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Als Christ auf eigenen Füßen

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Mit seinem Freund Ernst fährt Werner auf „Rüstzeiten“ der evangelischen Gemeinschaft. Rüstzeit ist ein bewusster Begriff für Freizeiten mit biblischem Programm. Zwar sind Eltern und Nichtchristen oft überrascht, weil sie meinen, das Wort hätte etwas mit militärischer Rüstung zu tun. In Wirklichkeit geht es aber um die „Zurüstung“ zum engagierten Glauben. Der Name wird deshalb verwendet, weil „Freizeit“ eine Domäne der FDJ und der sozialistischen Bildungspolitik ist.

Im Sommer 1963 fahren die Jungen – beide sind 13 Jahre alt – auf eine Rüstzeit nach Hohenkirchen. Der kleine verträumte Ort am Wohlenberger Wiek an der Ostsee ist nicht weit von Wismar entfernt, sodass sie ihn mit ihren Rädern erreichen können. Geschlafen wird auf dem Dachboden einer umgebauten Scheune, die zum Pfarrhof gehört. Natürlich nur auf Strohsäcken, denn für 20 Betten ist gar kein Platz. Wenn es nachts ganz ruhig wird, hört man ein leises Knacken und Schaben. Das ist richtig unheimlich.

Schließlich untersucht Rolf, der Rüstzeitleiter, die Geräusche und stellt fest, dass die Balken des Dachstuhles genüsslich von Holzwürmern zerfressen werden. „Da wollen wir mal hoffen, dass die Würmer nicht so schnell sind und der Dachstuhl bis zum nächsten Sonntag hält“, meint er. Das eifrige Ticken der Holzwürmer verfolgt sie jede Nacht, aber die Jungs gewöhnen sich an das Geräusch oder übertönen es mit Witzen und Lachen. Nur wenn das Wetter regnerisch und die Luft feucht ist, machen die Würmer eine Verschnaufpause. Alle zwei Tage muss der Boden gekehrt werden, weil der feine Holzstaub sich im ganzen Raum verteilt und auch auf die Schlafsäcke fällt.

Gekocht wird von Rolfs Frau und man kann nur staunen, was für ein schmackhaftes Essen sie unter primitivsten Verhältnissen bereitet. Die „Küche“ befindet sich im ehemaligen Waschhaus, einem kahlen Raum ohne Putz an den Wänden. Es gibt einen Kohleherd, der mehr rußt als brennt, und einen Wasserhahn. Der Abfluss ist ein Loch im Boden und alles, was man da hineingießt, tritt im Hof wieder zutage, um schließlich im Sand zu versickern. Speisereste werden von Pfarrers Hühnern gern angenommen.

Ein besonderer Höhepunkt ist die Nachtwanderung. Alle Taschenlampen müssen in der Scheune bleiben, nur Rolf als Leiter hat eine dabei – für alle Fälle. Erst gehen sie auf einem Forstweg in den Wald hinein, dann biegt Rolf unvermittelt vom Weg ab und sie schlagen sich durchs Unterholz. Zweige peitschen ins Gesicht und Brombeerranken reißen an den Trainingshosen. Endlich hat Rolf wieder einen schmalen Weg gefunden. Jetzt hören sie in der Ferne Geschützfeuer, Maschinengewehre und dumpfe Granatwerfer. Sie kennen die Geräusche zwar vom Russenplatz, aber hier im Dunkeln klingt das richtig gefährlich. Einige Jungs bedrängen Rolf, doch endlich wieder das Pfarrhaus anzusteuern – oder hat er sich gar verlaufen? Nicht dass sie noch auf den Truppenübungsplatz geraten!

Endlich, gegen ein Uhr und ziemlich müde, erkennen sie vor dem bleigrauen Himmel die Umrisse der Kirche. Rolf steuert darauf zu. Von drinnen hört man ein polterndes und klapperndes Geräusch. Alles ist total dunkel und der Turm zeigt wie ein mahnender Zeigefinger in den Himmel.

