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Die unbekannte Akte

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Jeder DDR-Bürger hat eine Personalakte. Sie wird in der Schulzeit angelegt, dann weitergereicht an den Ausbildungsort und geht schließlich an den jeweiligen Betrieb, beziehungsweise in die Personalabteilung, die von der Stasi kontrolliert wird. Normalerweise bekommt niemand Einsicht in seine Akte, in diesem Jahr gibt es jedoch eine Neuigkeit, die alle Schüler der elften Klasse überrascht: Jeder bekommt die Beurteilung des aktuellen Schuljahrs zu sehen und soll sie gegenzeichnen. Diese Beurteilung ist deshalb besonders wichtig, weil man sich damit für das Studium bewirbt. Dem Antrag auf einen Studienplatz liegt neben dem Zeugnis diese Beurteilung bei – welche indirekt die Empfehlung der Schule zum Studium ist.

Die Beurteilungen werden in der letzten FDJ-Versammlung ausgeteilt und müssen unterschrieben werden. Eigentlich sind alle Schüler Mitglied der FDJ, sonst hätten sie überhaupt keinen Platz auf den EOS bekommen. Nur Werner und eine weitere Mitschülerin stellen eine ungewöhnliche Ausnahme dar: Als Einzige von über fünfhundert Schülern sind sie nicht in der FDJ.

Da Werner an jener FDJ-Versammlung nicht teilgenommen hat, bekommt er seine Beurteilung erst in der letzten Stunde vor den Ferien zusammen mit dem Zeugnis überreicht. Die „Empfehlung zum Studium“ ist niederschmetternd: „Werner ist ein sehr ehrgeiziger, seinen persönlichen Zielen gegenüber pflichtbewusster und hilfreicher Schüler. Seine gut entwickelte Fähigkeit im Denken nutzt er gerade in politischen Fragen noch nicht kontinuierlich genug aus. Sein Urteil gegenüber unserer Gesellschaftsordnung ist daher nicht positiv genug. Er wurde nicht Mitglied der FDJ und beteiligte sich trotzdem öfters an deren Veranstaltungen. Aufgrund seiner Leistungen ist zu erwarten, dass Werner sein Abitur mit „Gut“ abschließt. Versetzt nach Klasse 12.“

So weit die üblichen Kommentare auf dem Zeugnis. Dann legt Herr Sauermann, der Klassenlehrer, etwas zögerlich ein drei Seiten langes Schreiben vor, die eigentliche Beurteilung. Darin steht etwas von fehlender gesellschaftlicher Arbeit, von bewusstem Ignorieren außerschulischer Veranstaltungen, von fehlendem Klassenstandpunkt, keiner eindeutigen Haltung zur Friedenspolitik unseres Staates usw. Auch die Leistungen im entscheidenden Fach Staatsbürgerkunde seien nicht ausreichend. Im Grunde eine wortreiche Umschreibung, an diesen Schüler solle kein Studienplatz vergeudet werden.

Werner ist empört. „Das unterschreibe ich nicht! Es entspricht nicht der Wahrheit und nicht meinen Leistungen. Ich will Arzt werden und da werde ich ein Abitur mit der Note ‚sehr gut‘ brauchen. Das werde ich auch schaffen. Wichtig für einen Arzt ist nicht die gesellschaftliche Einstellung, sondern dass man die Menschen liebt und fachlich gut ist. An meinen Leistungen ist nichts auszusetzen. Außerdem habe ich mich an vielen außerschulischen Dingen beteiligt und mein guter Wille ist an vielen Aktionen im Unterricht und an der Schule zu erkennen.“

Werner unterschreibt nicht. Weil dadurch das Dokument nicht vollständig ist, bleibt Herr Sauermann etwas ratlos zurück.

