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Hürdenlauf

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Der Schulstoff bereitet Werner keine Probleme. Er ist gut, ja der Beste in der Klasse und möchte gern auf die Erweiterte Oberschule gehen, wie das Gymnasium in der DDR heißt. Als der Vater von diesem Wunsch erfährt, erntet Werner nur Spott und Verachtung. „Wie kannst du nur so blöd sein, dir so etwas auszudenken? Du zeigst immer wieder, dass du gegen die da oben bist und nun willst du von denen gefördert werden … Wann wirst du endlich vernünftig? Lerne lieber einen anständigen Beruf! Bilde dir ja nicht ein, dass du weitere vier Jahre deine Füße unter meinen Tisch stecken und dich von meinem Geld satt fressen kannst.“ Der angedrohte Rausschmiss ist nicht ganz ernst gemeint, denn in der DDR kann man wegen der Wohnungsnot niemanden einfach aus dem Haus jagen. Aber die Ansage ist klar: Der Vater hat etwas gegen Werners Pläne, die EOS zu besuchen.

Als er – wie immer, wenn er im Zorn ist – in die nahe Gastwirtschaft entschwindet, nimmt die Mutter Werner zur Seite und sagt: „Wir kriegen das schon hin. Notfalls nehme ich noch einmal eine einfache Arbeit an, um dir was zum Anziehen und etwas Taschengeld zu verschaffen.“

„Nein, Mama, das will ich nicht. Du hast dich ein Leben lang abgeplagt, hast dich krank gearbeitet und kannst dir nun endlich als Invalide etwas Ruhe gönnen. Da will ich nicht, dass du dich für mich noch mehr ruinierst. Ich werde schon sehen, dass ich selbst etwas Geld verdienen kann. Wir können auch in diesen Dingen unserem Gott vertrauen – oder nicht, Mama?“

„Und ob, mein lieber Werner, wir haben einen großen Gott!“

Wie gut, dass seine Mutter so fest zu ihm steht. Aber was ist Gottes Weg mit ihm? In dieser Zeit der Entscheidung zieht er sich öfters in die Stille zurück, betet und sucht bei Gott eine Antwort. Er erwartet nicht, dass Gott mit Donnerstimme antwortet, er weiß jedoch, dass Gedanken, Bibelworte und Ereignisse solche Fingerzeige Gottes sind, die sich manchmal erst später als Reden Gottes herausstellen. Er wünscht sich das Wunder von Gott, dass er Abitur machen kann. Dafür braucht er einen Platz an der EOS.

Eines Tages ist es ihm, als würde Gott zurückfragen: „Abitur – wofür denn?“ Er erneuert vor Gott sein Versprechen, das er als Zwölfjähriger gegeben hat: „Ich will Missionsarzt werden.“ Plötzlich sprudelt es nur so aus ihm heraus: „Herr, ich bin überzeugt, dass du die Macht hast, entgegen aller Hindernisse mir eine Zulassung an die EOS zu schenken. Aber ich will diese Zulassung nur haben, wenn du mir danach auch einen Studienplatz für Medizin schenkst, damit ich Missionsarzt werden kann. Ich habe keine Mühe, dir zu vertrauen, dass du auch noch dieses Wunder geschehen lassen kannst, dass ich ein Missionsarzt werde. Aber das hat nur Sinn, wenn ich auch in ein Land der Dritten Welt gehen kann. Ich weiß nicht, wie – aber du schaffst das, wenn es dein Wille ist.“

Am nächsten Tag kann Werner sich in der Schule kaum konzentrieren. Was hat er da von Gott erbeten? War das nicht vermessen und gegen alle Realitäten? Mit keinem Menschen, nicht einmal mit der Mutter, kann er darüber sprechen. Er befürchtet, dass man ihn als eingebildet, übergeschnappt, ja weltfremd abstempelt. Doch in seinem Inneren spürt er eine leise Ahnung von Gewissheit.