„Wer hat Mut und geht mal in die Kirche? Wir müssen herausfinden, was dort vor sich geht“, sagt Rolf. Keiner hat den Mut, allein hineinzugehen, aber es will auch niemand ein Angsthase sein. So gehen sie gemeinsam. Rolf geht voran und die Jungen dicht gedrängt hinterher.

Drinnen in der Kirche sehen sie auf der Empore ein schimmerndes grünliches Licht hin und her hüpfen. Mal ist es weg, dann poltert es wieder gewaltig, auf einmal ist es wieder zu sehen und man hört einen hohen Pfeifton. Am Lagerfeuer kriegen sie nicht genug von den Gruselgeschichten, aber was hier vor sich geht, ist doch zu viel.

„Rolf, mach Licht!“, rufen einige, denen die Angst schwer zu schaffen macht. Dietrich fährt die Angst so in die Därme, dass er fluchtartig die Kirche verlassen muss und hinter einem Grabstein eine deutliche Markierung hinterlässt … Rolf bläst zum Rückzug und ziemlich angstgebeutelt kriechen die Jungs in ihre Schlafsäcke.

Am Morgen klärt sich alles auf. Das Gespenst stellt sich höchstpersönlich vor. Ein Mitarbeiter der Gemeinde zeigt den Jungs einen Weidenstock, der am Ende schon total vermodert ist. Dieses Ende strahlt in der Dunkelheit ein leicht fluoreszierendes Licht aus. Dann zeigt er seine dicken Filzstiefel, mit denen er auf der Empore herumgetrampelt ist. Die Erleichterung ist groß und Rolf muss am Nachmittag am Strand ein Eis ausgeben, weil er ihnen so einen Schrecken eingejagt hat. Gleich nach dem Frühstück geht die Suche nach solchen Weidenstöcken los, denn viele Jungs haben ja zu Hause noch Geschwister …

Die Bibelarbeiten und Abendgestaltungen finden bei schönem Wetter im „Lindendom“ statt. Auf dem Weg zum Friedhof gibt es ein Rondell, welches von riesigen Linden umgeben ist. Blickt man zum Himmel, sieht man etwas wie das Kreuzgewölbe eines mächtigen Domes. Hier hocken die Jungs auf niedrigen Bänken und Steinen. Da wird gesungen und am Abend ein Lagerfeuer entzündet. Sie entdecken, dass die biblischen Geschichten nicht langweilig sind, sondern etwas mit ihnen zu tun haben. Hier fallen Entscheidungen für den Glauben. Einige beginnen in abendlichen Gebetsrunden sogar laut zu beten. Auch Werner bekommt Sehnsucht, ganz zu diesem Gott zu gehören. Nicht nur weil es Spaß macht, mit anderen Christen im gleichen Alter zusammen zu sein, sondern weil er entdeckt, dass man diesem Gott vertrauen kann.

Doch am nächsten Tag findet die Rüstzeit ein jähes Ende. Ein Auto aus Wismar fährt vor. Polizei und Vertreter der Partei steigen aus und verbieten die Weiterführung dieser antisozialistischen, konterrevolutionären und unerlaubten Versammlung. Alle Argumente, dies sei eine rein kirchliche Veranstaltung, sogar der Bischof habe den Auftrag dazu gegeben, und hier geschehe rein gar nichts Antisozialistisches oder Konterrevolutionäres, helfen nichts. Rolf ist machtlos, er muss den Rücktransport der Teilnehmer organisieren. Den Jungs, die zwar innerlich rebellieren, aber vor der geballten Staatsmacht Angst haben, bleibt nichts anderes übrig, als den Rucksack zu packen und traurig zu den Fahrrädern zu gehen, um den Heimweg anzutreten.

