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„Die wollen ja betrogen werden“
ОглавлениеDer Lehrer für Staatsbürgerkunde (Stabü) – von den Schülern wegen seines Aussehens und Auftretens „Panzerpaul“ genannt – fährt wieder einmal eine Attacke gegen Werner. „Wigger, Sie nutzen den sozialistischen Staat nur aus. Sie wollen eine hohe Bildung, sind aber nicht bereit, die Prinzipien unseres Staates und die Lehre des Marxismus-Leninismus anzuerkennen. Unser Staat kommt Ihnen mit so vielen Vorteilen entgegen und Sie halten es nicht für nötig, sich aktiv für die Ziele unseres sozialistischen Staates einzusetzen. Ich sage es Ihnen ganz deutlich: Ich werde dafür sorgen, dass Sie bald von der Schule fliegen!“
Armin, seinem Banknachbarn, der sich öfters mit Werner solidarisiert, droht Panzerpaul gleich mit an: „Und ich warne Sie, holen Sie nicht die Kastanien für diesen Staatsfeind aus dem Feuer! Dann können Sie nämlich auch gehen. Mit solchen Elementen wie Ihnen werden wir ganz schnell fertig. Wir haben die Macht und entscheiden, wer in diesem Land die neue bestimmende Generation sein wird.“
Armin ist auch Christ, aber er hat sich eine andere Überlebensstrategie ausgesucht: nicht auffallen, alles mitmachen und im Inneren darüber lachen. „Keiner kann mir ins Herz sehen und was ich da über die aufgeblasenen Bonzen denke, das ist meine Sache. Ich habe deswegen keine Schuldgefühle oder Skrupel – die wollen ja betrogen werden! Es sind doch alles auch nur Lügner und Blender. Die sind so verachtungswürdig, dass man sie nur belügen kann.“ Man merkt, dass er sie nicht nur verachtet, sondern geradezu hasst. Umso skurriler ist es für Werner, wenn Armin wieder einmal ein Bekenntnis zum Sozialismus hinlegt, dass sich die Balken biegen.
Der Hass gegen das System liegt bei Armin aber noch tiefer. Sein Vater war Direktor eines großen Milchkombinats. Als der sich weigerte, in die Partei einzutreten, wurde er als Direktor entlassen und auf eine Milchannahmestelle im Landkreis geschickt. Eine hochintellektuelle Familie, die sich aber auf den Sozialismus ihren eigenen Reim macht. Werner schmerzt Armins zwiespältiges Auftreten, aber er will seinen Freund nicht ständig kritisieren. Umso mehr kämpft er für die Wahrheit und muss dafür viel einstecken.
Seine Mutter merkt natürlich, wenn er wieder gedemütigt und angespannt aus der Schule kommt. „Junge, hast du heute wieder für die Wahrheit eingestanden? Der Weg des Lammes ist der schmale Weg, aber er führt ans Ziel. Junge, sorg dafür, dass du erkennbar bist. Wenn die anderen von Anfang an wissen, wer du bist, wirst du viele Entscheidungen nicht mehr zu treffen brauchen. Dann ist klar, wo du stehst. Bleibe erkennbar, so wird dich der Herr erkennen, wenn er zum Weltgericht kommt.“ Die Mutter hat nie ein theologisches Buch gelesen, aber die Botschaft der Bibel kennt sie besser als mancher Prediger.
In der EOS-Zeit geht die Freundschaft mit Ernst in die Brüche. Ernst lernt Schiffsmaschinenbau und hat Kumpels gefunden, die nächtliche Saufgelage veranstalten und sich damit brüsten, ihre Mädchen gegenseitig auszutauschen. Werner versucht, den Kontakt nicht abreißen zu lassen, aber Ernst hat kein Interesse mehr an dem Klugscheißer, wie er Werner bezeichnet.
So wird Armin für Werner in der Oberschulzeit zum treuen Freund. Sie treffen sich abends und spazieren oft die halbe Nacht durch die Stadt und die Vororte von Wismar. Hier können sie ungestört über alles quatschen, was sie bewegt. Über die belastende Schulsituation, aber auch über Glauben und Bekenntnis. Dabei kommen sie zwar nicht auf einen gemeinsamen Nenner, aber sie können sich in ihrer Unterschiedlichkeit einfach stehen lassen oder ergänzen. Die abendlichen Spaziergänge sind nötig, weil sich die Jungen nicht bei Werner zu Hause treffen können. Armin wohnt die Woche über im Internat, wo ein ungezwungenes oder gar politisches Gespräch erst recht nicht möglich ist. Die beiden lieben ihren Gedankenaustausch in der freien Natur.
