Читать книгу Lacroix und die Toten vom Pont Neuf - Alex Lépic - Страница 4

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Die Möwen hatten ihm gefehlt. Sie waren der Beweis, dass seine Stadt eben doch am Meer lag. Die Normandie war ganz nah, der Fluss zu seinen Füßen führte dorthin. Die Möwen waren die Botschafter des Atlantiks. Sie flogen über ihnen, als sie an der Buchhandlung Shakespeare and Company vorbei- und weiter an der Seine entlangfuhren. Sie flogen tief, bald würde es Regen geben. Heute wohl nicht, aber vielleicht in der kommenden Nacht?

Über den Quai des Grands Augustins rauschte der Verkehr. Die Roller schlugen aus wie Hasen, wenn sie versuchten, sich zwischen weißen Transportern und knallbunten Kleinwagen vorbeizuschlängeln. Lacroix und seine Kollegen stiegen aus und betrachteten die Szenerie. Die Einfahrtsstraße über den Pont Neuf war offen, die Verkehrspolizisten hatten nur den Zugang zur kleinen Uferpromenade abgesperrt. Von einem toten Clochard wurde nicht viel Aufheben gemacht.

Dennoch drängelten sich die Touristen hinter der Absperrung. Vielleicht konnte man ja ein Foto machen. Die ganz besondere Urlaubserinnerung. Lacroix war es völlig fremd, dass jede menschliche Regung, jede Schönheit oder Hässlichkeit festgehalten werden musste. Am Ende, nach ihrer Reise, wussten die armen Teufel wahrscheinlich nicht einmal, in welcher Stadt sie gewesen waren, weil sie Paris nur durch die Kamera ihrer Telefone betrachtet hatten.

Lacroix zog noch einmal an der Pfeife, um kurz darauf die Glut am Geländer der Treppe auszuklopfen, die hinunter zum Ufer führte. Der Himmel war blau, doch voller kleiner weißer Wolken. Die Seine nahm die Sonne auf und warf sie als funkelnde Lichtfetzen zurück. Die Maler auf dem Quai würden später ihre Freude daran haben. Weiter vorn war schemenhaft Notre-Dame zu erkennen, der steinerne Justizpalast ließ nur einen schmalen Blick auf die Kathedrale zu. Der Quai des Orfèvres lag rechts von ihnen.

Warum wollte Mercier, dass ausgerechnet er diesen Fall übernahm? Der Commissaire général hätte seine eigenen Beamten zu Fuß schicken können. Lacroix hatte fast ein Jahrzehnt im Hauptquartier der Pariser Polizei auf der wunderschönen Île de la Cité gearbeitet. Dann hatte er um Versetzung gebeten, weil er sein eigener Chef sein wollte. Seit zwanzig Jahren leitete er nun das Kommissariat im fünften Arrondissement, und er hatte seine Entscheidung keinen Tag bereut.

Der junge Verkehrspolizist in der blauen Uniform hob den Arm zum Gruß, als Lacroix an ihm vorbeiging. Mit Rio und Paganelli im Schlepptau stieg er die Treppe hinunter. Der Justizpalast verschwand hinter der Quaimauer, und sie tauchten ein in die Pariser Schattenwelt. Tagsüber waren die Wege unter den Quais Flanierpfade für amerikanische Studentinnen, die sich mit Weinflaschen und bärtigen Franzosen bewaffnet an der Spitze der Insel niederließen, wo sich der Fluss in seine beiden Arme teilte. Verliebte Paare küssten sich unter den Trauerweiden, Babysitterinnen von den Philippinen hüteten auf den Bänken ringsum die Kinder der reichsten Pariser. In der Nacht aber waren hier die Schlafstätten der Vergessenen, die den satten Uringeruch verursacht hatten, der in der Luft hing wie eine ganz eigene Sehenswürdigkeit.

Unter dem Pont Neuf standen drei Männer um die Leiche herum. Es waren zwei Kollegen von der Spurensicherung und Docteur Obert, der Gerichtsmediziner. Seine Gestalt war Lacroix so angenehm vertraut, als wären sie zusammen aufgewachsen. Tatsächlich kannten sie sich seit Jahrzehnten. Das hagere Gesicht, das Lacroix immer an einen Windhund erinnerte. Schüttere graue Haare, die sich der Docteur über den wohlgebräunten Schädel kämmte. Das kleine Feuermal auf der Stirn, das ihn aus der Masse heraushob und das er nicht zu verstecken suchte. Sie waren etwa gleich alt, aber Lacroix befand wie stets, dass er selbst deutlich jünger aussah.

