch darunter standen ein paar Gläser, die ins Rollen gerieten, als ich dagegenstieß, mitten in all dem Nassen obendrein Scherben, ja hollahopp, hier komme ich!

Und dennoch verspürte ich gerade in einer solchen Situation Zufriedenheit. Ich hatte noch nicht in den Kabinen selbst nachgeschaut – dort warteten vielleicht weitere tolle Überraschungen –, aber ich wusste, dass dieser Dreck in ungefähr einer halben Stunde durch blitzblanke, einladende Sauberkeit ersetzt sein würde.

Jelena hatte die Damentoilette übernommen, also konnte sie Dunja später beim Staubsaugen des blauen Teppichbodenmeers im Wintergarten helfen, weil das Saubermachen bei den Frauen viel schneller ging. Jelena hasste Männerklos. Ich hasse Männerklos, mussten die ersten Worte gewesen sein, die sie auf Schwedisch gelernt hatte, und sie wiederholte sie oft.

Okay, Männerklos, davon konnte man ein Lied singen. Aber es gab sie nun mal. Und Männer waren schließlich auch Menschen. Denk an deinen eigenen Sohn, sagte ich immer. Das ist was ganz anderes, bekam ich zur Antwort, er ist kein solches Schwein wie all die anderen.

Gläser, Geschirr und den Inhalt der Papierkörbe raus zum Putzwagen, dann Lappen, Bürsten und Reinigungsmittel zu den Herren rein. Die Arbeit begann an den etwas saubereren Stellen, dann folgten die dreckigeren. Mit meinem ganz privaten Wunderlappen, den ich vom eigenen Geld gekauft hatte, lief das Putzen wie geschmiert – alles war im Nu blitzblank! Ich kam mir so clever vor, dass ich vor Stolz fast platzte. Es war nur ein schöner Traum, dass das Hotel seiner Putzkolonne Wunderlappen aus Mikrofasern besorgen würde, und übrigens wären sie dann sicher gleich wieder geklaut.

Jetzt aufgepasst ihr Becken dort unten, ich spritzte Umweltgifte in grünen Strängen. Schrubbte mit der Klobürste unter der Kante, spülte, wischte und sprang immer wieder zurück, um nichts von den Ekelspritzern abzukriegen, was trotzdem manchmal passierte. An der Lippe, oder es ging ins Auge, und zu dem Zeitpunkt hatte man nasse Gummihandschuhe an, also stand man dann da mit einem Tropfen Pisswasser oder was auch immer da auf der Haut kühlte, scheiß, man fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht und fluchte laut. Verließ sich einfach auf die eigenen Abwehrkräfte, von so ’nem bisschen Tollwut war noch keiner gestorben oder von Campylobactern oder wie die Dinger hießen. Du anonymer Kacker, du hast mich doch wohl nicht mit der Rinderseuche, AIDS oder TBC angesteckt?

Ganz zum Schluss widmete ich mich der Pinkelrinne, und dort hatte ich gründlich Duftkugeln ausgelegt, sodass der nur zu gut bekannte Geruch nicht weit kam. Dieses Klo sollte frisch riechen – ich hätte es nicht ertragen, wenn irgendein arroganter Oberkellner mit der Bemerkung angekommen wäre, die Toiletten seien nicht anständig gesäubert und Gäste hätten sich beschwert. Nein, nicht wenn ich Hand angelegt hatte; war ich mit einer Aufgabe fertig, sollte kein aufgeblasener Pinkel die Nase rümpfen und mich herunterputzen können.

Die Besenkammer lag im Eingangsbereich der Herrentoilette. Die Lampe war wie gewöhnlich kaputt und das Wasser aus dem Hahn eiskalt. Dann eben umso stärkere Putzmittel in den Eimer! In der Regel versuchte ich, ein bisschen warmes Wasser vom Handwaschbecken zu holen, aber es war schwierig, den Eimer dort reinzuklemmen, man bekam gerade den Boden bedeckt.

Wegen der Glasscherben fegte ich zunächst alles zusammen und nahm die Splitterreste mit feuchten Papierhandtüchern auf. Dann konnte ich den Boden endlich wischen.

Jetzt sah alles wie neu aus, wirkte wie frisch gestrichen. Wenn nur keiner hereingetrampelt kam, bevor alles trocken war, dann gab es hier wieder eine Herrentoilette, wie sie sich schickte für ein Etablissement wie den Wintergarten mit seiner imposanten Bar, seinen gedeckten Tischen, seiner erlesenen Speisekarte und dem großen Tanzboden. Ich war zufrieden.

Dunja war dabei, die Teppichböden zu saugen, ich hörte sie irgendwo weit weg, während ich den Putzwagen ordnete und einen Moment verschnaufte. Im Foyer war Izzadins Poliermaschine verstummt. Wahrscheinlich war er voll damit beschäftigt, vor dem Eingang Schnee zu fegen, das Festgetretene loszuhacken, wegzuschaufeln und dann Sand zu streuen. Er hatte von Björn eine umfassende Ausbildung im Sandstreuen erhalten, unwissend wie er hinsichtlich der Choreografie des Rutschens nun mal gewesen war. Jetzt beherrschte er die Sache dafür umso besser – kein Gast sollte sich den Oberschenkelhals brechen, solange dieser Palästinenser für das Streuen sorgte.

Jelena kam aus dem Damenklo. Sie war nicht schneller fertig geworden als ich, trotz der geringer verdreckten Örtlichkeit. Sie wirkte froh. Und das war schließlich gut. Doch worüber konnte man sich in dieser frühen Stunde freuen, noch dazu auf einem Damenklo?

Was ist, fragte ich automatisch. Was soll schon sein, erwiderte sie und grinste noch mehr, während sie etwas Eingewickeltes, was auch immer das sein mochte, ganz unten in ihren Putzwagen schob. Ach diese Russinnen – unergründlich wie die weite Taiga, vielleicht hatte sie per Telepathie Kontakt zu einer anderen Toilettenmadam im Ural oder in Murmansk bekommen und würde bald abhauen, irgendwas hatte sie vor, ganz klar.

