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Walfisch und Posaunen
ОглавлениеWenn die Mutter am Sonntag jedem ihrer drei Jungs – Werner bekam noch einen jüngeren Bruder, Harry – zwanzig Pfennig gibt, um mit dem Bus zur „Gemeinschaft“ in die Innenstadt von Wismar zu fahren, steht der Vater oft an der Tür und sagt mit listigem Gesicht: „Ich gebe euch eine Mark fürs Kino, wenn ihr nicht in die Kirche lauft.“ Der Versuchung sind die drei aber nie erlegen. Die „Sonntagsschule“ ist ihnen wichtig.
Dabei ist Werner durchaus kein kleiner Heiliger. Er streift gern mit Freunden durch die verfallende Altstadt von Wismar und sie verbringen viel Zeit auf dem Russenübungsplatz, der gleich hinter der Schule beginnt. Dort lässt sich so manches finden, was Jungs interessiert, auch wenn das nicht ungefährlich ist. Weil das Neubaugebiet, wo Werners Familie lebt, noch im Entstehen ist, gibt es auch da viel Abwechslung. Zwischen halb fertigen Häusern, abgestellten Baumaschinen und aufgewühlten Schlammwüsten läuft die Fantasie von zehnjährigen Jungen zur Höchstform auf. Werner und seine Freunde bauen Buden und Höhlen aus geklautem Baumaterial und sind mächtig stolz, wie gut sie sich in den halb fertigen Plattenbauten auskennen.
Ernst ist ihm ein guter Freund. Leider wohnt er in einem anderen Stadtteil und geht auch nicht in Werners Schule. Aber in der Landeskirchlichen Gemeinschaft haben sie sich kennengelernt und angefreundet. Oft sind sie mit den Fahrrädern unterwegs und erkunden die leicht hügelige Umgebung von Wismar. Sie fahren zum Strand oder lassen sich einfach vom Wind treiben – auch wenn der Rückweg dann sehr anstrengend wird.
Sport und Fußball interessieren Werner nicht so sehr, aber Technik dafür umso mehr. Wenn es darum geht, etwas zu basteln und auszutüfteln, vergisst er die Zeit. Stolz ist er, dass seine selbst gebaute Dampfmaschine und ein Modellsegelboot sogar im Unterricht als Anschauungsmaterial genutzt werden. Gestaltende Kunst und Musik liegen ihm noch mehr. So ist er auch im Zeichenzirkel der Schule aktiv, lernt Flöte und Geige. Später bringen sich Ernst und Werner selbst das Posaunenblasen bei. Geübt wird im Keller von Ernsts Familie, aber der Erfolg ist mäßig. Erst durch eine Posaunenfreizeit, an der sie in Thüringen teilnehmen können, lernen sie die Grundbegriffe und sind nun in der Lage, einfache Choräle zu spielen. Voller Eifer bauen sie einen Posaunenchor in der Gemeinschaft auf. Die Instrumente finden sie in einem hohen Schrank, dazu die legendären Notenbücher des Posaunengenerals Johannes Kuhlo.
Einmal fahren sie mit ihren Rädern an die Steilküste von Boltenhagen, die Flügelhörner auf dem Gepäckträger. Sehnsüchtig blicken sie über die Ostseebucht und versuchen im Dunst die Küste von Schleswig-Holstein auszumachen. Undenkbar, da jemals hinüberzukommen! Waghalsige Schwimmer oder Schlauchbootfahrer versuchen es zwar immer wieder, aber die meisten kommen nicht dort an. Es heißt, dass sie von Kampfschwimmern der Volksarmee unterwegs getötet würden. Aber man könnte ja einfach am Stand entlanglaufen und käme irgendwann in Kiel an … Doch der fünfzehn Kilometer breite Sperrgürtel vor der Grenze zur Bundesrepublik würde solcher Wanderung ein jähes Ende bereiten, wenn nicht sogar eine Verhaftung mit sich bringen. Denn jede Annäherung kann schon als versuchte Republikflucht ausgelegt werden. Traurig und bedrückt ist die Stimmung der beiden. Dennoch wollen sie irgendetwas machen, die Freiheit da drüben grüßen. Weil der Wind günstig ist, nehmen sie ihre Hörner heraus und spielen einige Choräle. Natürlich trägt der Wind die Melodien nicht übers Meer. Nicht mal die Grenzsoldaten scheinen sie gehört zu haben, zumindest werden die Jungs nicht belangt.
Immer wieder zieht es sie hierher an die Steilküste. Ein anderes Mal im Winter – die Wismarer Bucht ist zugefroren – wandern sie übers Eis zur unbewohnten Insel Walfisch. Das ist zwar auch nicht erlaubt, aber die beiden möchten ausprobieren, ob man vielleicht auch übers Eis in den Westen oder bis nach Dänemark fliehen könnte. Sie fühlen sich wie die Abenteurer und Entdecker, als die Insel langsam näher kommt und die Stadt Wismar mit ihren markanten Türmen der Nikolai- und Marienkirche im Dunst verschwindet. Der Puls geht schneller und sie merken den scharfen Wind nicht, der ihnen die Eiskristalle ins Gesicht weht.