Der letzte Schultag der elften Klasse endet mit dem obligatorischen Appell. Der Direktor zieht Bilanz, lobt die Lehrerschaft und den Sozialismus und tadelt gewisse Nachlässigkeiten unter den Schülern, die sich eingeschlichen haben. Vor allem ärgert es ihn, dass einige FDJ-Mitglieder zu solchen besonderen Festtagen nicht in der ehrenvollen Uniform der FDJ, also in blauer Bluse und schwarzer Hose oder schwarzem Rock, erschienen sind. Seine Stimme wird schneidend: „Wenn wir uns im nächsten Schuljahr hier wiedersehen, werde ich keinen Klub der karierten Hemden mehr dulden. Die FDJ-Organisation hat ein eindeutiges Statut, in dem die Kleiderordnung vorgegeben ist. Wer sich nicht daran hält, wird dies in seiner Beurteilung bitter zu spüren bekommen. Wir sind auf dem Weg, die Auszeichnung als vorbildliche sozialistische Oberschule zu bekommen, und da will ich hier keine Blümchenwiese und keine Klamotten des Klassenfeindes sehen …“

Werner kennt das Problem mit der Kleidung. Wenn besondere Festtage zu feiern sind, zieht er als Zeichen der Festlichkeit ein weißes Hemd an – aber blau wird er niemals erscheinen. Die Rede geht noch eine Weile weiter und der Direktor droht auch den Lehrern an, im kommenden Schuljahr werde von allen, von Schülern und Lehrern, ein erhöhtes Engagement für das Klassenbewusstsein gefordert. Werner kann kaum noch zuhören, so belastend wird ihm seine Situation deutlich. Hinzu kommt, dass sein Klassenlehrer Sauermann ihn aufgefordert hat, gleich nach dem Appell ins Direktorenzimmer zu kommen. Es gehe um seine Beurteilung.

Während alle Schüler erleichtert den Schulhof verlassen und sich auf die Ferien freuen, schleicht Werner mit gewisser Vorahnung zum Direktorenbüro. Die Sekretärin wartet schon und winkt ihn hinein. Der Direktor sitzt an seinem wuchtigen Schreibtisch, in seinem Rücken das bekannte Bild mit den Köpfen von Marx, Engels und Lenin. Früher gehörte Stalin auch noch dazu, aber der wurde Anfang der 1970er-Jahre aus der sozialistischen Ikone entfernt. Seitlich sitzt Sauermann. Er sieht so aus, als fühle er sich ebenfalls angeklagt.

Der Direktor sagt kühl: „Wigger, ich höre, dass Sie mit der Beurteilung für die Studienbewerbung auf Ihrem Zeugnis nicht einverstanden sind. Sagen Sie mir doch, was Sie daran stört.“

Werner zählt seine Beteiligung an gesellschaftlichen Ereignissen auf und erwähnt, dass er im Unterricht immer wieder als gutes Beispiel von den Lehrern gelobt worden sei.

Der Direktor meint zum Klassenlehrer: „Da können wir doch froh sein, dass wir an unserer Schule so fleißige Schüler haben.“ Halblaut beginnt er, die Beurteilung Zeile für Zeile durchzugehen. Als er im zweiten Teil der Beurteilung die vernichtenden Sätze über das gesellschaftliche Engagement liest, schaut er Sauermann an: „Habe ich nicht erst kürzlich beim Fahnenappell eine Belobigung für Herrn Wigger ausgesprochen und ihm ein Buchpräsent für besonderes gesellschaftliches Engagement überreicht? Das kann hier so nicht stehen bleiben! Veranlassen Sie, dass dies neu geschrieben wird.“ Als er sich wieder Werner zuwendet, klingelt das Telefon. Es muss eine dringende Sache sein, jedenfalls sagt der Direktor ziemlich erregt: „Ja, ich komme sofort.“ Er springt auf, geht zur Tür, dreht sich aber noch einmal um und fragt: „Herr Wigger, sind Sie bereit, unser Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen?“

Werner kämpft in diesen Tagen zwar immer noch um die richtige Entscheidung, aber er gibt eine Antwort, die den Direktor zufriedenstellt: „Ich bin bereits gemustert und habe die Einberufung für Rostock zugeschickt bekommen.“

„Na, dann ist ja alles gut – und auf Wiedersehen.“ Eilig geht er aus dem Raum und lässt einen erleichterten Werner und einen ziemlich frustrierten Herrn Sauermann zurück. Für Werner ist dieses Erlebnis eine Bestätigung für den Satz, den Jesus gesagt hat: „Wenn sie euch vor Statthalter und Könige führen, so sorgt nicht, wie oder was ihr reden sollt; denn es soll euch zur Stunde gegeben werden.“

Klassenlehrer Sauermann meint nur kurz angebunden: „Herr Wigger, kommen Sie in zwei Wochen ins Sekretariat. Wir werden Ihnen eine neue Beurteilung schreiben, die können Sie dann hier unterschreiben. Schöne Ferien.“

Mit beschwingten Schritten eilt Werner nach Hause und erwartungsvoll kehrt er vierzehn Tage später zum Direktorenbüro zurück. Unterwegs trifft er Armin, seinen Banknachbarn. Nach einem kurzen Hallo fragt der: „Wohin willst du?“ Werner erklärt es ihm und gemeinsam gehen sie zur Schule.