Gerade als ich die vierte Etage erreicht hatte, wo ich kontrollieren wollte, ob der Flur gesaugt werden musste, ging das Licht aus, und es wurde stockdunkel. Und still.

Ich tastete mich vorwärts, geleitet von den starken Scheinwerfern am Hang, deren Licht durch die weit entfernten Fenster hereinfiel, und jetzt hörte ich Björns feste Stimme, er befand sich in meiner Nähe irgendwo in der Mitte des Flurs. Seine ungemein schöne Stimme und vor allem seine Sprache – typisch für die hiesige Gegend. Konnte man in dieser Mundart überhaupt anders als nett sein? Die Wörter tönten und funkelten, das war Malungs Dialekt im paillettengeschmückten Trikot – ein Eistanz der Redewendungen und doppelbödigen Bedeutungen, in dieser herrlichen Sprache war keine Äußerung zu trivial.

Das ist nur eine Sicherung, die Sache ist gleich geritzt, bleib ganz ruhig, hörte ich ihn rufen. In der Mitte des Flurs befand sich ein Sicherungskasten, und von dort erklang seine Stimme.

In Ermangelung einer anderen Beschäftigung tastete ich mich zu ihm vor und fragte, ob es lange dauern würde. Im selben Moment ging das Licht wieder an, und ich stand beschämt da, war ich noch bei Trost.

Hallo Siv, sagte er. Guck dir das an, da ist doch einer dran gewesen und hat einen Kurzschluss fabriziert, an allem müssen sie ihre Finger haben. Seine Sprache klang wirklich ganz besonders, obwohl er Hochschwedisch mit mir redete.

Ich schaute hin und verstand nichts, jede Menge Kabel, jede Menge Sicherungen und jede Menge Codes und Zahlen – was also?

Jemand hat einen Nagel dazwischengeschoben, erklärte er. Damit die Sicherung nicht durchbrennt. Hast du so was schon mal erlebt? Was die wohl gemacht haben – denn ich vermute mal, einer der Gäste hat in seinem Zimmer irgendwelche elektrischen Manipulationen vorgenommen. Allerdings werden wir wohl nie erfahren, was es gewesen ist. Eine wirklich gefährliche Sache, dadurch kann ein Brand entstehen.

Er war Elektriker und obendrein unser Rettungsanker bei allem, was nicht funktionierte, von den Haustechnikern war er zweifellos der geschickteste, und ich bewunderte ihn vorbehaltlos.

Da ich mir selbst gelobt hatte, nichts mit einem Mann anzufangen, jetzt nach der Misere mit Niels, die schmerzhafte Scheidung von Jan mal ganz außer Acht gelassen, so tat ich es völlig offen, also ihn zu bewundern. Liebe und Erotik waren schließlich nichts für mich, jedenfalls noch lange nicht – vielleicht nie mehr. Du bist ein Spitzentyp, sagte ich zuweilen. Wenn ich meine Meinung in Bezug auf Männer mal ändern sollte, dann weißt du, dass du der Erste in der Reihe bist. Und wie lange muss ich warten, gab er dann scherzend zur Antwort, dir ist ja wohl klar, dass Altsein das allerschlimmste Sein überhaupt ist.

Auch noch witzig, und das in der herrlichsten Mundart.

Ja, er war Spitze, in jeder Beziehung. Unbegreiflicherweise geschieden, wie konnte jemand ein solches Prachtexemplar freiwillig hergeben? Dazu war er noch nett wie kein anderer, sah auch nicht schlecht aus. In diesem Etablissement war er außerdem unentbehrlich und vermutlich unterbezahlt wie wir alle. Genau das wäre dann ja wohl der große Haken. Ich hatte doch beschlossen, es muss einer mit Geld sein. Die unterste Balkenlage der Schuppen hatte sich direkt in die Erde gedrückt und moderte, und das Haus selbst brauchte ein neues Dach und eine bessere Windisolierung. Das waren meine nächsten Projekte, sobald ich genug Geld beisammen hätte. Wenn der Ritter auf dem weißen Pferd eines schönen Tages angaloppiert kam, sollte er folglich keinen Strauß Rosen in der Hand halten, sondern Pfosten, Dämmwolle und frischbehauene Stämme, die er spielend leicht gegen die alten austauschte.

Gut, dass du so schnell wieder für Licht gesorgt hast, sagte ich. Hast du Angst bekommen, wollte er wissen und sah mich an. Kein bisschen, erwiderte ich. Wirklich nicht, fragte er neckend und machte lächelnd einen Schritt auf mich zu. Aufgepasst, zwar war das alles nur Spaß, aber jetzt war niemand sonst in der Nähe, die lachenden Zeugen fehlten. Also zog ich mich zurück, weiter den Korridor hinunter und sagte, ich müsse dann wohl los. Und er drehte mir den Rücken zu und schraubte, was auch immer es nun war, wieder fest.

Männer wie er sollten nicht frei herumlaufen. Sie brachten alles durcheinander, sodass einem die Gedanken nicht gehorchten und sich im ruhigen Alltagstrott Himmel und Abgründe auftaten. Ja, er sollte eingesperrt werden, hinter einer Plexiglasscheibe sitzen, sodass man gefahrlos hingehen und sich diese Krone der Schöpfung, die er zweifellos war, mit tropfendem Zahn genau anschauen konnte. Wirklich ein Leckerbissen! Fantasieren durfte man schließlich, aber wichtig war, dass es dabei blieb. Sonst hätte das eine unhaltbare Arbeitssituation zur Folge, und was sich daraus ergeben würde, ließ sich leicht ausrechnen. Falls ich überhaupt irgendeine Chance gehabt hätte. Er zog mich doch nur auf. So konnte ich die Vögel glücklicherweise daran hindern, in meinem Haar ihr Nest zu bauen.