Einem der Teilnehmer, er heißt Wolfgang, kommen vor Zorn und Enttäuschung die Tränen. Ihm ist das peinlich, aber er kann sie nicht unterdrücken. Werner nimmt ihn zur Seite, legt ihm den Arm um die Schulter und meint: „Wolfgang, ich finde es toll, dass du gestern Abend am Lagerfeuer den Mut hattest, vor der Gruppe zu erzählen, dass sich dein Glaube hier in den Tagen verändert hat. Du hast gesagt, dass du jetzt viel konkreter an Gott glaubst und als Rolf zur Gebetsgemeinschaft aufgerufen hat, hast du sogar vor allen laut gebetet. Du, Wolfgang, ich glaube, auch diese Polizeiaktion hat etwas mit Gott zu tun. Vielleicht will er unseren Glauben prüfen? Wir können trotzdem glauben, dass Gott stärker ist als die Polizei.“

Auch Rolf sagt, ehe sie auf die Räder steigen: „Die Christen in der Urgemeinde wurden verfolgt und viele haben sogar ihr Bekenntnis zu Jesus mit dem Leben bezahlt. Gerade in unseren Bibelarbeiten haben wir davon gesprochen, welche Schwierigkeiten die erste Gemeinde hatte und wie sie immer wieder von Gott bewahrt wurde. Wir erleben hier auch etwas von der Macht des Bösen, der nicht will, dass junge Menschen zum Glauben kommen. Jungs, wir sind auf der richtigen Fährte und unser Herr geht mit. Ihm gehört alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“

Schweigsam radeln sie zurück nach Wismar. Wolfgang kann aber nicht nach Hause, weil seine Eltern gerade Urlaub am Plattensee in Ungarn machen. Werner würde ihn gern mit nach Hause nehmen, aber das wäre seinem Vater nicht recht. So lässt es der Rüstzeitleiter Rolf darauf ankommen und bringt Wolfgang zur Polizei. Die sollen ruhig sehen, was für Probleme durch die unsinnige Maßnahme entstanden sind.

Nach einigen Telefonaten wird Wolfgang in ein Polizeiauto verfrachtet und in ein Ferienlager der „Jungen Pioniere“ nach Boltenhagen gefahren. Dort erlebt er das genaue Gegenteil der Rüstzeitatmosphäre: am Morgen Appell statt Bibelarbeit, militärische Übungen statt Sport, alles jeweils in der Gruppe, ohne individuelle Freiheiten. Auch die Leiterinnen und Leiter sind aus einem anderen Holz, das merkt Wolfgang schon mit seinen dreizehn Jahren. Heimlich liest er jeden Tag ein Kapitel in dem kleinen Neuen Testament, das Rolf ihm geschenkt hat. Die Texte aus der Apostelgeschichte passen gut zu seiner Situation, sie machen ihm Mut.

Eigentlich hatte sich Werner schon lange auf seine Konfirmation im nächsten Jahr gefreut. Aber irgendwie geht es ihm in den letzten Wochen nicht gut. Eine Mischung aus Enttäuschung und Schwermut hat sich wie ein Nebel auf ihn gelegt. Die Freude am Leben und am Glauben scheint wie eingefroren.

Von den Jugendlichen, die seit vorigem Jahr am Konfirmandenunterricht teilgenommen haben, sind in letzter Zeit immer mehr abgesprungen. Warum nur? Sie waren doch so eine eingeschworene Gruppe! Man hat sich gegenseitig Mut gemacht, wenn in der Schule über die Christen gespottet wurde, man hat zusammengehalten, wenn ein Schüler vom Lehrer wegen seines Glaubens gedemütigt wurde. Doch jetzt bleiben viele weg, sogar Jungen, die an der Rüstzeit in Hohenkirchen teilgenommen haben. Werner fragt einige nach den Gründen, bekommt jedoch keine Antwort. Nur Ausflüchte und – Schweigen.