Als sie die Insel erreichen, sind sie enttäuscht. Nur verschneites Gras, ein paar zerzauste Büsche, ein Leuchtfeuer, das die Einfahrt in den Hafen von Wismar regelt und auch am Tage ein mattes Licht aussendet. Das Wetter wird schlechter, es beginnt zu schneien und von Wismar ist nichts mehr zu sehen. Ernst meint zwar großspurig, dass er sich an der Sonne immer orientieren kann, aber die ist auch nicht mehr zu erkennen. Auch über ihnen und um sie ist nur noch eine trübe graue Masse. Also schnellstens zurück – genau in die Richtung, aus der sie gekommen sind. Aber bald sind sie sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich in Richtung Redentin laufen, von wo aus sie gestartet sind. Ihre Spuren sind nicht mehr zu sehen. Natürlich haben beide Angst, aber das wollen sie sich gegenseitig nicht eingestehen. Werner betet um Gottes Schutz, aber das jetzt mit Ernst gemeinsam zu tun, das ist ihm peinlich.
Plötzlich hören sie Motorengeräusch, den schweren Dieselmotor eines Schiffes. Ein Schiff? Auf dem Eis? Es ist der Eisbrecher, der die Fahrrinne zur offenen See hin frei hält. Mit panischer Angst starren sie in den Nebel, aber sie hören nur das Wummern des Motors und das Krachen und Knistern des Eises. Dann können sie den schwarzen Koloss fünfzig Meter hinter sich ausmachen.
„Der darf uns nicht sehen, sonst gibt es eine satte Strafe, los, hinlegen!“, ruft Ernst. Sie strecken sich der Länge nach auf das Eis, den Kopf zum Eisbrecher. Unter ihnen beginnt das Eis sich zu bewegen. Die Wellen des Eisbrechers setzen sich unter der Eisdecke fort, sodass diese sich leicht auf und nieder bewegt. Ein Knacken geht durch die Eisdecke, aber sie hält und die Bewegungen werden weniger. Im aufkommenden Dunkel können sie die Lichter des Dorfes sehen. Bald erreichen sie wieder sicheres Land.
Ein anderer Ort, an dem Werner und Ernst sich treffen können, um miteinander zu „spinnen“, ist ihre Höhle auf dem Russenplatz. Weil sie am Rande des Platzes liegt, gleich hinter dem durchgerosteten Stacheldrahtzaun, kommen die russischen Soldaten nicht bis hierher. Trotzdem wagen sich die Jungs auch manchmal bis an die Panzer und schweren Militärfahrzeuge heran. Mit acht Jahren raucht Werner dort seine erste Machorka. Das sind die üblichen Zigaretten, welche die russischen Soldaten selbst drehen. Ein Stück Zeitungspapier, zwei Fingerspitzen voll grobem Tabak aus der Hosentasche, die auf die Ausrisse gelegt werden. Dann wird kräftig auf den Rand des Papiers gespuckt und das Ganze zusammengedreht. Sie sitzen mit den Soldaten auf der Kette eines Panzers und paffen wie die Großen. Von dem beißenden Qualm wird den Jungen ganz übel. Die Soldaten lachen sich kaputt und schlagen ihnen kräftig auf den Rücken. Mit einer ganzen Stange „Pfeffi“ versuchen die beiden das Abenteuer vor ihren Müttern zu verbergen, aber der rauchige Geschmack quält sie bis zum nächsten Morgen.
Einmal erleben die beiden in ihrer Höhle eine brenzlige Situation. Ein Soldat schleicht bei einsetzender Dunkelheit mit zwei 20-Liter-Kanistern an ihnen vorbei zum Zaun. Dort wartet er geduckt. Was hat er vor? Endlich kommt ein Trabi angefahren, der schon hundert Meter vorher die Scheinwerfer ausschaltet und genau vor den Jungs hält. Ein jüngerer Mann steigt aus, blickt sich nach allen Seiten um. Er hält einen Beutel in der Hand, in der eine Schnapsflasche zu erkennen ist. Der Tausch gegen die Kanister ist schnell vollzogen und der Trabi knattert davon.
Inzwischen ist es fast dunkel und der Soldat stolpert genau in die Höhle der Jungen. Er ist ebenso erschrocken wie die beiden, fasst sich aber schneller. „Du Wodka wollen?“, fragt er und hält den Jungen die Flasche entgegen.
Sie lehnen ab und Ernst sagt geistesgegenwärtig: „Du Towarisch (Kamerad), wir Towarisch!“ Der Soldat legt verschwörerisch den Finger auf den Mund und verschwindet im Gestrüpp.