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Montagmorgen auf dem Schulhof
Оглавление„Für Frieden und Sozialismus: Seid bereit!“, brüllt die Klassenlehrerin in die Unruhe der rückenden Stühle, weil sich die gesamte dritte Klasse zum Gruß von ihren Plätzen erhebt. Mit der ebenso gedankenlos zurückgerufenen Antwort „Immer bereit!“ beginnt der Unterricht. Doch eigentlich hat er schon zwanzig Minuten vorher begonnen.
Um 7.15 Uhr war nämlich, wie jeden Montag, Appell auf dem Schulhof. Jede Klasse war vollzählig angetreten, man sang gemeinsam das Lied „Spaniens Himmel breitet seine Sterne …“ und musste sich einige Tadel über das Verhalten in der letzten Woche anhören. Die Schülerinnen Straub und Wiegend wurden als Beste der Woche ausgezeichnet und dann lauschten alle gelangweilt und müde der Rede ihres Direktors. Von der Anstrengung der Arbeiterklasse im Kampf gegen die Kriegstreiber im Westen war die Rede, von Wachsamkeit gegen die Imperialisten, die unsere Betriebe sabotieren wollen, und von der gefährlichen Verdummung durch die Kirche hat er gesprochen.
Immer wieder fallen in letzter Zeit solche Bemerkungen gegen die Christen. Werner tun solche Worte weh. Er geht zum Kindergottesdienst in die Landeskirchliche Gemeinschaft und auch seine Mutter ist eine fromme Frau. Natürlich hat er keine Argumente gegen die haltlosen Vorwürfe, die so überzeugend klingen, aber er spürt, dass es nicht die Wahrheit, zumindest nicht die ganze Wahrheit ist. Doch heute kommt es noch schlimmer.
Frau Hafer, die Klassenlehrerin, will wissen, was der Direktor beim Appell gesagt hat. Schweigen. Einige Kinder schauen sich fragend an, andere blicken mit gesenktem Kopf auf die Bank.
Werner hat nur noch die Worte gegen die Kirche im Ohr, aber die will er nicht wiederholen. Krampfhaft überlegt er, was der Direx sonst noch gesagt hat, um auf ein anderes Thema zu kommen. Doch Frau Hafer, die aufgrund ihres Namens von den älteren Schülern nur „Pferd“ genannt wird, fährt fort: „Unser Herr Direktor ist sehr klug. Er weiß, dass die Kirche im Mittelalter die Hexen verbrannt hat, dass sie mit den Fürsten und Großgrundbesitzern zusammengearbeitet und die Wissenschaften verboten hat. Solange es die Kirche gibt, sind die Menschen nur verdummt worden. Lenin hat richtig festgestellt, dass Religion Opium für das Volk ist. Jede Religion ist schädlich und hat den Fortschritt nur behindert.“ Werner ist unglücklich. Er weiß, dass das so nicht stimmt, aber er kann nichts erwidern und er traut sich auch nicht, gegen die Lehrerin etwas zu sagen.
„Nun war doch gestern Sonntag“, fährt Frau Hafer fort, „wer von euch war denn gestern im Kindergottesdienst?“
Werner schießt das Blut in den Kopf, seine Hände werden nass und die Knie zittern. Muss er sich jetzt melden? Hat ihn gestern vielleicht jemand gesehen? Er weiß nicht, was er denken soll, alles wirbelt in ihm durcheinander – und da reckt er seinen Arm in die Höhe und meldet sich.
„Ach, sieh mal an“, so Frau Hafer. „Steh mal auf, dass wir dich alle sehen können.“
Werner hätte sich am liebsten irgendwo verkrochen. Ihm ist zum Heulen zumute, aber er zwingt sich, gerade zu stehen. Wie durch einen Schleier hört er die gehässige Stimme der Lehrerin. „Seht euch doch mal den Werner an. Er lernt an einer sozialistischen Schule und glaubt noch an solchen Quatsch. Jetzt lachen wir ihn mal alle kräftig aus.“ Nachdem die Mitschüler nur verstört in ihren Bänken hocken, wiederholt sie die Aufforderung und fängt selbst an zu wiehern wie ein Pferd. Zaghaft lachen die Kinder mit und einige zeigen mit dem Finger auf Werner, weil die Lehrerin es vormacht.
