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Freunde unter schwierigen Bedingungen
ОглавлениеEine vornehme alte Lehrerin aus Ostpreußen unterrichtet Kunstgeschichte. Sie heißt Frau von Minkwitz und wird von den Schülern nur Oma Rosi genannt. In der Lehrerkonferenz hat sie mitbekommen, dass Werner wieder einmal Gesprächsthema war. Was war passiert? Er hatte mit dem kunstbegabten Alfred Heth aus einer älteren Klasse Plakate für eine Laienspielaufführung hergestellt. Das kleine Theaterstück wurde in den Räumen der Gemeinschaft aufgeführt und Werner war nicht nur Organisator, sondern auch einer der Hauptdarsteller.
Da es für die kirchliche Veranstaltung keine Druckerlaubnis gab, hat man sich selbst geholfen und per Linoldruck ein ansprechendes Plakat gestaltet. Werner und Alfred arbeiten beide im Kunstzirkel der Schule, daher druckten sie die Plakate mit Farbe und Walzen nach dem Unterricht in einem der Klassenräume. Schließlich lagen etwa vierzig Blätter zum Trocken auf den Bänken. Am nächsten Morgen fuhr Werner früher in die Schule, um die Plakate einzusammeln. Doch irgendjemand von der Schulverwaltung hatte sie entdeckt und Werner bekam Schwierigkeiten wegen „unerlaubtem Herstellen von Druckerzeugnissen“.
Oma Rosi tut der begabte und einsatzfreudige Werner leid. Sie spricht ihn an und fragt, ob er sie nicht einmal besuchen will. In einer alten, leicht verfallenen Villa wohnt die alte Dame. Zurückhaltend freundlich lässt sie ihn in ihr Wohnzimmer. So eine vornehm eingerichtete Wohnung hat er noch nicht gesehen. Zu Hause ist alles zweckmäßig und spärlich ausgestattet, aber was er hier sieht, verschlägt ihm die Sprache. Es sind zwar keine Reichtümer, denn Oma Rosi musste ja auch gegen Ende des Krieges fliehen, aber die Wohnung hat Stil. Es gibt schöne Polstermöbel und an den Wänden hängen Gemälde aus verschiedenen Epochen. Im Schrank bemerkt Werner jede Menge Kunstbände. Blumen sind geschmackvoll arrangiert und auf dem Tisch steht ein asiatisch aussehendes Teegedeck.
Oma Rosi fordert Werner auf, sich zu bedienen, was er sich kaum traut. Sie sitzt ihm gegenüber und zieht hin und wieder an einer Zigarette, die sie in einer Elfenbeinspitze graziös zwischen den Fingern hält. Sie erzählt von ihrer Heimat, von der Flucht und dass es ihr nicht leichtfällt, in einer sozialistischen Schule zurechtzukommen. Offen gesteht sie Werner, dass sie ihn in seiner Gradlinigkeit bewundert. Dadurch sei er immer wieder einmal Thema in der Lehrerkonferenz. Sie verrät ihm, es gebe drei Gruppen von Lehrern: Zur ersten Gruppe gehörten die, die versuchten, sich aus allen Wertungen herauszuhalten. Die zweite Gruppe bestehe aus den Lehrern, die sich verschworen hätten, „den Wigger“ von der Schule zu kriegen. Und dann gebe es noch eine kleine Gruppe, die vorsichtig versuche, für ihn ein positives Wort einzulegen.
Mit ihrem ostpreußischen Akzent sagt sie unvermittelt: „Werner, Sie sind anders als die Schüler in Ihrer Klasse. Wir müssen Kompromisse machen, um uns im Leben behaupten zu können. Wer sich so vehement gegen die allgemeine Linie stemmt, wie Sie das tun, der kann nur verlieren. Ich bewundere Sie, aber ich habe auch Angst um Sie.“
Es wird ein wunderbares Gespräch. Werner weiß, dass er ihr vertrauen kann. Und so lässt er sie Einblick nehmen in seine Gedanken und das, was ihn bewegt. Oma Rosi hat Verständnis, aber sie ermahnt ihn auch zur Klugheit.
Auf dem Heimweg kommen ihm Zweifel, ob er nicht zu viel erzählt hat. Sie ist ja immerhin Lehrerin, also Vertreterin eines aggressiven atheistischen Staates! Wollte sie ihn nur aushorchen? Aber nein, Oma Rosi ist echt und vertrauenswürdig. Sie hätte ihm sicher noch mehr Hilfen gegeben, wenn sie gekonnt hätte. Später hat sie ihn manchmal gewarnt, wenn eine Kampagne auf die Schüler zurollte, bei der Werner einen Fehler begehen könnte. Als die sympathische alte Lehrerin an Krebs stirbt, wird das den Schülern am nächsten Tag in der ersten Stunde mitgeteilt. Werner trifft die Nachricht bis ins Innerste.
