Читать книгу Sieh ihnen nicht in die Augen - Ein Schweden-Krimi - Aino Trosell - Страница 9

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Der Mann, der bereit war, innerhalb weniger Tage zum Mörder zu werden, hatte in der Nacht einen Traum gehabt, an den er sich noch immer erinnerte, als er nachmittags von der Arbeit kam und die Haustür aufschloss.

Er hatte sonst keine Erinnerung an seine Träume, hatte geglaubt, ihm fehle eine derartige Fantasie. Aber dieser Traum war bedrückend wirklich gewesen. Die Stimmung reine Angst. Er war ein Vogel in einem Bauer – einem viel zu engen Bauer! Er konnte die Flügel nicht voll ausbreiten. Aber er sehnte sich ungemein danach, es zu tun. Die Sehnsucht brannte wie Feuer, und er flatterte mit den Flügeln, immer heftiger und heftiger, obwohl es so eng war. Am Ende waren die Gitterstäbe rot vor Blut, aber er konnte nicht damit aufhören. Er flatterte in Panik und zerschlug die Flügel am harten Eisen des Bauers. Er wusste, dass er nicht aufhören konnte zu kämpfen, bis er tot war.

Ein Vogel. Ein weißer Vogel, vielleicht eine Taube? Aber es ging nicht um Frieden, seine intensive Sehnsucht – war sie sexuell? Und die Angst, eine erotische Angst?

Er roch bereits im Flur, was auf den Tisch kommen würde, an diesem Freitagabend gab es was Italienisches. Automatisch streckte er die Hand aus, aber kein Seppo. Nein Seppo, sein treuester Freund, war tot. Seppo war sein letzter Hund gewesen; intelligent, gut dressiert und loyal. Die Erinnerung an ihn war positiv. Aber es hatte keinen Zweck, sich ein neues Tier anzuschaffen, noch einmal von vorn anzufangen.

Er hängte den Mantel an die Garderobe und strich sich vor dem Spiegel über den Kopf. Er hätte sich einer plastischen Operation auf Staatskosten unterziehen können – zu der Erfrierung war es schließlich im Dienst gekommen –, aber er hatte das Angebot abgelehnt. Auch die Haare hatte er nicht wachsen lassen, um die deformierten Ohren zu verdecken. Er trug das Haar kurz und ließ es oft schneiden. Ihm gefiel so viel Gezottel nicht.

Er zog den Schlipsknoten zurecht und ging zu seiner Frau hinein.

Sie hatte im Esszimmer gedeckt, obwohl sie nur zu zweit waren. Anfangs war der feierliche Rahmen ihrer Freitagsmahlzeiten mehr ein Spaß gewesen, aber seit mehreren Jahren hatte ihr Miteinander immer ritualisiertere Formen angenommen. Der größte Teil des Lebens bestand inzwischen aus Ritualen, das war bequem und störte keinen.

Auch an diesem Freitagabend war nichts Überraschendes zu erwarten, sie wussten beide, wie sich die Stunden gestalten würden. Sie hatte sich vielleicht eine neue Nachspeise ausgedacht, um ihn zu erfreuen.

Er küsste sie auf die Wange und sagte, es rieche gut. Sie lächelte zur Antwort und band die Schürze ab, während sie ihn bat, die Schüssel mit dem Salat ins Zimmer zu tragen. Sie hatte Lipgloss aufgetragen, sie alterte in Schönheit.

Er nahm die Streichholzschachtel vom Ofensims und zündete die Kerzen auf der Tafel an. Sie trug den Rest herein, und dann lächelten sie einander zu und setzen sich zu Tisch.

Alles war genau wie immer und dennoch völlig anders. Denn es geschah zum letzten Mal. Aber das konnte er nicht sagen.

Sie plauderten – wie gewöhnlich – über das Wetter, die Kinder und das Essen, und sie erzählte eine kleine Anekdote von ihrer Arbeit, so wie sie es immer tat. Seltener ließen sie das Gespräch zu seiner Arbeit hinübergleiten. Beim Essen wollten beide ihre Ruhe haben, und die Schwierigkeit, die er hatte, seine Frustration in Bezug auf die Verteidigung des Landes zu verbergen, hatte in einigen Fällen zu peinlichen Situationen geführt, besonders in Anwesenheit von Gästen. Er wusste, dass sie nichts davon hören wollte.