Werner schießen die Tränen in die Augen, weil er sich so elend und hilflos fühlt. Warum machen die alle mit? Es gibt doch noch andere in der Klasse, die manchmal mit zur Kinderstunde kommen. Warum hat keiner den Mut, mich zu verteidigen, wenigstens zu mir zu halten? Er fühlt sich wie in einem Strudel, es gibt keinen Halt, keine Hilfe. Es legt sich wie eine Last auf ihn: Du bist allein, du musst das allein durchstehen. Als er sich wieder setzt, schaut er sich vorsichtig um, aber keiner zeigt Mitgefühl oder hat einen aufmunternden Blick für ihn.
Nach dem Unterricht warten die anderen nicht auf ihn. Sonst sind sie oft laut schwatzend, manchmal sogar mit einem Lied auf den Lippen gemeinsam von der Schule in die Neubausiedlung gezogen. Haben sie vielleicht ein schlechtes Gewissen? Diese Feiglinge! Ganz langsam läuft Werner heim – er nimmt sogar noch einen Umweg durch die nahe gelegene Kleingartenanlage. Immer wieder quält ihn die Frage: Wer ist wirklich dein Freund?
Die Mutter weiß sofort, dass etwas vorgefallen sein muss. So geknickt kommt ihr Junge selten nach Hause. Sie drückt ihn an sich und fragt nur: „Erzählst du’s mir?“ Aber es dauert lange, bis Werner den Vorfall so schildert, dass sie nachvollziehen kann, was in der Klasse passiert ist. Es schnürt ihr das Herz ab, aber sie wird nicht in die Schule gehen, um ihn zu schützen. Sie ist als Flüchtling aus Westpreußen gekommen und hat Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Nie und nimmer wird sie gegen eine „Studierte“ ein Streitgespräch führen können. Ihre einzige Hilfe, die sie anbieten kann, ist ein stummes Gebet – und dass sie ihrem Werner über das wuschelige Haar streicht.
Als der Vater von der Werft kommt, erzählt Mutter, was sich in der Schule zugetragen hat. Er meint nur: „Das hast du von deinem frommen Gefasel. Hättest du mal deinen Westpreußenglauben dort gelassen. Der Glaube an einen Gott passt nicht mehr in unsere Zeit.“
Werner weiß auch, dass er von seinem Vater keine Unterstützung bekommen wird. Ganz im Gegenteil: Manchmal redet der so hässlich über Gott, dass die Mutter warnt: „Gott vergisst den Spott nicht.“ Aber darüber lacht der Vater nur und macht noch mehr abfällige Bemerkungen über den Glauben. Wenn die Mutter abends mit den Kindern singt und betet, schließt sie meistens die Kinderzimmertür hinter sich, weil sonst der Vater hereinkommt und spottet. Manchmal schraubt er sogar die Sicherung heraus und die Abendandacht muss bei Kerzenschein fortgesetzt werden.
Als Werners Bruder Bernd bei der Matthias-Thesen-Werft eine Lehre zum Schiffsmaschinenbauer beginnt, gibt der Vater dem Lehrmeister den Tipp, die anderen Lehrlinge sollten seinem Sohn den unsinnigen Glauben austreiben. Die wüssten sicher, wie man so etwas macht …
Werners Mutter ist zwar eine einfache Frau, aber ihr Leben ist von einem innigen Gottesglauben geprägt. Daher versucht sie, ihren Söhnen eine andere Ideologie mitzugeben, auch wenn sie das so nie sagen würde. „Versucht, in jedem Menschen ein Geschöpf Gottes zu entdecken. Jeder Parteisekretär oder Direktor ist zuerst ein Mensch – und dann erst das, was er sagt und was ihn ausmacht.“
Solche Sätze, die von der Mutter auch so gelebt werden, haben Werner geprägt. Später fährt er einmal mit dem stellvertretenden Direktor, der auch den Zeichenzirkel leitet, in eine Gemäldegalerie nach Schwerin. Unterwegs reden sie über allerlei persönliche Dinge und Werner stellt fest, dass auch der Direktor Sorgen hat und gar nicht so stark und unnahbar ist wie in der Schule. Er merkt, dass der Lehrer zwar „linientreu“ ist, aber nicht aus Überzeugung. Das verändert seine Einstellung zu diesem Mann. Die Situation in der Schule bessert sich dadurch allerdings nicht. Werner wird mehr und mehr zum Außenseiter.