Er entdeckte schon von Weitem das Blut, das es sogar aus dem Schatten der Brücke herausgeschafft hatte. Es hatte sich über die Pflastersteine verteilt und ein braunrotes Bild geformt, das aussah, als hätte es ein Expressionist ersonnen. Lacroix versuchte, den schon angetrockneten Lachen auszuweichen, trat immer nur auf saubere Steine. Kurz vor der Leiche aber blieben ihm nur die weißen Sandsteine, die den Randstreifen bildeten. Einen Schritt weiter floss die Seine.

Der Schatten der Brücke verdunkelte die Szenerie, Lacroix sah die Beine des Opfers, der Rest wurde vom Gerichtsmediziner verdeckt. Neben dem Toten lagen seine Habseligkeiten: ein schmutziger, abgegriffener Rucksack, zwei Tüten vom Simply Market, eine leere Weinflasche. Ein Stillleben.

»Commissaire Lacroix, da sind Sie ja!«

»Bonjour, Docteur Obert.«

»Eine ziemliche Sauerei. Er ist verblutet.«

Der Gerichtsmediziner zog die Handschuhe aus und trat einen Schritt zur Seite. Damit gab er den Blick auf die Leiche frei. Lacroix betrachtete das graue Gesicht des alten Mannes, seine Augen waren geschlossen, er sah friedlich aus, als schliefe er. Erst auf den zweiten Blick sah Lacroix die klaffende Wunde an seinem Hals, einmal von links nach rechts war dem Alten die Kehle durchtrennt worden. Der Schnitt sah ziemlich sauber aus, als wäre alles Blut einfach aus dem Mann herausgelaufen.

»Wie lange ist er tot?«

Dem Windhund gelang es, seiner ohnehin knittrigen Stirn neue Falten hinzuzufügen.

»Schwer zu sagen. Seit vier Uhr? Fünf? Seiner Körpertemperatur nach zu urteilen, seit ungefähr fünf Stunden.«

»Wann wurde er gefunden? Eben gerade erst?« Das wunderte Lacroix. Bei all dem Blut und an einem so prominenten Ort.

»Fragen Sie die Beamten. Ich bin auch gerade erst angekommen.«

»Rio, gehen Sie hoch, und schicken Sie mir den, der ihn gefunden hat. Paganelli, schauen Sie, ob Sie andere Clochards finden, die etwas gesehen haben könnten.«

Beide nickten und schwärmten aus. Die Kollegen der Spurensicherung holten unterdessen neue Utensilien aus ihrem Lieferwagen oben auf der Brücke. Nun waren sie hier unten zu dritt, zwei lebendig, einer tot.

Lacroix blickte nach oben, sah die feinen Ziselierungen des Pont Neuf, den Stein, der die Jahrhunderte überdauert hatte. Die älteste Brücke der Stadt, die dennoch neue Brücke hieß. Er versuchte, ruhig zu atmen und seine Gedanken zu sortieren.

»Es ist ein einziger Schnitt, oder?«

»So sieht es für mich aus.«

»Wie schwer ist es, einem Schlafenden die Kehle zu durchtrennen?«

»Leichter als bei einem Wachen, Lacroix. Aber ja: Beim Eindringen des Messers wacht das Opfer für gewöhnlich auf und beginnt sich zu wehren. Es muss also rasend schnell gegangen sein. Sehen Sie den Schnitt: echte Präzisionsarbeit, kein Abrutschen, kein Zögern. Zack und durch. Und der hier …«, er zeigte auf den Toten, »hat sich nicht gewehrt. Keinerlei Abwehrspuren. Vielleicht war er so betrunken, dass er überhaupt nichts gespürt hat.« Obert zögerte einen Moment. »In jedem Fall ein Akt von absoluter Gewalt. Wut. Mehr kann ich erst sagen, wenn ich ihn auf dem Tisch hatte. Armer Kerl.«

Sie blickten noch einen Moment auf den Toten herab, ehe Lacroix zum Rucksack des Opfers ging und ihn ein Stück entfernt von der Blutlache ausschüttete. Er enthielt Klamotten, ein zerschlissenes Buch und einige Dokumente. Lacroix breitete die speckigen Papiere aus und überflog sie. Eine Aufnahmebestätigung für eine Obdachlosenunterkunft ganz in der Nähe. Sie war vor zwei Wochen abgestempelt worden. Und zwei Platzverweise der Polizei für die Place Georges-Pompidou, die schon etwas älter waren. Eingewickelt in die Papiere war der Personalausweis des Opfers.