Ab und zu darf Werner am Wochenende Armin nach Hause begleiten. Die Besuche sind immer ein besonderer Höhepunkt für ihn.Armins Vater nimmt sich Zeit für die Jungen,fragt nach Erfolgen und Problemen der vergangenen Woche und hört wirklich zu. Er geht auf die Sorgen von Armin und Werner ein und redet mit ihnen wie ein Freund. Werner merkt, dass er hier ernst genommen wird, und er spürt schmerzlich, was ihm zu Hause fehlt. Er hat es schon immer geahnt, dass ein Vater noch etwas völlig anderes sein kann als das, was er in seiner Familie erfährt.
Später muss Werner sogar verkraften, dass sein Vater Informant der Stasi gewesen ist. Er bekam Geld, um in der Kneipe gezielt Männer zum Bier einzuladen, um sie auszuhorchen. Diese Nachricht trifft Werner wie ein Schlag, erklärt aber nachträglich einiges.
Zur EOS gehört in diesen Jahren, dass die Schüler neben der Schule zusätzlich einen Facharbeiterabschluss machen müssen. (Das hat sich später wieder geändert.) Allerdings kann man sich nicht für einen Beruf melden, der einen besonders interessiert – nein, man wird eingeteilt. Werner muss aufs Land und wird Facharbeiter für Rinderzucht. Nach vier Wochen Oberschule kommt eine Woche Ausbildung. Meistens besteht die aus zwei Tagen Berufsschule mit einem völlig anderen Lernstoff und drei Tagen Praxis in der kollektiven Landwirtschaft, der LPG.
Werner ist die Landwirtschaft nicht fremd, weil seine Mutter hin und wieder als Hilfskraft beim Bauern gearbeitet hat. Werner war schon als kleiner Junge oft mit auf dem Bauernhof. Auch wenn er seine Großmutter auf dem Lande besuchte, verliebte er sich regelrecht in die kleinen Küken, Gänse und Schafe. Nun soll er den ganz andersartigen Beruf eines Rinderzüchters erlernen. Werner gibt sich große Mühe, will auch hier mit guten Leistungen zeigen, dass er nicht kontra ist. Außerdem kann er bei der Gelegenheit den Traktorführerschein machen und damit auch ein Motorrad fahren. Doch halt: „Führerschein“ darf man in der DDR nicht sagen, weil „Führer“ ein nationalsozialistisches Wort gewesen ist … Darum nennt man das Dokument hier „Fahrerlaubnis“.
Wenn Praxistage sind, muss Werner bereits um vier Uhr aufstehen, denn die erste Arbeit ist das Melken. Im Frühjahr und Sommer sind die Kühe auf der Weide und in der Morgenkälte sind die Euter der Tiere praktische Handwärmer. Meistens wird aber schon mit Melkmaschinen gearbeitet. Werners Gewissenhaftigkeit kommt bei der LPG ins Wanken. Da Häuser, Maschinen und Tiere kein Privateigentum sind, fühlt sich letztlich keiner richtig verantwortlich. Die Gebäude verfallen, Maschinen werden heruntergewirtschaftet und die fehlende Liebe zu den Tieren quittieren diese mit weniger Leistung, Krankheiten und Bockigkeit. Eine der Kühe, für die er verantwortlich ist, wird bald kalben. Wenn es nicht heute Abend noch geschieht, dann in der Nacht. Werner will wissen, wer die Nachtwache für das Tier übernimmt. Er hört nur Ausflüchte und Beschwichtigungen. Als er am nächsten Morgen auf die Weide kommt, liegt die Kuh im Gras, das Kälbchen hängt ihr halb aus dem Körper und ist bereits gestorben. Die Anweisung seines Vorarbeiters: „Zieh’s raus und verscharre es unter dem Misthaufen. Muss ja keiner erfahren, dass wir ein Kalb weniger haben. Mal sehen, ob es die Kuh hier übersteht.“ Diese Gleichgültigkeit den Tieren gegenüber ist Werner unheimlich. Wie hätte sich wohl Albert Schweitzer in der Situation verhalten? Aber natürlich kann er als Lehrling in dieser organisierten Verantwortungslosigkeit nichts ausrichten.