Als Nächstes kam die Piano-Bar dran – Party mit Mopp und Lappen. Zu imaginärer Musik!

Ingalill und ich standen vor den Toiletten der Piano-Bar und starrten auf den Marmorboden. Aceton, sagte sie mit Nachdruck. Bist du sicher, dass es Marmor ist, fragte ich. Sie zuckte die Schultern, jedenfalls ist der Boden mächtig hart. Genau weißt du es also nicht, beharrte ich. Sie schüttelte den Kopf. Denn wenn das kein Stein ist, kann Aceton Flecken hinterlassen, ich würde stattdessen Eisstücke und einen Schaber vorschlagen, danach Reinigungsmittel und heißes Wasser, den Dreck zuerst einfrieren, damit er hart wird. Dann lässt er sich wegkratzen.

Die Diskussion betraf die unzähligen Kaugummis, die genau an dieser Stelle immer ausgespuckt wurden. Man musste eigentlich froh darüber sein, die Alternative wäre schließlich der Teppichboden gewesen. Zumindest so viel Benimm hatten die Gäste, dass sie ihren Kaugummi dort nicht allzu oft hinterließen. Umso öfter hier vor den Toiletten. Der Boden war seit anno dazumal nicht mehr richtig gereinigt worden, aber jetzt sollte das endlich passieren.

Wir standen neben dem großen Gestell mit den Moët & Chandon-Flaschen, die zum Glück nicht abgestaubt werden mussten. Es waren mehrere Hundert, und sie sollten so staubig und abgelagert aussehen, obwohl sie leer waren. Wie es hieß, war das Hotel nach dem Staatlichen Alkoholvertrieb der größte Verkäufer dieses edlen Getränkes im ganzen Land. Dann versuche es heute Nachmittag mit deiner Methode, entschied Ingalill. Ich werde dem Barkeeper im Satelliten Bescheid sagen, damit du seine Eismaschine benutzen kannst. Aber jetzt möchte ich, dass du mit mir in den Keller kommst, ich habe ein paar Dinge zu besprechen.

Zufrieden schob ich den Putzwagen zur Seite. Ich ahnte, dass Ingalill meine Hilfe vor dem bevorstehenden Ansturm benötigte – ich erlebte das nicht zum ersten Mal und wusste, dass sie viel zu tun hatte. Sie war ja nicht nur für die Reinigung verantwortlich, sondern auch für die gesamte Atmosphäre im Hotel, alle Details, die notwendig waren, damit sich der Gast willkommen und zu Hause fühlte. Ja, das war die Aufgabe der Hausdame. Und das galt mehr denn je während der Landeskonferenz des Verbandes Volk und Verteidigung.

Das Hotel war 1936 gebaut worden, und schon damals hatte es achtzig Zimmer gehabt. Nach der Erweiterung gab es jetzt hundertsechs Hotelzimmer und über zweihundert Apartments, aber nur unter dem alten Gebäudeteil befand sich ein Keller. Die Treppe dort hinunter war schmal und schlecht beleuchtet. Ich blieb Ingalill auf den Fersen, die ununterbrochen über die Reinigungskräfte des Apartmenttrakts redete, bei denen zwei Nordkoreaner plötzlich erkrankt waren und einer der Bosnier heute Morgen mit verletzter Schulter erschienen war. Typisch, sie hatte ihn nach Hause schicken müssen, er hatte mächtige Schmerzen gehabt, war offenbar am Abend zuvor ausgerutscht und hingeknallt. Zum Glück waren die Apartments nicht voll belegt, also würde die Sache wohl in Ordnung gehen. Ich kann mich an einem anderen Tag um die Kaugummis kümmern, schlug ich vor. Nein, nein, erwiderte sie, wenn bis zur Konferenz alles tipptopp sein soll, müssen wir jetzt anfangen. Es bleibt ohnehin eine Menge zu tun, und im letzten Moment taucht ja immer noch irgendwas auf.

Ich schwieg. Wie gut. Dann würde ich den Wintergarten heute nach dem Aprés-Ski nicht putzen müssen, also wenn ich Glück hatte. Das war bisher nicht sehr oft der Fall gewesen. Es wäre toll, ausnahmsweise mal normal nach Hause zu kommen.

Auch der Kellergang war nur schlecht erleuchtet. Die Decke war niedrig, und überall lag diverses Zeug herum, angefangen von Stapeln eingeschweißter Tischdecken bis zu unausgepackten Reservestühlen, hier landete von jedem etwas. Die Luft war stickig, es gab offenbar keinerlei Ventilation.

Eine massive Stahltür führte zu einem großen Gefrierraum. Ein kleiner Karren auf Gummirädern stand davor, damit die Hilfsköche das Gefriergut rasch zum Fahrstuhl transportieren konnten, der sich weiter hinten im Gang im Anschluss an die Laderampe befand.

Auch im Gefrierraum wurde manchmal sauber gemacht, aber ich war noch nie dort drinnen gewesen. Bestimmt eine Aufgabe für Leute in voller Skootermontur, und wurde das dann abgetaut, gab es sicher eine Riesenüberschwemmung.

Eine ebenso massive Stahltür im Korridor nebenan führte zu einem anderen, nicht genutzten Gefrierraum. In dem hatte Ingalill einen Teil ihres Magazins. Sie schloss auf, ging aber weiter.

Ein Stück den Gang hinunter befanden sich zwei abgestellte Kühlräume, deren Stahltüren offen standen. Sie waren vom Boden bis zur Decke mit Regalen ausgerüstet, und in diesen wurde Geschirr aller Art, Tischdecken, Servietten, Kerzenständer, Aschenbecher und anderes mehr aufbewahrt. In einem der Kühlräume hatte Ingalill auf einem großen Tisch diverse Dinge ausgebreitet, und rundum auf dem Boden standen große Kartons. Ich sah Stapel von Bienenwachskerzen, große Rollen roten Seidenbands und Kartons voller Gläser, vielleicht Marmelade oder Konfitüre.