Bei ihrer Beerdigung sind viele Schüler und fast alle Lehrer in die Friedhofskapelle gekommen. Werner sucht sich einen Platz auf der Empore und als der Sarg hinausgetragen wird, spielt er auf seinem Flügelhorn einen Choral. Natürlich wird das von den Lehrern registriert, aber Werner ist dieser Dienst an Oma Rosi wichtig. Er muss es einfach tun.
Es gibt ein weiteres Lehrerehepaar, dem Werner viel zu verdanken hat. Ursula Rothe unterrichtet Latein und Deutsch, Christian Rothe, den alle Chrischan nennen, gibt Mathematik und ist in den ersten beiden Jahren sein Klassenlehrer. Bevor Werner in die elfte Klasse kommt, wird er jedoch aus dem Schuldienst entlassen, weil er nicht bereit ist, seine Mitarbeit im Kirchgemeinderat zu beenden. Damit ist er ein Opfer der zweiten Säuberungswelle an der Schule in der Lehrerschaft. Werner begegnet ihm später noch einmal und bedankt sich für sein faires und wohlwollendes Auftreten gegenüber den Schülern.
Er sagt: „Werner, Sie haben immer wieder viel riskiert, um sich ein klares Profil zu bewahren. Man weiß nie, wie lange die Kraft reicht, um einen geraden Weg durchzuhalten. Aber es jedem recht zu machen, um nicht anzuecken, kostet sehr viel mehr Kraft. Irgendwann fängt man an, Kompromisse zu machen, die man eigentlich gar nicht will. Auf einmal steckt man in einem Mechanismus, den man nicht mehr selbst steuern kann … Ich habe gemerkt, wie einsam man wird, wenn die anderen anfangen, auf Distanz zu gehen. Ja, es kostet einen hohen Preis, erkennbar und berechenbar zu bleiben. Ich wünsche Ihnen ganz viel Kraft für Ihren weiteren Weg und dass Sie doch noch das Abitur machen können. Denken Sie daran, Gott kann Ihnen die Kraft dazu schenken.“
In den folgenden Jahren hat der Lehrer in Rostock für einen Verlag an der Erstellung eines mecklenburgischen Wörterbuchs gearbeitet und konnte nur zum Wochenende zur Familie nach Hause kommen. So hat auch er einen hohen Preis gezahlt.
Seine Frau darf an der Schule bleiben. Ursula Rothe hat Werner in der Friedhofskapelle beobachtet und mitbekommen, dass ihm diese alte Lehrerin viel bedeutet haben muss. Sie lädt ihn zu sich nach Hause ein.
„Werner“, sagt sie, „ich merke doch, dass es dir nicht gut geht. Du hast nicht nur eine alte Freundin verloren, sondern auch mächtige Schwierigkeiten in der Schule. Im Kollegium wird immer wieder angesprochen, dass du eigentlich nicht an die EOS gehörst.“ Sie nimmt ihn in den Arm. „Werner, du kannst jederzeit zu uns kommen. Ich will dir gern helfen, soweit es in meiner Macht steht.“ Dann setzt sie sich ans Klavier und beginnt zu spielen, Klassik quer durch alle berühmten Komponisten. Werner empfindet dabei eine Geborgenheit, die ihm bisher völlig fremd war.
Darüber hinaus bietet die Lehrerin ihm praktische Hilfe an. Sie will vermeiden, dass Werner sich selbst eine Falle stellt. Als er einmal einen Aufsatz über „Walther von der Vogelweide und seine Bedeutung als Vorkämpfer für das Proletariat“ geschrieben hat, bittet Frau Rothe ihn dringend um einen Besuch.