Im Vergleich zu früheren Jahren ist das Jahr 1967 bisher ziemlich ruhig und emotionslos verlaufen. Ist das die Ruhe vor einem neuen politischen Sturm? Für heute ist in der großen Pause ein Fahnenappell angeordnet. Die Klassen stellen sich in einem großen Quadrat auf. Genau an den mit Kreide vorgezeichneten Linien stehen die Schüler in vier Reihen hintereinander und blicken gelangweilt zum Podest mit den Fahnen. Hier haben die Schul- und die FDJ-Leitung Aufstellung genommen.
Nach einer kurzen allgemeinen Begrüßung und dem Absingen der „Internationalen“ hält der Direktor die obligatorische Ansprache: Wie immer werden die Schüler mit blumigen Worten auf die Loyalität gegenüber dem Arbeiter- und Bauernstaat eingeschworen. Große, markige Sprüche, die bereits jeder auswendig kennt. Man ermahnt sie zur Dankbarkeit gegenüber dem Privileg, an einer Oberschule des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden studieren zu dürfen. Dann folgen einige organisatorische Ansagen.
Werner ist mit seinen Gedanken bereits ganz woanders, da bekommt er einen Rippenstoß von seinem Nachbarn, der ihm bedeutet, dass er gerade aufgerufen worden sei, nach vorn zu kommen. Als Werner mit hochrotem Kopf in das Zentrum des Appellhofes geht, hört er ungläubig den stellvertretenden Direktor Dreyer seinen Namen am Mikrofon nennen. Plötzlich ist Werner hellwach. Der stellvertretende Direktor berichtet vor der versammelten Lehrer- und Schülerschaft, Werner habe in zahllosen Freizeitstunden die Karten für den Erdkundeunterricht und das gesamte Lehrmaterial repariert und katalogisiert. Das gesellschaftliche Engagement sei beispielhaft und zu belobigen. Er sei ein Vorbild für hervorragende gesellschaftliche Arbeit an der Schule. Aus Dankbarkeit überreicht ihm der Direktor ein Buch mit rotem Einband: „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolai Ostrowski. Da das Buch im Unterricht sowieso behandelt wird, weiß Werner, dass es darum geht, dass sich die Arbeiter im sozialistischen Wettbewerb gegenseitig mit guten Leistungen zu übertrumpfen suchen und dadurch ihre Verbundenheit mit dem Staat zum Ausdruck bringen. Höchstleistungen mit geringstem Aufwand, aber übermenschlichem Einsatz.
Als Werner wieder in Reih und Glied steht und das Buch aufschlägt, entdeckt er im Innendeckel eine handschriftliche Würdigung seiner gesellschaftlichen Tätigkeit. Obwohl die Widmung vom Direktor unterschrieben ist, erkennt Werner an der Handschrift, dass der Text vom stellvertretenden Direktor geschrieben wurde. Irgendwie erfüllt ihn diese Belobigung beim Fahnenappell mit innerer Genugtuung. Sonst bezeichnet man ihn in der Schule häufig als Außenseiter und Verweigerer – aber heute sehen alle, dass er nicht grundsätzlich dagegen ist und für die Schule eine wichtige Aufgabe freiwillig übernommen hat.
Wie ist es dazu gekommen? Werner hat die Aufgabe, für den Geografieunterricht die benötigten Landkarten aus dem Kartenraum vom Boden der Schule zu holen. Immer wieder fällt ihm dabei der desolate Zustand der Karten auf und er fragt, ob er versuchen solle, die Karten zu reparieren. Sein Klassenlehrer Sauermann hat nichts dagegen. So verbringt Werner viele Nachmittage auf dem Boden und entdeckt dort eine wahre Schatzkammer. Die handwerklichen Arbeiten liegen ihm. Er bringt sich Werkzeug von zu Hause mit, klebt und flickt die Karten und repariert gebrochene Leisten.