Die Geschenke, seufzte sie. Die vip -Geschenke. Mittwoch müssen sie fertig sein, denn am Donnerstag kommen die Blumen. Ich muss hundertfünfzig Blumenarrangements herrichten, komm, dann zeige ich dir alles.

In dem anderen Kühlraum stand ebenfalls ein großer Tisch, und ich sah, dass sie dort mit der Vorbereitung der Arbeit begonnen hatte. Steckmasse war zerteilt und schon in weite weiße Vasen gedrückt worden. Wir bekommen weiße Lilien, blaue Anemonen und dazu kleine Mimosenzweige, so hat es die Direktorin festgelegt. Die Blumen kommen am Donnerstag aus Mora. Die weiße Blüte steht für den Schnee und die Reinheit, vielleicht auch für den Frieden, und die große blaue und die Mimose symbolisieren die EU – das Thema des Jahres ist ein Europa des Friedens und der Freiheit. Bestimmt wird das richtig schön aussehen, aber was für eine Arbeit!

Sie sind jedenfalls nicht knauserig, sondern stecken eine Menge Geld rein, erwiderte ich, und wenn man all die Geschenke bedenkt. Sie nickte zur Antwort, nur das Beste ist gut genug, die Veranstaltung wird den größten Gewinn des Jahres bringen. Allein die Tatsache, dass das Hotel während der Konferenz vier, fünf Tage lang überbelegt ist. Außerdem sendet das Fernsehen jeden Tag aus der Kongresshalle, und in Presse und Rundfunk kommen kontinuierliche Berichte. Das ist Werbung der allerbesten Art, also bei dieser Konferenz werden wir keine Mühe scheuen. Wenn man auf die Idee käme, die Konferenz woandershin zu verlegen, wäre das ein harter Schlag für uns alle.

Weiß der Himmel, ob ich diesen Schlag nicht ziemlich gut verkraften würde, erwiderte ich bedächtig, und sie lächelte. Okay, wir dürfen uns hier zu Tode schinden, antwortete sie. That’s it.

Dass das Hotel Bankrott machen könnte, ist ja wohl kaum wahrscheinlich, fuhr ich fort. Nein, erwiderte sie. Das ist unwahrscheinlich. Aber wenn der Gewinn geringer ausfiele, müssten Leute gehen, und dann würdest du noch mehr zu tun bekommen.

Oder ich müsste auch gehen, antwortete ich.

Kaum vorstellbar, sagte sie lächelnd. Du wirst im höchsten Maße gebraucht, und wenn du all das hier siehst, kannst du wohl verstehen, dass ich dich während der Konferenz erst recht benötige. Ich habe kein Budget dafür, dir was zusätzlich zu zahlen, und außerdem würde das nur böses Blut geben. Aber ich kann dir etwas ganz Besonderes versprechen, wenn du dich dazu bereitfindest.

Bereitfinden wozu? fragte ich beunruhigt. Hier mit anzufassen, fauchte sie. Ich verkrafte diese Konferenz nicht noch ein Jahr, nicht wie es bisher gewesen ist. Jetzt, wo Christer die Woche über weg ist und ich Linus allein zur Tagesmutter schaffen und ihn wieder abholen muss, will ich wirklich zu einer vernünftigen Zeit nach Hause gehen und nicht wie ein Galeerensklave schuften, voriges Jahr war das ja nicht zum Aushalten gewesen. Außerdem habe ich die Absicht, hier aufzuhören. Das war die zweite Sache. Siv, wenn du versprichst, vor, während und nach der Konferenz einen Teil meines Jobs zu übernehmen, dann verspreche ich dir, dafür zu sorgen, dass du nach mir Hausdame wirst, das kann ich ziemlich sicher organisieren!

Ich schaute hinter mich. Ja, da stand irgendeine Kiste. Ich ließ mich einfach fallen. Was, ich sollte Hausdame werden?

Was verdienst du, fragte ich ohne Umschweife. Sie lachte. Achtzehntausenddreihundert, erwiderte sie, bist du jetzt beeindruckt, oder?

Ja, gab ich zur Antwort. Das sind über viertausend Kronen mehr, als ich jetzt kriege. Traufbretter und Isolierung – here I go, Ingalill!

Das Frühstück zusammen mit Dunja und Jelena im Personalspeisesaal tat mir gut, ich musste mich ein wenig fassen und so tun, als sei nichts gewesen.

Eine gute Aussicht hatte sich ergeben, die Chance aufzusteigen. Interessantere Arbeitsaufgaben und bessere Bezahlung. Statt umgekehrt – beschissene Tätigkeit und als Krönung des Ganzen: miserabler Lohn. Es schmeichelte mir, und ich freute mich und musste mich gehörig zusammenreißen, um es mir nicht anmerken zu lassen.

Schließlich war es ja noch nicht so weit. Erst gab es da noch die Konferenz und all das, was ich dafür zu leisten hatte, und danach musste Ingalill erst kündigen und mich als ihre Nachfolgerin durchboxen. Die Besetzung des Postens wurde höheren Orts vorgenommen, und vielleicht hatte jemand einen Joker und konnte mir die Stelle direkt vor der Nase wegschnappen. Ich durfte mich nicht echauffieren, ich musste kühles Blut bewahren, die mögliche Enttäuschung hinnehmen können, ohne gleich zusammenzubrechen.

Obwohl Ingalill normalerweise Wort hielt. Ja, das tat sie eigentlich immer.

Ich verspürte ein Ziehen im Bauch.

Jelena und ich waren auf dem Weg in den fünften Stock, um uns die Hotelzimmer vorzunehmen. Als wir die Eingangshalle durchquerten, konnten wir feststellen, dass das nächtliche Matratzenunglück lediglich einen einsamen Lokalreporter angelockt hatte, der mit über der Schulter baumelnder Kamera als Einziger für Aufregung sorgte. Allerdings drehte es sich ja diesmal um einen Bootsunfall, um einen Schiffbruch, wie wir makaber witzelten. Dumm war die Sache jedenfalls gewesen. Wir fanden, dass es inzwischen so viele Unfälle gegeben hatte, dass die Leute begriffen haben mussten, wie gefährlich es war, auf Luftmatratzen, Planen und anderen glatten Gegenständen den Berg hinunterzurutschen, obendrein noch in stark angetrunkenem Zustand. Anscheinend war die Identität des Opfers auch noch immer nicht geklärt.