Die Sekretärin begrüßt ihn freundlich und meint: „Sie haben aber eine tolle Beurteilung bekommen. Bitte lesen Sie sich alles genau durch, dann unterschreiben Sie hier.“

Werner traut seinen Augen nicht, als er das neue Zeugnis der elften Klasse in Händen hält. Er zeigt es Armin, der ebenso das große Staunen bekommt. Die positiven Sätze zum schulischen Engagement sind geblieben, aber dann ist von hervorragender gesellschaftlicher Beteiligung, von reifer Persönlichkeit und aufrichtigem Standpunkt die Rede. Er unterstütze die Lehrer in gesellschaftlichen Aktivitäten der Schule und vertrete einen klaren, vorbildlichen Klassenstandpunkt. Werner versteht nicht, wie diese Wendung zustande gekommen ist, aber er unterschreibt mit Freuden und einem dankbaren Herzen.

Ein Blick in die Zukunft: An diese Superbeurteilung erinnert sich Werner, bereits in Rostock zum Studium, als seine Mutter 1973 im Scheidungsprozess angeklagt wird, die Kinder falsch erzogen zu haben. Nach 26 Jahren Ehe hat der Vater die Scheidung eingereicht. Er hat eine neue Partnerin gefunden, mit der er nun zusammenlebt, und will Werners Mutter so schnell wie möglich los sein. Untreue wurde in der DDR nicht als ausreichender Scheidungsgrund angesehen. Darum hat der Vater argumentiert, seine Frau habe es versäumt, ihre drei Jungen zu sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen. Stattdessen habe sie die Kinder zum christlichen Glauben gezwungen.

Werner will seiner Mutter helfen und erinnert sich an jene Beurteilung aus der elften Klasse, die ihm bescheinigt, was für ein einsatzfreudiger und gesellschaftlich anerkannter Mensch er ist. Damit sind die Anschuldigungen des Vaters nicht mehr stichhaltig, denkt er. Und so fährt er nach Rostock zur Uni und versucht, eine Kopie dieser Beurteilung zu bekommen.

Die Sekretärin im Dekanat der Uni blickt ihn verständnislos an: „Sie wissen doch, Herr Wigger, dass Personalakten nicht ausgehändigt, ja nicht einmal eingesehen werden dürfen. Ich kann Ihnen unmöglich eine Kopie überlassen, auch wenn Sie selbst den Wortlaut kennen.“

Werner nimmt allen Mut zusammen und schildert der Frau, in welcher schlimmen Lage die Mutter ist. Die Beurteilung könne sie entlasten. Daraufhin geht sie in das Archiv und kommt tatsächlich mit der Akte Wigger zurück. Sie legt den Ordner auf den Schreibtisch, blättert darin, bis sie das entsprechende Dokument findet, und liest mit verwundertem Gesicht die Beurteilung. Werner kann über Kopf nicht mitlesen, entdeckt aber, dass es da rote Unterstreichungen, Fragezeichen und Ausrufezeichen gibt. Schließlich fragt die Sekretärin: „Herr Wigger, wissen Sie denn, was in dieser Beurteilung steht?“

„Ja, natürlich, ich habe sie doch unterschrieben.“

„Nein“, antwortet sie, „ich kann Ihre Unterschrift hier nicht entdecken. Ich glaube nicht, dass Sie mit dieser Beurteilung Ihrer Mutter helfen können. Mir ist völlig unverständlich, dass sie mit so einer Beurteilung überhaupt einen Studienplatz bekommen haben.“ Damit schließt sie den Ordner und schüttelt nur noch den Kopf.

Werner wird klar, dass es neben den beiden Beurteilungen, die er kennt, offenbar noch eine dritte gibt, die hier in der Uni angekommen war und abgeheftet wurde. Aber wieso ist er trotzdem zum Studium angenommen worden? Ist das schon wieder so ein geheimnisvolles Wunder seines Gottes, der es gut gemacht hat, auch wenn die Menschen es böse meinten?

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