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Der Ferdl-Faktor
ОглавлениеNiemand kennt den Skifahrer Marcel besser als sein Papa, Ferdinand Hirscher. „Unsere Füße empfinden gleich“, sagt der berühmteste Schnauzbart im österreichischen Sport. Damit ist eigentlich fast alles gesagt. Schon als Zweijähriger steht Marcel auf den Ski. Sein Gleichgewichtssinn und die Art, wie er schon als kleiner Knirps mit Schnuller im Mund bremst, sind für sein Alter „nicht normal“. Marcel steht im Winter nur dann nicht auf den Ski, wenn er in der Schule ist oder schläft. „Aber wir dachten keine Sekunde daran, dass er ein Profi-Rennfahrer werden könnte“, sagt Ferdl.
Nach einer kurzen Nachdenkpause gesteht der Papa aber: „Es war unwahrscheinlich, wie schnell der Bub skigefahren ist. Es war unglaublich. Marcel hat Rennen oft mit zehn Sekunden Vorsprung gewonnen.“ In diesem Zusammenhang fallen Ferdl vor allem die österreichischen Schüler-Meisterschaften in der Kombination in Turnau ein. Bei der Besichtigung macht Ferdl Marcel auf einen Hügel aufmerksam, warnt ihn vor zu viel Risiko an dieser Stelle. „Er ist trotzdem drüberradiert und in den Wald gefahren. Marcel fuhr vom Wald zurück auf die Piste und fuhr weiter ins Ziel. Bei der Siegerehrung haben sie ausgerufen: ‚Staatsmeister in der Kombination: Marcel Hirscher!‘ Was da für ein Wirbel war, alle dachten, dass das unmöglich sei, der Hirscher ist ja im Wald gestanden. Aber er war trotzdem der Schnellste.“ Aber denkt man sich als Papa nicht spätestens dann: Okay, aus dem könnte wirklich einmal ein Großer werden? Doch Ferdl dachte und denkt ganz anders: „Nein! Man muss sich doch nur anschauen, wie viele Talente es NICHT ganz nach oben geschafft haben. Wie oft hört man in allen möglichen Sportarten: Wahnsinn, da kommt ein Talent daher! Aber ein Kreuzbandriss reicht und die Sache kann erledigt sein. Wir haben immer den Ball flach gehalten, waren immer zurückhaltend. Wollten nie, dass Marcel als Kind mit irgendwelchen großartigen Ski-Team-Austria-Rennanzügen herumläuft. Uns war immer nur wichtig: eine solide technische Ausbildung, die Basis muss passen, das Rüstzeug. Der Rest ist nicht immer steuerbar, nicht vorhersehbar.“
Außerdem gibt es auch viele Tage, an denen nicht alles so lustig ist. „Wenn der kleine Bub stürzt und vielleicht sogar blutet, dann denkst du dir: Was tust du dem Kind eigentlich an?“ Und auch die Belastungen, denen Marcel im Laufe der Jahre durch seinen Ruhm und seinen Bekanntheitsgrad ausgesetzt ist, sind für die Eltern natürlich nicht immer schön mitanzusehen. „Schwierig, wenn man derart fremdbestimmt leben muss. Der war beleidigt, der war beleidigt. Da dachte sich Marcel oft: Okay, dann mach ich halt das auch noch. Mit derartigen Begleiterscheinungen war natürlich niemals zu rechnen. Wir haben das Rennfahren ja aus Spaß an der Sache gemacht!“ Unterm Strich: „Würdest du alles wieder so machen, Ferdl?“ Die Antwort: „Ich weiß es nicht. Das Drumherum ist schon sehr zäh. Da werden einige sagen: ja, was jammert der denn, der verdient einen Haufen Geld damit. Aber wir haben das wegen unserer Leidenschaft fürs Skifahren und für die Bewegung in der Natur gemacht! Und nicht wegen irgendeinem Geld. Auf der anderen Seite: Ja, ich würde alles wieder so machen. Denn gibt’s was Schöneres, als einen herrlichen Riesentorlauf zu fahren, mit dem Tempo und den Fliehkräften zu spielen …?“
Ferdl muss nicht einmal vor Ort sein, um stets Marcels wichtigste Stütze bei der Wahl des richtigen Materials zu sein. „Ich brauch nur Videos vom Schnee zu sehen und wie die Ski drauf liegen. Im Laufe der Jahre hab ich halt ein Auge dafür entwickelt.“ So ist es unzählige Male. Marcel – der nur wenige Schwächen hat, eine davon ist allerdings mangelnde Entscheidungsfreudigkeit – überlässt Ferdl sehr oft die Letztentscheidung bei der Materialwahl. Vor allem in heiklen Situationen.