Jetzt stellte sie dennoch eine Frage zu der bevorstehenden Landeskonferenz, ob er Sachen fürs Skilaufen mitnehmen wollte, und er bejahte es. Sie war eine loyale Ehefrau, sie dachte bereits ans Einpacken, an das, was in seinen Koffer gehörte.

Den Laufpass. Viele hatten ihn bekommen. Sie hatten ihn allesamt bekommen, als das gesamte, über lange Zeit sorgfältig aufgebaute Verteidigungssystem aufgegeben wurde. Die Verteidigungsdoktrin wurde aufgegeben. Nicht einmal die Landwehr mit ihrem kläglichen Prozentsatz am Verteidigungsbudget ließ man unangetastet. Von der Invasionsabwehr zur Einsatztruppe. Das klang gut. Aber er und viele mit ihm draußen in den Truppenteilen hatten die technische Entwicklung verfolgt, und was hier gesagt wurde, stimmte einfach nicht. Es war keine veraltete Streitmacht, die hier verschrottet wurde, sondern sie war modern, schlagkräftig und vor allem effektiv als Abschreckungsmittel für jeden nur denkbaren Angreifer, der auf die Idee kommen konnte, das Territorium des Landes zu verletzen. Dessen Verteidigung ihre Aufgabe war.

Jetzt lag die Flanke bloß. Und ihn und seine Kollegen hatte man im Spaß mit dem einfältigen Comic-Soldaten Karlsson verglichen. Als hätte die rein faktische Kränkung nicht schon gereicht. Schweden stand offen zur Verfügung für jeden, der es sich nehmen wollte. Während schwedische Truppen in fremden Ländern agierten.

Sollte man denn nicht vor allem sein eigenes Land verteidigen? Oder seine Gruppe, seine Sippe und seine Familie? Was blieb sonst überhaupt noch übrig? Wenn keiner gut und keiner böse war und alle Brüder?

Brüder?

Würde es für das Land Schweden nie mehr eine Bedrohung durch fremde Mächte geben? Würde es nur noch Terroristen und Verrückte geben, die von der CIA und unserer Geheimpolizei Säpo bekämpft würden? Waren Gewaltbereitschaft und expansionistische Bestrebungen von Staaten eine Art Krankheit, die für allezeit ausgerottet war? Wenn dem so war, konnte man das dann schriftlich bekommen?

Wer Frieden will, muss für den Krieg rüsten, war gesagt worden. Doch heute galt das nicht mehr. War der Mensch plötzlich gut geworden und jede Gefahr für das Land als solches für immer verschwunden?

Die Kerzen flackerten, als sie aufstand, um den Kaffee zu holen. Es war lange still geblieben, merkte er jetzt.

Er sah sie an, als sie zurückkam. Sie stand beim Einschenken dicht neben ihm. Es war das letzte Mal, dass sie ihm Kaffee eingoss. Fass mich an, wollte er sagen. Sie ging um den Tisch herum, füllte ihre eigene Tasse und setzte sich. Lächelte.

Er dachte an ihren Körper, aber nein, die Sache war seit Langem ausgeschlossen.

Irgendwo tief in sich war er überaus verletzt, ja tödlich verletzt durch die Demütigungen, die er hatte ertragen müssen, bevor er sich schließlich gezwungen sah aufzugeben. Nichts wurde jetzt mehr gesagt, und auch damals war nicht viel gesagt worden. Er hatte nur gefühlt, wie lästig sie ihn empfunden hatte, zudringlich und fordernd. Sie hatte ihn nicht haben wollen.

Wenn sie jetzt Bescheid wüsste, wäre sie dann vielleicht bereit?

Aber er wollte nicht, dass sie bereit war. Er dachte nicht einmal darüber nach, aber tief unter allem verbarg sich der Wunsch, sie möge ihn leidenschaftlich, jenseits aller Beherrschung begehren, ihn besteigen und sich vollständig öffnen, sich bis weit hinein öffnen, doch war das eine Sehnsucht, die so gut versteckt war, dass er sie nicht herauslassen konnte, besonders jetzt nicht, denn mit ihr würde so vieles andere an die Oberfläche dringen, und er musste hart sein. Er musste kalt und professionell sein. Dass ihr Zusammenleben vereist war, dürfte in seiner Generation nichts Ungewöhnliches sein. Er erinnerte sich nicht, dass auch nur einer seiner Kollegen je ein Wort über die Sache verlor, er vermutete, dass es bei den meisten genauso stand. Einige gingen zu anderen, das wusste er, für ihn wäre das weit unter seiner Würde gewesen. Er war loyal und hielt durch, im Arbeitsleben und auch in der Familie.