Shit happens, wie man sagt, meinte Jelena.

Das war brutal! Ihr gutes Schwedisch – und Englisch! – benutzte sie auf die verblüffendste Weise, ich verstummte.

Wir nahmen den Fahrstuhl, der, wie wir feststellten, ebenfalls gereinigt werden musste, – irgendwas war verkippt worden und dann eingetrocknet. Ich spähte durchs Glas, als wir am vierten Stock vorbeikamen, nirgendwo ein Björn.

Der uns ganz allein angehende Hotelkorridor erstreckte sich lang und gewaltig vor uns, mit seinem roten Teppichboden und den vielen geheimnisvoll geschlossenen Türen.

Die sollten nicht mehr lange geschlossen bleiben. Rasch studierten wir die Putzliste. Bei der Hälfte der Zimmer ging es um Durchsicht – das bedeutete, der Gast wohnte noch dort – und der Rest waren Abreisen, also Endreinigung. Obendrein würde es bei fünf Zimmern eine Anreise geben, dort sollte eine Lampe behaglich leuchten und den neuen Gast willkommen heißen.

Willst du dir die Betten vornehmen, fragte ich großzügig. Jelena schlug sofort ein. Die Bettwäsche abzuziehen bedeutete, von Endreinigungszimmer zu Endreinigungszimmer zu gehen, die Schmutzwäsche zusammenzuraffen und sie in den Wäscheschlucker zu werfen. Sie landete fünf Stockwerke tiefer in bequemer Nähe zu jenem LKW, der die Säcke später in die große Wäscherei schaffte.

Aber diese Arbeit war schnell erledigt. Also würde auch Jelena ihren gehörigen Anteil am Staubsaugen und Toilettenschrubben abbekommen. Sport und Bewegung während der bezahlten Arbeitszeit – nicht jeder hatte solche Privilegien. Man musste es von der positiven Seite sehen. Ja, es hing immer von der Einstellung ab, alles spielte sich im Kopf ab, fühlte man sich entmutigt, dann wurde man auch entmutigt und so weiter. Warum war ich nicht Berater geworden und verdiente Unsummen wie all jene, die solche Ratschläge erteilten?

Ich nahm mir als Erstes die Zimmer vor, bei denen nur eine Durchsicht anstand.

In einem davon wohnte eine Familie mit Kindern, durch die Aufbettungen war es sehr eng. Ich öffnete das Fenster und zog die Laken glatt. Die Kinder hatten jedes ein Kuscheltier, einen Affen und eine Giraffe. Ich legte sie zurück unter die Decke, nachdem alles fertig war, und zärtliche Gedanken kamen mir in den Kopf.

Die nächste Tür, die ich mit meinem Hauptschlüssel öffnete, führte zu der Suite, die zum Hang hinaus lag. Hier machte das Saubermachen Spaß, es war hell und geräumig. Gediegene, pietätvoll bewahrte Etagenbetten aus der Anfangszeit des Hotels im kleinen Zimmer, im Schlafzimmer ein Doppelbett und eine als Bett verwendbare Couch zusammen mit ausladenden Sesseln im großen Zimmer, dessen Fenster direkt zum Storfjället und auf die Slalompiste hinausging. Die Suite war bereits vergeben an irgendeinen Vortrupp der Konferenz, also ging es auch hier nur um Durchsicht. Ich betrat den Flur und entdeckte zu spät, dass der Gast noch anwesend war. Ein Mann sprang aus dem Sessel hoch, als ich schon fast im Zimmer war. Oh Entschuldigung, stieß ich hervor, ich kann später wiederkommen.

Nein, nein, machen Sie es nur jetzt, bat er und sah sichtlich betreten aus. Hier muss wirklich sauber gemacht werden, und ich bin nicht im Weg. Ich folgte seinem Blick auf den Boden. Ja, hier musste sauber gemacht werden. Ein Schälchen Erdnüsse war verschüttet und darauf herumgetrampelt worden, und die Luft war stickig und irgendwie verräuchert, trotz des Rauchverbots.

Der Mann war leicht übergewichtig und sah aus, als hätte er die fünfzig schon hinter sich, sein Haar war schütter, und die Augen waren groß und blau, er wirkte nett. Eine kaum spürbare Fahne wehte mir entgegen, aber ich war mir nicht ganz sicher.

Ich zögerte. Es widersprach den Prinzipien, sich an die Arbeit zu machen, solange der Gast noch im Zimmer war. Hauptsächlich geschah das aus Sorge um die jüngeren Mädels, denen diverse nicht sehr schmeichelhafte Dinge zustoßen konnten, angefangen von Blicken, die sie auszogen, bis zu klar ausgesprochenen unanständigen Angeboten. Das betraf zwar nur eine Minderheit der männlichen Gäste, aber alle Neueinstellungen erhielten trotzdem die Instruktion, die Zimmer nicht zu reinigen, solange der Gast anwesend war.

Dieser hier wirkte jedoch völlig ungefährlich, möglicherweise hatte er einen leichten Kater. Ich selbst war auch noch nie durch den geringsten sexistischen Blick belästigt worden, zumindest soweit mir bewusst war. Möglicherweise hatte mal jemand meinen Hintern studiert, wenn ich vorgebeugt arbeitete – Müll aufsammelte oder Verkleckertes wegwischte –, aber dieser Anblick ließ keinen tot umfallen, jedenfalls nicht vor Begierde. Außerdem sah ich, dass er arbeitete, ein Laptop stand aufgeklappt auf dem Tisch, und rundum lagen Stapel von Papieren.