So ist es auch bei Olympia 2018 in Südkorea. Eine Reise nach Pyeongchang ist für den Papa ausgeschlossen, denn er hat Flugangst. Ferdl bleibt daheim in seiner Skischule (freeride-alpin) in Annaberg und leidet aus der Ferne mit, weil Marcel in den Abfahrtstrainings mit dem Finden des richtigen Setups kämpft. Im Endeffekt finden Marcel und sein Team beim letzten Training den Stein der Weisen und legen damit die Basis für Kombi-Gold. Nach dem Rennen bittet ein ORF-Team Ferdl in Annaberg zum Interview. In diesem Moment ruft Marcel aus Südkorea an, Ferdl hebt ab und heult wenige Augenblicke später vor Glück drauf los. Es sind Bilder, die zu den schönsten und emotionalsten in Marcels Karriere zählen.
Ferdls Akribie beim Suchen nach den entscheidenden Hundertsteln, sein „Material-Wahn“, wie es selbst Marcel bezeichnet, all das hat den Ursprung in der Kindheit. Denn Ferdl wäre selbst gerne ein Weltcup-Rennläufer geworden, von seinem Elternhaus gab es allerdings nur wenig bis keine Unterstützung. Bei einem Rennen auf Landesniveau fuhr Ferdl, damals 16 Jahre alt, gemeinsam mit David Zwilling (dem späteren Abfahrts-Weltmeister 1974) mit dem Schlepplift. Zwilling sah sich die Ausrüstung seines Mitfahrers an und meinte: „Ich glaub, es wär g’scheiter, du bleibst daheim mit dem Material.“ Ein prägendes Erlebnis. „Papa wollte danach seinen Kindern um jeden Preis so ein Schicksal ersparen“, erzählt Marcel. „Ohne ihn als Triebfeder wäre ich niemals so erfolgreich geworden. Nur so wurde möglich, was jetzt auf meinem Datenblatt steht.“ Ferdls Motto lautete: „Immer weiter, immer weiter! Wir sind noch lange nicht fertig, noch lange nicht am Ende.“ Den Satz ‚Es geht nicht besser‘ duldet Ferdl einfach nicht und steht damit in krassem Gegensatz zu all denen, die viel zu schnell zufrieden sind.“ So viele Jahre hat Marcel diese unermüdliche Unterstützung erlebt, erleben dürfen, doch er ist noch immer davon fasziniert: „Diese Genialität und dieser Wille, den Papa tagtäglich gezeigt hat, ist nach wie vor unglaublich beeindruckend für mich. Gutes war niemals gut genug.“
Der Papa gibt die Blumen aber umgehend an den Junior zurück: „Wenn man miterlebt, wie ein Athlet schon in der Vorbereitung derart massiv körperlich schuftet, dann ist ihm sein Umfeld schuldig, ebenfalls eine Topleistung zu liefern. Marcel hat mit seinem Biss alle mitgerissen. Ansonsten wäre es unmöglich gewesen, diese Intensität über so viele Jahre zu halten und immer hungrig zu bleiben.“ Und wenn Ferdl übers Materialtüfteln spricht, dann leuchten seine Augen sowieso: „Das hat doch einen Zauber, wenn man sieht, was man alles aus dem Material rausholen kann.“ Auch der Einsatz von Schneemobilen beim Training, um möglichst viele Fahrten zu absolvieren und die Abläufe zu optimieren, geht aufs Konto der Hirschers. Und dass Marcel und Ferdl auch noch beim Besichtigen der Strecke vor dem Rennen zwei bis drei Paar Ski direkt auf der Piste mit dabei hatten, zählte sowieso fast zum Alltag. Ein Musterbeispiel für die Pionierarbeit von Ferdl auf dem Materialsektor ist der von ihm ab 2010 entwickelte Schlagschutz für die Slalom-Skistecken. Aus Plastilin und einer Glasfasermatte bastelte Ferdl einen Prototypen, den er dann mit der Firma Komperdell umsetzte und salonfähig machte. Wenig später fuhr die gesamte Weltelite mit dieser Innovation.
Mikes Tagebuch-Eintrag, 16. August 2018:
Ferdl! Eine ungemein interessante Person mit zwei Gesichtern, mit zwei Welten. Auf der einen Seite: ein (Ski-)Verrückter durch und durch! Vollste Professionalität, alle Regeln werden eingehalten, ein Programm wird abgespult, alles wird für Marcels Erfolg untergeordnet, da gibt es kein Links- oder Rechts-Abweichen. Das Motto: Geht nicht, gibt’s nicht, alles wird hinterfragt! Scheinbar unmögliche Sachen werden umgesetzt. Auf der anderen Seite: Ferdl ist als Privatperson ungemein offen und interessiert an verschiedensten Themen. Prinzipiell ist er, wie Marcel, das Gegenteil eines Rockstars: keine Alkoholpartys, keine Skandale. Einfach alles gut bedacht, sehr bodenständig, er bildet sich nicht ein, jemand Besserer zu sein. Fanatismus und Perfektionismus, gepaart mit einer gesunden Portion Menschlichkeit und Freundlichkeit – das sind Ferdls zwei Gesichter. Und gleichzeitig auch jene von Marcel! Die beiden können sich wirklich nicht abstreiten! Marcel ist eben ein Produkt aus Ferdl und Sylvia. Auch sie sieht die Sachen immer sehr nüchtern, ist immer total bescheiden, lieb – halt eine richtige Mama!