Er war bereit gewesen, alles zu geben – nicht er hatte sie ins Berufsleben hinausgetrieben –, und nur ein paar Bröckchen hatte er sich zurückgewünscht. Aber nicht einmal die, nein. Und nun war es zu spät. Wenn sie Bescheid wüsste, würde sie ihm an diesem Abend vielleicht entgegenkommen. Was tut man nicht alles für einen Sterbenden. Er wollte solche Opfer nicht.

Sie sah verstohlen auf die Uhr, glaubte, dass er es nicht bemerkte. Sie spielten ihre Spiele. Sie hatten wahrhaftig seit dreißig Jahren nicht gestritten, in der ganzen langen Zeit nicht einmal die Stimme erhoben.

Er lehnte eine zweite Tasse Kaffee ab, dankte höflich für das Essen und stand auf, um ihr zu helfen, das Geschirr in die Küche zu tragen. Sie blies die Kerzen aus. Das war’s. Glatte zweiunddreißig Minuten.

Er hatte es all die Jahre durchgehalten. Nun war es das letzte Mal, dass er mit seiner Frau am Freitag zu Abend gegessen hatte, er hoffte nicht auf ein Leben nach dem, was bald geschehen würde. Er war ein Krieger, und es gab Leute, die bedeutend schlimmere Dinge ertragen hatten, die durchgehalten hatten für ihr Land und in Loyalität mit ihrer Gruppe und Familie.

Das Wintermanöver, damals, als er sich die Ohren erfror, hatte den Maßstab gesetzt für seine Ausdauer und seine Fähigkeit, Strapazen zu erdulden. Er wusste, man hatte ihn gewogen und für gewichtig befunden, er zählte zu den Gewichtigsten. Genau deshalb musste er seine Pflicht tun.

Glatte zweiunddreißig Minuten. Er fühlte, dass sie in der Küche allein bleiben wollte. Er ging in den Keller hinunter. Glatt war die Waffe. Happiness is a warm gun, so sang man doch wohl? Ja, Glück. Und Sicherheit – alles erwuchs aus einem Gewehrlauf.

Wer Frieden will, muss für den Krieg rüsten.

Als er wieder nach oben kam, saß sie vor dem Fernseher. Sie fragte, ob er etwas haben wolle, sie meinte einen Kognak, er wusste, sie bot ihm den an, damit er ruhig wurde und vielleicht wegdöste. Er schüttelte den Kopf, nein danke, sagte er. Ich will nichts.

Er setzte sich neben sie. Auf Eurosport zeigte man Tanz, einen Tangowettbewerb. Ist das nicht schön, sagte sie. Er nickte – herrliche Musik.

Er sah den tanzenden Paaren eine Weile zu. Außerordentlich gekonnt und aufeinander eingespielt, genauso sehr Theater wie Tanz. Ein Spiel, sinnliche Bewegungen, Blicke und Temperament.

Sie saß neben ihm auf dem Sofa, und offenbar genoss sie das, was auf dem Bildschirm ablief, in vollen Zügen.

Sein Atem wurde schwer, so als bekäme er kaum Luft. Es war, als würde er einen Vortrag vor zweihundert Offizieren halten, Lampenfieber, man war sich jedes Atemzugs bewusst.

Er wollte aufstehen. Die Frauen auf dem Bildschirm hatten straff zurückgekämmtes Haar, trugen hochgeschlitzte Röcke und spitze Absätze, sie lächelten unentwegt mit halb geöffneten Mündern, während sie sich dem Tanz und der Musik ergaben, sie konnten beinahe alles mit ihren Körpern tun.

Wie unglaublich schön, flüsterte sie entzückt.

Zorn überkam ihn mit stählerner Wucht. Er musste weg von hier, er stand rasch auf, das Zimmer drehte sich. Was denn, willst du schon gehen, fragte sie vorwurfsvoll. Er murmelte nur.

Frische Luft und Neuschnee. Er stand vor seinem Haus und sog die kalte Luft in tiefen Zügen ein. Rasende Wut hämmerte in seinem Brustkorb.

Es tat weh.

Er war gewohnt, Anweisungen Folge zu leisten, er konnte die eigenen Befehle noch im Kopf hören.

Sein ganzes Leben lang hatte er sich nie gedrückt, und auch jetzt gedachte er es nicht zu tun.

Sieh ihnen nicht in die Augen - Ein Schweden-Krimi

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