Auch Wolfgang bleibt weg. Das macht ihm besonders zu schaffen, weil Wolfgang in Hohenkirchen so einen wunderbaren Start zu einem verbindlichen Glauben hatte. Er besucht ihn zu Hause, aber da ist Wolfgang erst recht nervös. „Ich kann dir das nicht erklären. Hier nicht!“, sagt er und schaut ängstlich zur Küche hinüber, wo seine Mutter mit Geschirr klappert.

Werner lässt sich nicht so schnell abweisen, es geht ja auch um seine Stimmungslage. „Du kannst doch nicht die Gemeinschaft mit Gott und seiner Gemeinde aufgeben. Erinnerst du dich nicht mehr an unsere Zeit in Hohenkirchen?“

„Doch, Werner. Aber es ist anders, glaub mir. Ich will dir das später erzählen, hier geht das nicht.“

Tagelang geht Wolfgang ihm aus dem Weg, bis Werner ihn vor der Kaufhalle abpasst. Aber was er hier erfährt, bedrückt ihn noch mehr. Wolfgang erzählt: „Es ist wegen meiner Eltern. Sie haben mir verboten, in den Konfirmandenunterricht zu gehen. Vater haben sie im Betrieb die Hölle heißgemacht. Er soll sein Kind gefälligst im Sinn des Sozialismus erziehen und von den schädlichen Einflüssen der Kirche fernhalten. Wenn ich weiter in den „Konfi“ gehe, verliert er seinen Posten als Abteilungsleiter. Und dann könnte er weder den Betriebswagen nutzen noch nach Ungarn in den Urlaub fahren. Auch Mutter haben sie im Krankenhaus in die Parteileitung bestellt. Sie ist zwar nur Nachtschwester, aber man hat ihr gedroht, dass sie keine Aufstiegschancen hätte, wenn ich weiter in die Kirche gehe. Jetzt redet sie ständig auf mich ein, ich könne ja persönlich denken, was ich will, aber ich solle mich anpassen. Sie will nicht, dass ich ihr später mal Vorwürfe mache, sie hätte mich nicht gewarnt …“

Werner hat sich alles schweigend angehört und ihm ist richtig schlecht. Ist das wirklich so, dass Kinder über ihre Eltern erpresst werden? Ist Gott der Verlierer in dieser Zeit? Werner kennt doch auch die Ängste in der Schule. Sein Vater spottet ebenfalls über den christlichen Glauben – aber ihn hat das eher im Glauben stark gemacht. „Wolfgang, erinnerst du dich noch an die Bibelarbeiten auf der Rüstzeit? Haben wir dort nicht über Mut und das Bekenntnis zum Glauben gesprochen?“

„Was soll ich denn machen? Vater hat es glattweg verboten, dass ich zum Konfi gehe. Und Mutter versucht mich ständig zu bearbeiten, dass ich an mich und meine Zukunft denken soll.“

„Und dein Glaube?“, fragt Werner nach.

„Ich glaube immer noch, das kannst du mir glauben! Ich lese auch noch im Neuen Testament – manchmal jedenfalls.“ Werner ist erschüttert und zornig. Nicht auf Wolfgang, sondern auf diesen Staat, der so mit Eltern und Kindern umgeht.

Bei zwei weiteren Konfirmanden – Sabine und Heinz-Peter – sind Werners Erfahrungen noch niederschmetternder. Sie reden offen davon, dass sie moderne und fortschrittliche Menschen sein wollen und dass man mit den Wölfen heulen muss, sonst würde man selbst aufgefressen. Hauptsache, sie kämen im Leben weiter, könnten sich später mal viel leisten und hätten ihre Ruhe vor der Politik. Sie würden sich auch um Gott keinen Kopf mehr machen, vielleicht sei das ja alles bloß Einbildung. Wissenschaftlich sei die Sache mit Gott sowieso nicht haltbar.

Da ist es wieder – dieses Gefühl, ganz allein zu sein. Werner meint, niemandem vertrauen zu können. Solche Klassenkameraden machen ihm Angst. Menschen, die keinen Standpunkt haben, die ihre Fahne nach dem Wind hängen, die alles vermeiden, um ja nicht aufzufallen: Hat es das in Deutschland nicht schon einmal gegeben?

