Читать книгу Lacroix und die Toten vom Pont Neuf - Alex Lépic - Страница 13

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Es war nur ein kurzer Fußweg vom Pont Neuf bis zum Chai. In der Rue de Buci war es ruhig, nur ein Kellner schichtete Eis auf die Tische, die vor dem Restaurant standen und auf denen später Austern, Langusten und Seespinnen ruhen würden, bevor sie auf den Tellern der Touristen landeten. An der Ecke öffnete Alains Obstladen, sein Sohn schob eben den Rollladen hoch, die Früchte des Herbstes leuchteten. Späte Aprikosen, Pflaumen, die ersten Kürbisse.

Lacroix liebte diese Straße, sah schräg gegenüber das Hotel La Louisiane, in dem Sartre und Beauvoir zusammen abgestiegen waren. Die zweihundert Meter Straße atmeten so viel Geschichte – das gab es nur in Paris.

Lacroix war lange nicht mehr so früh hier gewesen, er war sich sicher, dass er einer der ersten Gäste sein würde. Doch als er das Bistro betrat, herrschte bereits ein Stimmengewirr wie am helllichten Tag. Die Kaffeemaschine dampfte, Tassen und Gläser klirrten, und Yvonne hinter dem Tresen war in ihrem Element.

Morgens herrschte im Chai eine ganz andere Stimmung als mittags oder am Abend. Es waren einfache Leute hier, die auf dem Weg ins Büro oder in den Laden ihren ersten café tranken. Meist kamen sogar die Männer von der Müllabfuhr und die Straßenfeger kurz herein, um einen café serré zu trinken oder den ersten Pastis des Tages.

Als er sah, dass auch die Troika schon versammelt war, lächelte Lacroix. Es war der erste schöne Augenblick dieses Tages, der so furchtbar begonnen hatte.

»Alle da, um …«, er sah auf die Wanduhr, »Punkt acht. Seid ihr aus dem Bett gefallen?«

Yvonne kam um den Tresen herum und begrüßte den Commissaire mit Küsschen. Idefix trottete hinter ihr her und strich ihm um die Beine.

»Salut, Bruderherz«, sagte Pierre und gab seinem Bruder die üblichen Küsse zur Begrüßung. Und auch Alain war schon im Bistro statt in seinem Geschäft. Der Mann war 84 Jahre alt und hatte den Laden längst seinem Sohn Jean übertragen. Trotzdem stand er häufig von morgens bis abends hinter der Ladentheke – oder viel lieber direkt auf der Rue de Buci, um sich über den neuesten Klatsch und Tratsch auszutauschen, um zu sehen und gesehen zu werden. Sie saßen fast jeden Morgen hier zusammen, die Troika der drei alten Männer, die eigentlich eine Quadriga war, denn Yvonne zählte längst dazu, weil sie mehr Zeit bei den Herren verbrachte als hinter der Theke. Und dennoch wartete keiner der Gäste länger als zwei Minuten auf seine Bestellung. Lacroix fragte sich jedes Mal aufs Neue, wie sie das machte.

»Café?«

»Sehr gern. Und eine heiße Zitrone. Ich bin komplett durchgefroren.«

»Ihr habt eine neue Leiche, oder?« Alain war mal wieder bestens informiert. »Ich habe die Sirenen gehört und bin kurz vorgelaufen zur Académie française, und da habe ich das Blaulicht gesehen. Wieder ein Clochard?«

»Ja. Ein Mann aus dem Norden.«

»Wie ist er gestorben?«, fragte sein Bruder, wohl hoffend, dass es nicht wieder so ein brutaler Mord war.

»Die Wunde sah noch schlimmer aus als die von gestern.«

Pierre-Richard schaute nachdenklich drein, griff zu seiner Tasse mit dem café crème, den er so gern mochte, und trank in kleinen Schlucken.

»Das ist ja furchtbar«, sagte er nach einem Moment der Stille. »Wir werden heute Abend in der Messe für die Obdachlosen der Stadt beten.«

Yvonne schaltete sich ein. »Mein lieber Commissaire, zwei Tote in zwei aufeinanderfolgenden Nächten. Das klingt gar nicht gut …«

Lacroix nickte.

»Ich erinnere mich«, begann Alain, »dass es in den späten Achtzigern eine ähnliche Mordserie gab. Ganz in der Nähe. Ich bin damals auch befragt worden, weil ich immer sehr früh im Laden war. Aber ich hatte leider nichts gesehen.«

Lacroix war wie immer überrascht von Alains Erinnerungsvermögen. Der alte Mann kannte zu jedem Fall seine Entsprechung in der Geschichte der Stadt und konnte sie auswendig erzählen.

»Wenn du schon darauf kommst, wird Le Parisien spätestens morgen früh damit aufmachen …« Lacroix seufzte.