Nach einer Tasse Tee sagt sie zu ihm: „Werner, den Aufsatz kann ich nur in den Ofen stecken. Wenn der so ins Kollegium geht, bist du erledigt. Du schreibst zwar viel über die Minnegesänge der damaligen Zeit, aber du darfst sie nicht verklären. Dass Walter von der Vogelweide sich immer wieder auf Gott bezieht, stimmt zwar, aber das hat bei dem Thema nichts verloren. Wichtig sind die Andeutungen in seinen Liedern, in denen er die geknechteten Menschen unter den herrschenden Verhältnissen beklagt. Du musst seine Kritik an Fürsten und dem Papst herausarbeiten, das habt ihr doch im Unterricht ausführlich besprochen. Du liebst doch die Musik, also beschreibe, wie sie im Klassenkampf eine wichtige Rolle spielen kann. Lass deutlich werden, dass du den Unterrichtsstoff verstanden hast. Komm, hier hast du Papier. Setz dich an den Tisch und schreib den Aufsatz neu, ich helfe dir dabei.“
Eine neue Kampagne wird in der Schule gestartet: „Freiheit für Jupp Angenfort!“ Jupp ist ein Funktionär der Kommunistischen Partei in Düsseldorf, der wegen Hochverrats ins Gefängnis kam. Bei einem Gefangenentransport konnte er fliehen und sich in die DDR absetzen. Bei einem Besuch in der Bundesrepublik ist er erneut verhaftet worden. Nun fordert die DDR seine Freiheit. Die Schüler sollen das mit einer Unterschriftenkampagne unterstützen. Der Aufruf, der dem Zentralkomitee der Partei zugeleitet werden soll, hängt am Schwarzen Brett – der Wandzeitung – und alle Schüler sollen darauf unterschreiben. „Wir fordern Freiheit für Jupp Angenfort“ ist da groß zu lesen neben weiteren politischen Erklärungen. Viele Namen stehen bereits unter dem Aufruf. Alle haben dem Druck nachgegeben und unterschrieben, nur Werners Name fehlt, weil er bei dieser unsinnigen Aktion nicht mitmachen will. Einige Tage wird er bearbeitet und auch Mitschüler versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass man sich nicht gegen alles stemmen kann. Wenn er sich für etwas Besseres hält, soll er doch die Schule verlassen …
Für Werner wird die Angelegenheit zu einer Art Glaubensfrage. „Herr, was soll ich tun?“ Es ist nicht die Angst, von der Schule zu fliegen, sondern die Angst, vor Gott zu versagen. Er will einfach nicht den Menschen mehr gehorchen als seinem Herrn. Werner weiß aber, dass er am nächsten Tag dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Es wird wieder endlose Diskussionen geben und irgendwann kommt es zu der angedrohten Konsequenz – nämlich zum Rausschmiss aus der EOS.
Ist es Gottes Eingebung oder nur Frechheit? Der Gedanke ist genauso verwegen wie gefährlich. Werner stellt sich den Wecker auf fünf Uhr früh, aber er kann sowieso kaum schlafen. Unruhig wälzt er sich hin und her. Kurz vor fünf steht er auf, stellt den Wecker ab und macht sich schnell fertig. An der Bushaltestelle nehmen die anderen Fahrgäste kaum Notiz von ihm; eine junge Arbeiterin schaut ihn kurz an – Werner entdeckt in ihrem Blick den Vorwurf: „Streber!“ An der Schule steigt keiner sonst aus. Die Tore sind bereits geöffnet, denn die Frauen vom VEB Gebäudereinigung wischen die Böden feucht und lesen Unrat mit den Händen auf.
Unbemerkt erreicht Werner den ersten Stock, in dem sein Klassenraum liegt. Die Namensliste hängt noch an der Wandzeitung. Plötzlich hört er Schritte den Seitengang entlangkommen. Mit einem kurzen Ruck ist der Zettel entfernt und verschwindet in der Jackentasche. Mit schnellen, vorsichtigen Schritten ist er wieder an der breiten Treppe und hastet nach unten. Die Jacke hoch in den Nacken gestellt, läuft er in einer anderen Gangart zurück zur Bushaltestelle. Niemand soll ihn von der Schule aus am Gang erkennen können.
Der Plan geht auf. Nach drei Minuten kommt der Bus Richtung Neubausiedlung. Die Zeit reicht aus, noch einmal nach Hause zu gehen, die Schulmappe zu holen und sich erneut an die Haltestelle zu stellen. Unschuldig begrüßt er die Schüler, die jeden Morgen mit ihm in diesem Bus sitzen. Den kurzen Weg zur Schule bummelt er absichtlich langsam dahin, bis er als Letzter die Klasse erreicht. So wird keinerlei Verdacht auf ihn fallen.
Natürlich wird in der Pause die Namensliste vermisst und die Aufregung ist groß. Alle angedrohten Bestrafungen haben den Aufruf aber nicht wieder zurückgebracht. Eine neue Protestliste für Jupp Angenfort hat es nicht gegeben.