»George Maille«, las Lacroix, »geboren 1951 in Grenoble.«

»Haben wir eine Adresse?«

»Nur eine Verwaltungsadresse für seine Post.«

»Das gibt es?«

»Ja, die Stadt hat damit vor einigen Jahren begonnen. Als die Zahl der Obdachlosen immer weiter anstieg.«

Die Clochards, in der Behördensprache als SDF – sans domicile fixe – bezeichnet, können ihre Post dorthin schicken lassen. So können sie ein Handy besitzen, Rechnungen und Wahlunterlagen erhalten.

Der Docteur grummelte kurz, dann beugte er sich wieder über die Leiche. »Kann ich ihn mitnehmen?«

»Ja. Die Tüten, die Flasche und den Rucksack auch, bitte. Keine Wertgegenstände.«

Lacroix steckte den Personalausweis ein, legte die Kleidung des Mannes fein säuberlich zusammen und steckte alles wieder in den Rucksack.

Rio und Paganelli kamen zurück. Rio hatte einen Verkehrspolizisten im Schlepptau. Der Korse kam allein angeschlurft, sein Gang war so gleichgültig wie sein Gesichtsausdruck.

»Commissaire, das ist Agent de surveillance Masson.«

Der junge Mann, der eben am Absperrband gestanden hatte, trug seine Uniform wie eine zu weit gewordene Haut. Er hatte einen gelben Balken auf dem Schulterstück, machte diese Arbeit also erst seit Kurzem. Er nickte Lacroix zu, den Blick gesenkt.

»Bonjour, Agent Masson. Haben Sie den Toten gefunden?«

»Nein, wir haben hier nur abgesperrt. Früh am Morgen hat eine Touristin den Mann entdeckt. Gegen sechs. Sie wollte wohl hier joggen.«

»Jetzt ist es halb zehn. Was hat denn so lange gedauert?«

Agent Masson zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung, wir haben gleich angerufen, aber im Kommissariat im ersten Arrondissement hat ewig keiner über Funk geantwortet. Und als wir endlich jemanden erreicht haben, haben die gesagt, sie kümmern sich. Und dann hat es wieder ewig gedauert, bis sie angerufen und gemeldet haben, dass jetzt Sie kommen würden, Commissaire.«

Lacroix seufzte. Sie hätten zwei Stunden früher hier sein können. Doch Masson war noch nicht fertig.

»Das Problem ist, dass wir die Touristin – sie war Holländerin – gebeten haben zu warten. Hat sie auch die ganze Zeit, aber dann …«

Lacroix ahnte schon, was kommen würde.

»Ein anderer Tourist hat versucht, an der Absperrung vorbeizukommen, und ich musste meiner Kollegin helfen, ihn aufzuhalten. Und dann ist die Holländerin einfach abgehauen. Hat sich unter die Passanten gemischt und war weg. Ich habe sie noch gesucht, aber … Verzeihen Sie, Commissaire.«

»Es ist nicht Ihre Schuld. Haben Sie wenigstens die Personalien?«

Der junge Mann sah betreten zu Boden. »Ich habe gedacht, dass dann die Police nationale, also Sie …«

»Herrgott noch mal … Gut. Nein, nicht gut. Haben Sie vielen Dank.«

Masson nickte und ging zurück zu seiner Kollegin.

Paganelli sah hinter ihm her. »Faule Bande. Haben nichts zu tun, außer einen Tatort abzusperren und einen Namen aufzuschreiben …«

»Merci, Paganelli. Hatten Sie denn Erfolg?«

»Chef, Sie wissen ja, wie viel hier sonst immer los ist, wie viele Obdachlose unter den Brücken sind. Und heute Morgen, Sie ahnen es: keiner.«

»Bis wohin sind Sie gelaufen?«

»Einmal um die Spitze der Insel. Aber ich versuche es gleich weiter.«

»Sie haben sicherlich alle das Weite gesucht, als sie das Blut gesehen haben.«

»Aber warum hat uns keiner angerufen?«

Lacroix ahnte es. Die Clochards fürchteten die Kälte und die Gewalt, der sie hier draußen ausgesetzt waren. Aber noch mehr fürchteten sie den Staat und seine Organe. Er nahm seine Pfeife aus der Manteltasche, gerade als die Männer von der Spurensicherung den Leichnam in den kalten Metallsarg legten. Gleich würden die Touristen oben auf der Brücke ihr ersehntes Motiv bekommen.

Lacroix und die Toten vom Pont Neuf

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