Die Zulassung zur EOS wäre ein großes Wunder. Als größte Hürde erweist sich sein christlicher Glaube. Die DDR will nur die Jugendlichen weiterbilden, die treu ihrem Staat und bedingungslos der Ideologie des Marxismus-Leninismus ergeben sind. Werner ist weder der Pionierorganisation beigetreten, noch Mitglied der FDJ geworden; er wurde nur konfirmiert und hat nicht an der Jugendweihe teilgenommen, also kein Bekenntnis zum sozialistischen Staat abgelegt. Mit so einem Lebenslauf kann man sich bei einer Bewerbung für den höheren Bildungsweg nur lächerlich machen.

Als die Schule die Anträge für die Erweiterte Oberschule ausgibt, müssen sie manchem Schüler regelrecht „hinterhergetragen“ werden. Nur Werner nicht. Er geht ins Direktorenzimmer und erbittet einen solchen Antrag.

Der Direktor schüttelt den Kopf. „Du denkst doch wohl nicht, dass du mit deinen rückständigen Ansichten eine Chance hast. Du bist zwar der Beste in der Klasse, aber dir fehlt das glaubwürdige Bekenntnis zu unserm Staat. Erinnerst du dich nicht, was in den Beurteilungen deiner Zeugnisse immer wieder geschrieben wurde, dass du es mit deiner christlichen Einstellung in unserem sozialistischen, fortschrittlichen Staat nicht weit bringen wirst? Und – bist du in die FDJ eingetreten? Hast du die Jugendweihe besucht? Hast du deinen Aberglauben aufgegeben? Hast du dich geändert? Kein bisschen! Also vergiss es mit der EOS!“

Der Klassenlehrer, der sich immer wieder als bissiger Spötter gezeigt hat, ist von Werners konsequenter Haltung offenbar fasziniert. Er gibt ihm den gut gemeinten Rat: „Bleib doch hier an dieser Schule bis zur Zehnten. Mach als Klassenbester ein gutes Abschlusszeugnis und suche dir dann einen handwerklichen Beruf.“

Seit dem denkwürdigen Deal mit Gott ist Werner selbstbewusster und mutiger geworden. Er besteht darauf, dass der Direktor die Sekretärin anweist, ihm den Antrag für die EOS auszuhändigen. Als er das Formular zu Hause ausfüllt, geht es ihm nicht mehr darum, ob die Bewerbung Sinn hat, sondern mehr um die Frage: Wie wird Gott das hinkriegen? Was wird er in die Wege leiten, damit Hindernisse überwunden und Türen geöffnet werden? Werner hat zu einer tiefen inneren Gelassenheit gefunden.

Doch sein Glaube wird auf die Probe gestellt. Die Sommerferien gehen dem Ende entgegen. Nach und nach haben alle aus seiner Klasse, die sich für die EOS beworben haben, eine Rückmeldung bekommen. Fast alle sind angenommen worden. Und Werner? Bei ihm steigt die Spannung und er schwankt zwischen Zuversicht und drohender Katastrophe.

Dann, wenige Tage vor Beginn des neuen Schuljahres, liegt der so sehr erwartete und erbetene Brief im Postkasten. Als Werner ihn öffnet und überfliegt, kommen ihm die Tränen. „Wir gratulieren Ihnen, dass der Zulassungsausschuss Ihnen die Zulassung zum Besuch der Erweiterten Oberschule ermöglicht. Wir hoffen, dass Sie sich dieses Privilegs bewusst sind und sich seiner würdig erweisen. Wir erwarten, dass Sie Ihren Dank an unsere sozialistische Gesellschaft durch gute Leistungen und ein klares gesellschaftliches Engagement zum Ausdruck bringen werden.“

Immer wieder liest Werner diese Zeilen. Er ist glücklich, allerdings erkennt er auch die Fußangeln, die darin angedeutet sind. Ihm wird klar, dass die nächsten vier Jahre nicht leichter, sondern härter und herausfordernder werden. Dieser Herausforderung will er sich gern stellen, weil er ein klares Ziel hat.