Während die Karten vor ihm auf dem Boden liegen, versucht er immer wieder neue Städte und Flüsse, Inseln und exotisch klingende Länder zu entdecken. Er sucht die Orte, die er aus den Karl-May-Büchern kennt, entdeckt den Titicacasee, auf dem die Uhuru-Indianer mit ihren schwimmenden Schilfinseln leben. Erst kürzlich hat er davon gelesen. Aber auch lustige Namen, wie den Vulkan Popocatepetl und dass Honolulu tatsächlich die Hauptstadt einer Inselgruppe ist. Mit geschlossenen Augen träumt er sich über die Weltmeere und glaubt, den salzigen Wind und die Hitze der Wüsten zu spüren. Ob er diese Orte jemals mit eigenen Augen sehen wird? Er sucht die Städte und Länder, die in den Nachrichten vorkommen, und gewinnt so ein räumliches Bild von der Welt außerhalb der DDR. Weil ihm diese Arbeit so viel Spaß macht, hat er die Karten anschließend katalogisiert und neu geordnet. Jetzt ist es eine Freude für alle Lehrer und Schüler, mit einem Griff die richtige Karte für den Unterricht bereitzuhaben. Die Belobigung des Direktors war wirklich gerechtfertigt.
Auf dem Boden gibt es noch viel mehr zu entdecken: alte mathematische Lehren, Navigationsgeräte für die Seefahrt und verstaubte Garderobe. In einem Schrank, dem der Holzwurm schon kräftig zu Leibe gerückt ist, entdeckt er alte Bücher, darunter sogar einige Bibeln. Die älteste ist mit einem Ledereinband versehen und hat ein ordentliches Gewicht, aber vor allem die Jahreszahl darin bringt ihn zum Staunen – 1785! Als er Armin von seinem Fund erzählt, hat der sofort eine Verwendung dafür. „Nimm sie einfach mit – das ist doch nur eine Rettung von Kulturschätzen.“ Werner traut sich nicht, den Diebstahl zu begehen, auch wenn die Bibel vielleicht eines Tages weggeworfen wird. Bei seinem nächsten Besuch auf dem Boden vergräbt er sie zuunterst im Schrank – in der Hoffnung auf bessere Zeiten.
Das Buch „Wie der Stahl gehärtet wurde“ bekommt einen besonderen Platz auf Werners Bücherbord, es muss griffbereit sein. Man kann ja nicht wissen, wann ihm diese Belobigung noch einmal helfen kann.
Einen Satz der Hauptfigur Pawel Kortschagin hat Werner unterstrichen. Schon im Unterricht haben sie darüber gesprochen: „Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur ein einziges Mal gegeben, und nutzen soll man es so, dass einen die Schande einer niederträchtigen und kleinlichen Vergangenheit nicht brennt, und dass man sterbend sagen kann: Mein ganzes Leben, meine Kraft habe ich dem Herrlichsten in der Welt, dem Kampf um die Befreiung der Menschheit gewidmet.“
Das ist ihm wichtig, weil die Bibel das ganz ähnlich sieht. Das Leben ist einmalig. Es ist uns von Gott gegeben und hat einen einzigartigen Wert. Der Unterschied besteht darin, dass Christen nicht von einer Selbsterlösung des Menschen träumen. Vielmehr wissen sie, dass Gott ihnen die Befreiung von Schuld und Hoffnung auf eine ewige Erlösung durch Jesus versprochen hat. Dafür will Werner sich einsetzen, dass viele davon erfahren.
Eigentlich ist es ihm zuwider, ständig gegen den Strom zu schwimmen. Die meisten Eltern erziehen ihre Kinder in diesen Tagen so, dass sie sich anpassen. Sie sollen den Weg des geringsten Widerstandes gehen und die Realität der herrschenden Ideologie fraglos akzeptieren. Werners Strategie sieht anders aus: Er will sich nicht anpassen, aber trotzdem durch gute Leistungen Anerkennung finden. Wie steht es in der Bibel? Wir können unsere guten Werke vor den Menschen sehen lassen und sind dadurch auch für Gott ein gutes Aushängeschild. Es geht ihm nicht darum, sich bei den Lehrern einzuschmeicheln, sondern er will zeigen, dass Christen nicht dumm, rückständig oder weltfremd sind, wie sie immer hingestellt werden. Daher ist es für Werner eine Genugtuung, wenn er wegen einer guten Arbeit oder einer genialen Aktion gelobt wird.