Und ich hatte ja bereits den Eimer mit Lappen und Bürsten abgestellt, also nickte ich und sagte, okay, wenn es dir also recht ist.

Ich sagte du, das taten die jungen Kräfte nicht. Er schien es nicht übel zu nehmen.

Er gab sich den Anschein, irgendein Dokument zu studieren, während ich meine Arbeit machte. Doch war zu spüren, dass er reden wollte, dass er sich meiner Anwesenheit bewusst war und ich für ihn nicht nur eine Putzfunktion innehatte. Der Staubsauger mit seinem undichten Schlauch vereitelte jedoch jede Möglichkeit zum Gespräch. Aber als ich mit dem Boden fertig war, räusperte er sich und fing an zu erzählen, dass er bald umziehen würde, weil der Oberkommandierende diese Suite bekommen sollte. Aha. Dann fragte er zögernd, ob ich etwas über den Zwischenfall der vergangenen Nacht wusste, ein hiesiger Polizist hatte bei ihm angeklopft und sich erkundigt, ob er etwas gesehen hatte.

Oh, das Matratzenunglück, sagte ich aufgeregt. Ja, allerdings war es diesmal ja keine Luftmatratze, sondern ein Schlauchboot, ein tragischer Unfall. Ein junger Mann kam heute Nacht ums Leben, als er den Berg runterrutschte, man kann dabei ungeheure Geschwindigkeiten erreichen, und es gibt keine Chance zu lenken oder zu bremsen.

Wie tragisch, murmelte er.

Ich nickte. Hast du denn was gesehen?, fragte ich mehr aus Höflichkeit.

Nein, natürlich nicht, erwiderte er schnell. Ich ... nein, das ist ja wohl spät nachts passiert, und ich habe hier schließlich eine Arbeit, eine Aufgabe zu erledigen, hm. Aber es kann sein, dass ich mal kurz auf war, und der Hang ist ja erleuchtet, hell wie am Tag. Ich weiß nicht richtig. Aber ich habe auf jeden Fall Nein gesagt. Was hätte ich denn sehen sollen?

Der Papierkorb war vollgestopft mit diversen Dokumenten, zusammengeknüllten Notizzetteln und einer Anzahl leerer Erdnusstüten. Ganz unten, versteckt unter all dem Papier, lagen leere Flaschen, die klapperten, als ich die Mülltüte zusammenknotete und eine neue hineintat.

Und auch wenn ich was gesehen habe, fuhr er fort, so kann es nicht stimmen. Wenn ich mir’s genau überlege, war ich wohl mitten in der Nacht mal kurz im Bad, warf im Vorbeigehen einen Blick nach draußen und meinte, zwei Leute zu sehen. Aber das kann ich alles auch geträumt haben.

Er war allein, erklärte ich. Hast du zwei Personen den Berg runterfahren sehen?

Nein, habe ich nicht, und wie gesagt, ich war sehr müde, aber ich dachte – oder träumte –, zwei Gestalten den Hang hochgehen zu sehen. Obwohl ... Ich habe, wie gesagt, nur einen kurzen Blick nach draußen geworfen, während ich ins Bad ging. Der hiesige Polizist hat nicht sehr viel erzählt, weißt du mehr?

»Der hiesige Polizist?« Mir fiel ein, dass dieser Mann hier vielleicht auch irgendeine Art Polizist war.

Nicht mehr, als dass er sich den Schädel am Liftfundament eingeschlagen hat, als er vermutlich mit zweihundert Sachen dagegengeknallt ist, erwiderte ich. Nicht schön für den, der seine Eltern verständigen muss.

Der Mann seufzte und schaute bekümmert zum Hang. Ich habe sie ja auch nicht fahren sehen, murmelte er, es können ja andere gewesen sein.

Schmutzige Gläser, Krümel auf dem Tisch, aber die Betten im Schlafzimmer waren gemacht, so sorgfältig, als hätte ich es selbst getan, waren sie überhaupt benutzt? Ich lächelte ihm zu und begab mich ins Badezimmer. Sein Handy klingelte, und ich hörte ihn rangehen. Seine Stimme klang gedämpft und eintönig.

Vom Badezimmerspiegel lief noch immer Kondenswasser, und der Boden war nass, der gute Mann hatte heute spät geduscht, aber das ging mich schließlich nichts an. Ich wischte den Spiegel ab und wollte mir gerade das Waschbecken vornehmen, als er plötzlich hinter mir stand, ich begegnete seinem wilden Blick im Spiegel und bekam Angst.

Eine halbe Sekunde lang.

Dann drehte ich mich rasch um und machte einen Schritt direkt auf ihn zu.

Die Notizen, keuchte er, meine Notizen – die im Papierkorb, ich muss sie haben!

Das Adrenalin verließ meine Muskeln mit einem schmerzenden Gefühl. Ich lachte auf.

Wo hast du den Inhalt des Papierkorbs gelassen, fuhr er fort, ich brauch diese Papiere unbedingt, hab sie aus Versehen weggeworfen.

Ich schob mich an ihm vorbei und ging zum Putzwagen hinaus. Jelena drückte gerade etwas in eins seiner Fächer. Schon wieder? Aus dem Müllsack griff ich mir rasch die verknotete Tüte und reichte sie dem Gast. Er lächelte übers ganze Gesicht. Er war ungeheuer froh.

Es hatte nicht meinem Hinterteil gegolten dort drinnen vor dem Spiegel.

Ich bekam einen Lachanfall. Er lachte ebenfalls, tausend Dank, du hast mich wirklich gerettet!

Es war mir gelungen, einen freien Motorwärmerplatz auszuhandeln, sodass meine Kiste beim ersten Versuch startete.

Dort, weit weg, hoch oben am Hang, war der tödliche Unfall passiert, aber ich sah keine Absperrung, nirgendwo solche blauweißen Plastikbänder von der Polizei, die man aus dem Fernsehen kannte. Aus dieser Entfernung konnte ich auch nicht erkennen, um welches Fundament es sich handelte.