Dann der erste Tag in der EOS. Bisher war er immer Klassenbester. Nun sitzt er in einer Klasse inmitten von vielen Klassenbesten und schlagartig wird ihm bewusst, dass jetzt ein Rennen beginnt, bei dem einige auf der Strecke bleiben werden. Wer wird wohl beim Abitur in vier Jahren noch dabei sein?

Werner ist fasziniert von dem Schulgebäude. Früher war es ein Kloster und dann die „Alte große Stadtschule“ Wismars. Das Backsteingebäude verbreitet ein besonderes Flair. Immer noch stehen da die alten Schulbänke mit den Klappstühlen und den Aussparungen für die Tintenfässer in der Tischplatte. Wie viele Schüler werden hier schon gekämpft haben – die einen mit dem Lernstoff, die anderen mit dem Schlaf? Hat hier schon mal ein Genie gesessen oder hat ein angehender Mediziner Latein gepaukt?

Die Klingel reißt ihn aus seinen Träumen. Der Tag beginnt mit einer Feierstunde in der altehrwürdigen Aula, die ebenfalls dieses Flair aus längst vergangener Zeit verbreitet. Doch schnell wird Werner klar, dass er im Jetzt und Hier, im höheren sozialistischen Bildungswesen angekommen ist. Der Direktor am rot bezogenen Rednerpult erklärt mit viel Pathos, dazu lang und ausschweifend, die Zielsetzung der Schule. Hier sollen die Schüler zu verantwortungsbewussten sozialistischen Kadern der Zukunft auf dem Weg zum Sieg des Sozialismus ausgebildet werden. Mit Pflichtbewusstsein und aus Dankbarkeit für das besondere Privileg werden sie hier den Bildungsauftrag der Sozialistischen Einheitspartei erfüllen. Er lässt keinen Zweifel aufkommen, dass jeder, der sich gegen diese Vorgaben äußern sollte, keine Chance hat. Drohungen wechseln mit Utopien über die Gesellschaftsordnung der Zukunft ab.

Werner schaut sich um. In den ersten beiden Reihen sitzen die Lehrerinnen und Lehrer, die mit starrem Gesicht die Rede über sich ergehen lassen. Dahinter die Schüler der höheren Jahrgänge, zu denen die Neuen noch ehrfürchtig aufblicken. Aber auch ihre Gesichter verraten, dass sie die Vermahnungen des Direktors schon allzu oft gehört haben. Entsprechend der vorgeschriebenen Kleiderordnung tragen sie fast ausnahmslos die blaue Kluft der FDJ. Die Rede bringt es unmissverständlich auf den Punkt: Die Kleiderordnung ist nicht nur ein Symbol für die politische Gesinnung, hier wird auch vorgegeben, was zu denken, für wahr zu halten und was zu tun ist. Jeder Individualismus, der auch nur in den Verdacht kommen könnte, an diesen vorgegebenen Regeln und Grenzen zu kratzen, hat keine Chance an der Schule. Er würde unweigerlich geahndet und bekämpft werden.

Mit dem Besuch der EOS ist die erste Hürde zum Missionsarzt genommen, doch was nun folgt, ist der reinste Hürdenlauf. Zum einen muss sich Werner sein „Studium“ selbst verdienen. Die Schule ist zwar kostenlos, aber alle nötigen Ausgaben eines Heranwachsenden muss er selbst bestreiten. Der Vater gibt kein Taschengeld und die Mutter kann ihm kaum etwas zustecken. So verdient er sich einige Mark mit Flaschen- und Papiersammeln, was in der DDR entlohnt wird, weil das wichtige Rohstoffe sind. Im Frühjahr geht er auf die Felder der LPG zum Rübenverziehen, im Winter arbeitet er an den Wochenenden in der Zuckerfabrik und im Herbst meldet er sich zum Kartoffellesen. Das bringt zwar nicht viel Geld ein, aber Werner versteht es als Einübung in ein anspruchsloses Missionarsleben.

Wunder inbegriffen

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