Freundschaften zerbrechen, das schmerzt ihn besonders. Das Reden auf dem Schulhof wird zum einstudierten Rollenspiel. Keiner sagt mehr das, was er wirklich denkt und fühlt. Im Unterricht, bei den auswendig gelernten Politphrasen sowieso, aber eben auch im alltäglichen Miteinander. Man muss sich gut überlegen, wem man einen Witz erzählt. Denn man weiß nie genau, mit wem man es zu tun hat. Wenn doch einmal eine Diskussion über Weltanschauungsfragen oder aktuelle Ereignisse aufkommt, wird sie wie von einer unsichtbaren Hand der Angst plötzlich abgewürgt. Verlegen weicht jeder auf Allgemeinplätze aus oder albert plötzlich herum, um einen Ausgang aus der Situation zu finden. Keiner will sich angreifbar machen.

Da reift in Werner der Gedanke: Aber ich will erkennbar bleiben. Ich will mir ins Gesicht sehen können. Ich will den anderen keine Rolle vorspielen. Ich will Gott auch in der Öffentlichkeit und im Gegenwind die Treue halten. Und so kniet er sich am Abend vor der Konfirmation vor sein Bett und bittet Jesus Christus, der Kapitän und Lotse seines Lebens zu werden. Es ist ihm wichtig, dies laut auszusprechen und sein Leben mit Gott festzumachen.

Am nächsten Tag sind es nur vier Konfirmanden, die in der riesigen Backsteinkirche St. Nikolai vor den Altar treten. Für diese vier ist es mehr als eine Familienfeier. Ausstaffiert mit Anzug oder Kleid, Schuhen, Armbanduhr und Wäsche wurden sie durch Pakete aus einer Patengemeinde im Westen. Weil sich die vier so in der Gemeinde engagieren, hat der Pastor ihnen die Patenschaften organisiert.

Die Konfirmanden wissen genau: Mit diesem Gottesdienst zeigen sie, dass sie sich dem Druck des Staates nicht beugen. Sie wollen ihr Leben von einer höheren Regie bestimmen lassen. Geschickt geht der Pfarrer in seiner Predigt auf die kleine Gruppe ein. Er fordert sie auf, die große Kirche wahrzunehmen, in der Generationen von Wismaranern – Kaufleute, Seefahrer und einfache Fischer, Vertreter der Hanse genauso wie einfache Tagelöhner – das Wort Gottes hörten und ihm die Ehre gaben. Auch wenn es aktuell Anfeindungen gegen die Christen gibt, die Gemeinde hatte immer wieder schwierige Zeiten durchzustehen. Die Treuen – auch wenn es nur wenige sind – haben Gottes Versprechen, dass er sie nicht vergisst.

Werner ist gespannt auf seinen Konfirmationsspruch. Sie haben zwar im Konfi-Unterricht über die Bedeutung mancher Sprüche gesprochen, aber es wurde nicht verraten, wer welchen Bibelvers zugesprochen bekommt. Und dann hört er ihn: „Nun seid ihr nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (Epheser 2,19).

Nicht mehr fremd, zu Hause bei Gott! Werner ist glücklich. Alle Zweifel und die bitteren Stunden der Enttäuschung und Einsamkeit sind vergessen. Bürger in Gottes Reich, ein starkes Bild! Ihm bedeutet diese „Gottesbürgerstunde“ mehr als die Staatsbürgerkunde, die ihm am Dienstag wieder in der Schule begegnen wird. Hausgenosse Gottes – er staunt über diese prompte Antwort nach seiner Lebensübergabe am gestrigen Abend. Er weiß genau: Da hat er die richtige Entscheidung getroffen!