Die Leute fuhren wie immer, als sei überhaupt nichts geschehen, glitten elegant abwärts mit weichen Schwüngen, es sah cool aus. Es war keine Absperrung nötig, denn es war keine Ermittlung nötig, weil der Todesfall geklärt war. Aber dennoch, so ein junger Mensch. Ich hoffte, dass dort wenigstens eine Gartenkerze brannte, so viel Achtung sollte man dem Toten schon erweisen, fand ich.

Es war kalt. Auf dem Parkplatz sah ich kleine Kinder, Michelin-Männchen, die von ihren ambitionierten Eltern auf Schlitten gezogen wurden. Die Wangen der Kleinen leuchteten rot wie Stoppsignale. Die Eltern hielten sich warm auf Skiern und mit den Schlitten im Schlepptau, aber begriffen sie auch, wie kalt es für diejenigen werden konnte, die sich nicht bewegten und deren kleine Körper ausreichend Wärme erzeugen mussten?

Es war erst drei Uhr nachmittags, aber die Dämmerung ließ sich schon ahnen. Ich hatte Glück gehabt, dass ich so zeitig weggekommen war. Bea und Dunja sollten gemeinsam die Aprés-Ski-Reinigung übernehmen. Wenn die trink- und vergnügungssüchtigen Gäste sich am Nachmittag ausgetobt hatten, sah der Wintergarten gewöhnlich wie ein Schlachtfeld aus und musste dann im Laufe weniger Stunden in ein adrettes einladendes Restaurant zurückverwandelt werden, bereit für die Aktivitäten des Abends.

Dunja und ich hatten zusammen die Toiletten in der Lobby geschrubbt, und mir war es äußerst schwergefallen, nichts von meiner Beförderungschance zu verraten. Deshalb hatte ich ihr lang und breit von meinem Tag erzählt und von meiner Verblüffung, vielleicht sogar Enttäuschung, weil dieser Kerl von Volk und Verteidigung nicht die Absicht gehabt hatte, mich sexuell zu drangsalieren, sondern lediglich seine weggeschmissenen Papiere zurückhaben wollte. Dunja hatte mit mir gelacht und gesagt, dass er Bergius heiße, er sei nett, sie habe gestern auch dort geputzt. Ich sagte, dass er heute Nacht anscheinend doppelt gesehen habe, als er zum Klo ging, aber dass man sich fragen musste, ob er nicht einfach besoffen gewesen sei.

Das Wetter hatte in letzter Zeit ständig gewechselt. Es hatte getaut. Darauf war eine kurze Kälteperiode angebrochen. Es hatte geschneit. Und jetzt war es wieder lausekalt, auch hier oben, sonst war es nicht ungewöhnlich, dass zwischen dem kalten Tal und dem Hochfjell ein Temperaturunterschied von zehn bis fünfzehn Grad herrschte.

Eine Gruppe Jugendlicher war in der vergangenen Woche off-piste gefahren und hinter dem Hundfjället fast von einer großen Lawine mitgerissen worden. Hier passierte dauernd etwas, und das war auch kein Wunder. Wenn man nach der Einwohnerzahl ging, befand sich in der Hochsaison jede Woche eine mittelgroße schwedische Stadt hier im Gebirge, also war Sälen in Wahrheit die größte Stadt der Provinz Dalarna. Und diese sechzig-, siebzigtausend Menschen mussten am Ende jeder Woche, an den sogenannten Wechseltagen, bewegt werden. Die Belastung der Gebirgsstraße und der Fernverkehrsstraße im Tal war gewaltig. Ein Großteil dieser Leute sollte auch auf die Bergkämme selbst hinaufgeschleppt werden, und obwohl die Kapazität der Lifte stündlich bei über siebzigtausend Individuen lag, waren die Schlangen an ihrem Fuße zuweilen unerfreulich lang.

Mit anderen Worten eine Großindustrie innerhalb der Grenzen der Kommune, und wohin sollte der Deckel, wenn nicht auf den Topf, natürlich musste ich hier arbeiten, auch wenn das jeden Tag sechzig Kilometer pendeln hieß. Ich hatte auch kaum eine andere Wahl.

Die neue Gebirgsstraße war jedenfalls breit und bequem. Der Höhenunterschied war fast nicht zu spüren. Nur der Druck auf den Ohren teilte mit, dass ich an Höhe verlor. In Gedanken war ich noch immer bei meinem Job. Den Nachmittag hatte ich mit den Kaugummiflecken und dem Bestücken der Putzwagen verbracht. In der letzten Stunde hatte ich nach Ingalills Anweisungen vip -Präsente eingepackt, hatte Geschenkband um Bienenwachskerzen und kleine Begrüßungskärtchen von der Direktorin um exklusive Marmeladengläser geknotet. Es war wohltuend, sich hinsetzen zu können, selbst wenn das Licht im Keller genau wie die Luft schlecht war, ich betrachtete es dennoch als Ruhepause, dort in der Stille sitzen zu können, bevor ich mich auf den Heimweg machte.

Der Verkehr im Tal war nicht weiter störend. Ich kam an Limas Schanzen vorüber und dachte flüchtig an die Karte aus dem 17. Jh., die mir Marianne, meine alte Nachbarin, gezeigt hatte. Die Festung war darauf mit roter Farbe eingezeichnet. Und oberhalb, auf dem Berg, war ein Signalfeuer durch ein kegelähnliches Zeichen angegeben. Signalfeuer gab es da auch auf dem Kastarberget in Transtrand, dem Middagsberget in Malung und dem Hundflen in Äppelbo. Sie hatten zum Signalsystem des Tals gehört, über das in gefahrvollen Zeiten mittels der Feuer gewarnt wurde. Heutzutage leuchteten die Positionslichter von Funk- und Fernsehmasten auf den hohen Bergen. Wenn Gefahr drohte, würde es nicht ausreichen, ein Feuer anzuzünden. Allerdings musste man die Leute wohl dennoch mobilisieren, dachte ich, heute genauso wie damals. Wenn unruhige Zeiten drohten, musste man zusehen, wie man am besten klarkam. Ich war froh, in einer Gegend zu leben, wo es nichts von Interesse gab, das zerbombt oder erobert werden konnte, war froh, einen eigenen Brunnen, einen Holzstapel, Kartoffeln im Keller und den ganzen großen Wald vor der Tür zu haben. Die Zeiten waren unsicher geworden, das wurde jeden Tag im Fernsehen gezeigt, man musste auf alles gefasst sein. Ich würde ziemlich lange durchhalten können, selbst wenn das, was man Infrastruktur nannte, zusammenbrach.