»Aber warum sucht sich ein Serienmörder ausgerechnet den Pont Neuf aus?«, fragte Yvonne.

Lacroix zuckte bei dem Wort Serienmörder zusammen. Sie alle kannten seine Skrupel, einen Fall einem Serienmörder zuzuordnen. Denn das widersprach seiner Methode. Lacroix’ Expertise war es, die Seelen der Opfer und der Täter zu ergründen, so lange zu reden, zu wühlen, zu suchen, bis er ein Motiv fand, Wut, Habgier, Eifersucht, Hass. So arbeitete er, so dachte er. Ein Serienmörder tötete in der Regel völlig wahllos, es gab meistens weder eine Verbindung zwischen Täter und Opfer noch eine zwischen den Opfern. Und das machte die Ermittlungen so schwierig. Außerdem mochte Lacroix es nicht, wenn vorschnell geurteilt wurde.

»Ich meine«, fuhr sie fort, »er hätte doch überall zuschlagen können: Auf dem Boulevard Haussmann schlafen Hunderte Clochards, weiter unten an der Seine Richtung Eiffelturm auch, und da ist es viel ruhiger. Oder rund um Châtelet und am Georges Pompidou. Warum ausgerechnet am touristischsten Punkt der Stadt?«

Yvonne hatte recht. Auch Lacroix hatte sich diese Frage schon gestellt. Früher, als sein fiktiver Kollege Maigret noch ermittelt hatte, hatte es so wenig Clochards in Paris gegeben, dass die Polizei jeden einzelnen von ihnen kannte. Lacroix beneidete seinen prominenten Kollegen. Wie viel einfacher hätte das seine Ermittlungen gemacht! Doch heute, wo die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklaffte, hatte es viele Männer und Frauen aus dem normalen Leben an den Rand gespült, dazu kamen Flüchtlinge und Verrückte. Die Quais, die Trottoirs, die Gares waren voll von ihnen, die auf dem Boden lebten, sitzend auf den Pflastersteinen, liegend in ihren Schlafsäcken, die meisten dauerhaft betäubt von zu viel Wein und zu wenig Nähe.

Lacroix trank einen Schluck und spürte, wie ihn die heiße Zitrone mit einem Schlag von innen wärmte.

»Pierre, kannst du noch mal runter an die Brücken gehen? Ich würde gern wissen, ob auch andere deiner Schäfchen das tschetschenische Bruderpaar kennen. Die Brüder Pogorzelsky. Wir lassen gleich nach ihnen fahnden. Offenbar sind sie sehr brutal und geradezu gemeingefährlich. Und sie drangsalieren die anderen Obdachlosen.«

Pierre-Richard trank den letzten Schluck café crème. »Eigentlich wollte ich mir heute eine neue Soutane kaufen, im Priestergeschäft in der Rue Madame. Aber gut, die haben auch morgen noch auf. Ich gehe runter zur Seine, wenn die bettelnden Obdachlosen Mittagspause machen. Reicht dir das?«

»Vielen Dank!«

Sie standen noch eine Weile zusammen, und jeder hing seinen Gedanken nach. Außer Pierre, der unverhohlen eine schwedische Touristin anschaute. Sie war sehr attraktiv, ein paar Jahre jünger als er. Pierre lächelte sie an, er war in Zivil. Sie lächelte zurück. Lacroix beobachtete die Situation. Sein Bruder war nie ein großer Anhänger des Zölibats gewesen. Er würde seine große Pfarrwohnung gern mit jemandem teilen, aber die Regeln waren nun einmal die Regeln, und Pierre hielt sich daran, zumindest soweit Lacroix wusste.

Yvonne bediente an den Tischen auf der Terrasse, an die sich die ersten Touristen gesetzt hatten, auf der Suche nach einem herzhafteren Frühstück als jenem, das sie im Hotel vorgesetzt bekommen hatten. Es war Morgen geworden. Der ganz normale Pariser Alltag, nicht der Morgen der Frühaufsteher von vor einer Stunde. Draußen hetzten die Menschen vorbei in Richtung Metro Mabillon oder entgegengesetzt in Richtung Saint-Michel. Taxis hielten und fuhren wieder an. Nebenan wartete eine schwarze Limousine vom Typ Talisman auf ihren Fahrgast, einen Manager, der es sich leisten konnte.

Lacroix sah hübsche Mädchen mit wehendem Haar, einen Mann im schwarzen Anzug, das Telefon am Ohr, und zwei ältere Damen, wohlhabend, miteinander plaudernd auf dem Weg zum Einkaufsbummel. Darüber der graue Himmel mit den dicken Wolken, die dieser Stadt ihr zweites Gesicht gaben. Wie in einem Gemälde von Hopper. Nur eben mit hübscheren Menschen.

Paris. Seine Stadt. Er war zu Hause.

Lacroix und die Toten vom Pont Neuf

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