Die primitiven Argumente gegen die Christen lassen nicht nach. So kommt es, dass Werner sich mit dem Verhältnis von Glaube und Wissenschaft beschäftigt. Wo gibt es Übereinstimmungen, wo sind Unterschiede? Mit den Antworten möchte er auch seinen Mitschülern eine Denkhilfe geben. Es geht ihm nicht darum, dem Lehrer eins auszuwischen, sondern um die Wahrheit. Nicht um Phrasen, sondern um verstehbare Antworten. Natürlich erlebt er auch so manche Niederlage, wenn er den Argumenten der Lehrer nichts mehr entgegensetzen kann und sich mit einem roten Kopf geschlagen geben muss.

Aber dann macht Werner eine Erfahrung, die er sich selbst nie zugetraut hätte. Der 20. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus steht an. Irgendwie müssen dieser Tag und die ruhmreiche befreiende Sowjetarmee gefeiert werden. An der Schule gibt es an der Mauer neben dem Eingang eine große Freifläche. An dieser Wand soll nun ein Plakat entstehen – als Dank für diesen großen Tag. Da Werner gut im Zeichnen ist, wird er gefragt, ob er die Wand gestalten könnte. Für ihn ist das eine Chance, in der Schule einmal positiv aufzufallen. Außerdem hat er Lust auf so ein Großprojekt. Er macht einen Entwurf, der als gut und aussagekräftig angenommen wird.

Die folgenden Tage ist Werner damit beschäftigt, in der Turnhalle auf einem fünf Mal fünf Meter großen Stück Stoff ein heroisches Bild zu malen. Es zeigt unten die Trümmer des Krieges. Sowjetische Soldaten stürmen über die Trümmer und streben der Zukunft entgegen. Nach oben wird das Bild immer heller und sonniger: Neue Fabriken mit rauchenden Schornsteinen, Neubausiedlung, breite Straßen mit Autos, fröhliche Menschen – und im Hintergrund sogar ein Hafen. Na klar, wir sind in Wismar! Über allem wölbt sich ein ungetrübter Himmel als Zeichen der Hoffnung auf ein neues, friedliches Land.

Als das Plakat hängt, ist Werner mächtig stolz. Auch der Direktor ist begeistert und fragt Werner, ob er nicht Lust hätte, am Kulturprogramm zur Feier des 8. Mai mitzuwirken. Von seinem Erfolg beflügelt, macht er gern mit. Er spielt einen russischen Soldaten, der in russischer Sprache eine Verlautbarung vorträgt, die zum Tag der Befreiung damals in Berlin übergeben wurde. Sie preist den ruhmreichen Sieg der Sowjetarmee und den Sieg des Proletariats über alle Feinde des Sozialismus. Werner soll das Dokument in Originalsprache vortragen, ein Mädchen aus seiner Klasse übersetzt alles ins Deutsche.

Werner bekommt für die Veranstaltung eine russische Uniform ausgeliehen, in der er sich sehr gut gefällt. Nach der Generalprobe geht er sogar verkleidet nach Hause, die Zivilkleidung unter dem Arm. Die Leute auf der Straße stutzen, einige schütteln den Kopf: Was ist denn mit dem Wigger los? Werner stört das nicht. Sein Stolz hat ihn unkritisch gemacht.

Erst seine Mutter holt ihn aus seinem Traum heraus. „Werner“, sagt sie, „weißt du nicht, dass die Frauen vor den Soldaten Angst haben? Keine geht allein durch einsame Wege, immer wieder kommt es zu Überfällen. Der Hass auf die Besatzungsmacht ist groß. Wir haben kaum etwas zu essen und die Offiziere in den besten Wohnblocks mit vier Zimmern leben in Saus und Braus. Ich möchte nicht, dass du mit der Uniform draußen herumläufst.“

Damit ist Werner die Stimmung verdorben. Und plötzlich schämt er sich, am nächsten Tag in dieser khakifarbenen Kluft auf der Bühne zu stehen. Jetzt muss er da durch, aber sein Entschluss steht fest: Nie wieder lasse ich mich vor einen Karren spannen, den ich nicht für gut halte.

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