Warum dachte ich an so etwas? Ich schüttelte die düsteren Gedanken ab und begann zu planen. Ich würde in Lima Halt machen, um Lebensmittel einzukaufen. Und ich würde Åsa anrufen, wenn ich nach Hause kam. Meine geliebte dumme Tochter Åsa, die aus Liebe bis nach Skellefteå hochgezogen war. Es schien sinnlos zu sein, sie näher heranlocken zu wollen. Eine tragische Fehlgeburt hatte sie nur noch enger an Kristoffer gebunden. Er hatte seine Eltern und Verwandten dort oben, und Åsa behauptete, dass sie auch ihre Familie geworden seien. Ich hatte die Leute kennengelernt, sie waren nett. Aber ich fühlte mich beiseitegeschoben, ich war einfach eifersüchtig. Andererseits war es für Jan, ihren Vater, der in Göteborg wohnte, genauso weit zu ihr. Aber er war von Berufs wegen eine Menge unterwegs und hatte daher vielleicht das Glück, sie öfter zu treffen als ich. Seltsamerweise war ich auf diese Tatsache nicht eifersüchtig, ich wollte, dass Åsa ein gutes Verhältnis zu ihrem Papa hatte. Unsere Scheidung hatte nichts mit seiner Rolle als Vater zu tun, begriff ich. Åsa brauchte ihren Vater. Für sie war nur das Beste gut genug.

Vieles in meinem Singleleben war besser als während der Zeit, wo ich noch völlig unbewusst und wie schlafend verheiratet gewesen war. Mit den Finanzen stand es schlechter, aber ansonsten gab es niemanden mehr, dem man die Schuld zuschieben konnte, ich traf alle Entscheidungen selbst und war die ganze Zeit voll verantwortlich für meine eigene Situation.

Aber eine Sache, die entschieden schlechter war, betraf die Mahlzeiten und das Essen überhaupt. Uninteressiert und uninspiriert starrte ich in meinen leeren Einkaufskorb. Die Einkaufswagen waren für Mehrpersonenhaushalte vorgesehen, ich hingegen griff jetzt immer nach einem roten Plastikkorb. Die waren meist verdreckt, was mich irritierte, die schmutzigen Einkaufskörbe wirkten wie eine Verhöhnung von uns Alleinstehenden, die wir offenbar nichts Besseres wert waren, da wir nicht genügend Kaufkraft besaßen.

Ich wusste, dass der Kühlschrank leer war, doch mir wollte einfach nichts einfallen. Sollte ich mir Corn Flakes und Milch einverleiben? Oder vielleicht eine Büchse Sardinen? Knäckebrot und Tubenkäse hatte ich daheim vorrätig, anscheinend war kein Einkauf nötig.

Aber ich war schließlich nicht allein. Ich hatte doch Freunde. Ich hatte auch ein Handy. Wie gedacht, so getan – Maja, du meine beste frühere Kollegin, darf ich dich zu einem kleinen Abendbrot bitten?

Sie war gerade von der Arbeit heimgekommen, ich hatte mich offenbar in dem Moment gemeldet, als sie selbst vor dem Kühlschrank stand, um auf eine Idee zu kommen, denn sie sagte sofort jubelnd zu, bevor ich es mir anders überlegen konnte, wie sie es ausdrückte.

Es würde keinen einsamen Abend geben. Voller Energie machte ich mich über die Gemüsetheke her und begab mich dann zur Tiefkühltruhe – Hähnchenkeulen im Sonderangebot, das ließ sich rasch zubereiten, wir würden eine richtige Prassermahlzeit haben, Maja und ich, abnehmen konnten wir später.

Maja und ein paar andere Freundinnen waren heutzutage in Wahrheit meine Familie. Meist am Telefon, es war das Telefon, zu dem ich abends heimkam. Aber Maja traf ich auch immer öfter persönlich. Es war schön, jemanden zum Reden zu haben, jemanden, der mich verstand und mich so akzeptierte, wie ich war. Maja war eine Superfreundin, ich hatte Glück gehabt. Dennoch gab es eine Menge einsamer Abende vor dem Fernseher, und die hatte ich so satt. Die Fernsehlogik war nicht die meine. Problem für Problem wurde bis zum Überdruss durchgekaut, ohne dass irgendetwas besser wurde, und bei den Filmen ging es fast immer um Mord. Unsicherheit und Angst waren die Gefühle, die das Fernsehen den Leuten suggerierte.

Die Wahrheit sah jedoch anders aus, und ich hatte keine Angst. Tatsächlich gab es nichts zu fürchten, das Fernsehen langweilte mich immer mehr. Ich sehnte mich nach menschlicher Gemeinschaft und persönlichem Kontakt. Natürlich nach einem Mann, aber die wuchsen ja nicht auf Bäumen. Jedenfalls nicht solche, die ich mir vorstellen konnte. Die besten waren vergeben, und die wenigen, die frei waren, konnten aus dem Vollen schöpfen. Björn konnte jede bekommen, die er wollte. Er zog mich nur auf. Zum Glück verstand ich seinen Humor, ja, ich hatte Humor.

Und ich hatte meine Freundinnen.

Sieh ihnen nicht in die Augen - Ein Schweden-Krimi

Подняться наверх