Читать книгу Lacroix und die Toten vom Pont Neuf - Alex Lépic - Страница 8

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Er spürte sofort die Kühle und das Dunkel, als das schwere Holzportal hinter ihm zufiel. Seine Schritte hallten wider, als er den Weg ins rechte Kirchenschiff einschlug. Die Glocken der Basilique Sainte-Clotilde läuteten just in diesem Augenblick fünf Mal. Lacroix hielt den Atem an, wie er es jedes Mal aufs Neue tat, wenn die Sonne durch die Fensterbilder im linken Kirchenschiff fiel. Der Boden der Basilika färbte sich mit einem Mal in ein dunkles Blau und ein weiches Rot. Die Sonnenflecken schienen auf dem grauen Marmorboden zu tanzen.

Er bekreuzigte sich vor dem Altar, und dann sah er seinen Bruder schon vorne aus einem Nebenraum treten. Sein Gang war so würdevoll und gleitend, dass er kein einziges Geräusch verursachte, als er auf Lacroix zukam. Er war über die Jahrzehnte eins geworden mit der Kirche in der Rue las Cases im noblen siebten Arrondissement.

Pierre-Richard trug bereits das cremefarbene Gewand. In einer Stunde würde die Abendmesse beginnen. Er nahm Lacroix bei den Schultern, und sie küssten sich viermal auf die Wangen. Dann verharrte Pierre-Richard für einen Augenblick.

»Eine Woche. Eine lange Zeit. Ich hatte gar nicht genug Essen im Haus, um so lange auf das Abendessen bei Dominique und dir zu verzichten.« Er lachte leise sein jugendliches Lachen. »Schön, dass du zurück bist. Und mir gleich ordentlich was zu tun gibst. Ich musste die Mittagspredigt an den Diakon abgeben, damit ich mich für dich auf den Weg machen konnte.«

»Es ist schön, dich zu sehen, Bruderherz«, erwiderte Lacroix.

Sie mussten ein eigentümliches Bild abgeben. Die beiden älteren Männer, die sich so ähnlich sahen. Der eine im Gewand der römisch-katholischen Priester, der andere in einem langen Mantel mit seinem Hut in der Hand. Der Priester war etwas schütterer auf dem Hinterkopf, das unterschied ihn ein wenig vom Commissaire. Und die Narbe an Lacroix’ Hals, die links unterm Kinn begann und sich bis fast hinunter zum Schlüsselbein zog. Ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Ein Tag, den er mit den Jahren fast vergessen hatte. Nur manchmal, wenn er beim Rasieren an die Stelle stieß, zuckte er noch zusammen, dann erinnerte er sich wieder an den Abend auf dem Montmartre.

Immer noch hielt Pierre-Richard ihn an der Schulter. »Komm, wir gehen nach hinten. Dort wartet er. Sein Name ist Dimitri Natataljew. Er ist einer meiner Kontakte da unten.«

Sie gingen in den Nebenraum, aus dem Pierre-Richard gekommen war, und betraten eine kleine Kapelle mit Holzstühlen und einem schlichten Altar. In der ersten Reihe saß ein Mann, neben ihm standen zwei Tüten.

»Dimitri, das ist mein Bruder. Commissaire Lacroix. Ich habe dir von ihm erzählt.«

Dimitri wandte sich zu ihnen um und stand zögerlich auf. Lacroix sah die zerschlissene Stoffhose mit verschiedenen undefinierbaren Flecken, dazu trug der Mann ein T-Shirt, auf dem I love Paris stand. Seine Augen waren klar, und trotz seiner schmutzigen Kleidung roch er nicht. Ganz anders, als Lacroix es vorhin in dem Obdachlosenheim erlebt hatte.

»Bonjour, Monsieur«, sagte der Commissaire und gab dem Mann die Hand. »Mein Bruder hat Sie aufgesucht, weil Sie sich unter den Brücken gut auskennen. Und Sie haben heute Morgen etwas gefunden, das für uns von Bedeutung sein könnte?«

Dimitri nickte, noch sagte er nichts, er war ein wenig eingeschüchtert von der stattlichen Gestalt des Commissaire, so schien es. Seine Hände zitterten, als er in eine der beiden Tüten griff und einen schwarzen Koffer hervorzog, der Lacroix vorher nicht aufgefallen war. Er reichte ihn dem Commissaire, der nur kurz über mögliche Fingerabdrücke nachdachte. Wahrscheinlich war es dafür sowieso schon zu spät.

Lacroix legte den Koffer auf einen der Stühle und öffnete ihn vorsichtig. Pierre-Richard und der Obdachlose hielten den Atem an. Zum Vorschein kam ein rotes Futteral aus feinem Samt, darin lag eine glänzende Klarinette. Sie war so gut gepflegt, dass es beinahe unglaublich war, dass ein Clochard über Jahre jeden Tag auf ihr gespielt hatte. Er musste sie gehegt haben wie einen Schatz. Wahrscheinlich stimmte es, was Madame Renaud gesagt hatte: Sie war das Wertvollste, was er besaß.

Lacroix schloss den Koffer wieder. Die Spurensicherung würde sich darum kümmern müssen. Er wandte sich Dimitri zu.

»Monsieur, wo haben Sie den Koffer gefunden?«

»Ich war schon sehr früh auf«, begann er zu erzählen. Es waren seine ersten Worte. »Ich dusche jeden Morgen in dem öffentlichen Bad auf der Île Saint-Louis, das schon um sechs aufmacht.« Lacroix kannte die über das ganze Stadtgebiet verteilten Orte, die Duschen und Bäder für Reisende und Obdachlose anboten, sie waren kostenlos. »Und dann bin ich wieder zurück, so gegen halb sechs. Da kamen mir zwei Kollegen entgegen und flüsterten, ich sollte besser verduften. Da sei mächtig viel Blut unter dem Pont Neuf. Sie wären nicht da gewesen, aber ein anderer Kollege hätte den Toten gesehen. Nicht aus der Nähe, mehr so von Weitem. Aber er glaubte, dass es vielleicht George gewesen sei.« Atemlos erzählte der Obdachlose jetzt, Lacroix hörte noch immer die Angst in seiner Stimme. »Ich bin dann rüber auf die andere Seite der Seine. Normalerweise frühstücke ich auch unter dem Pont Neuf. Aber das wollte ich heute nicht. Ich habe dann von drüben die flics gesehen«, er stockte. »Entschuldigen Sie, Monsieur, ich meinte natürlich: die Polizei.«

»Ist schon gut«, sagte Pierre-Richard und legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm, »erzähl weiter, Dimitri.«

»Dann bin ich Richtung Pont des Arts gegangen und da, in einem Mauervorsprung, da dachte ich, was ist denn das? Da zog ich den Koffer heraus. Jemand hatte ihn in eine Mauerspalte geschoben. Direkt unter der Brücke, kurz vor diesem Partyboot, dem Calife.« Er zeigte auf den Koffer. »Ich habe ihn nur kurz aufgemacht, aber das hätte ich gar nicht gebraucht. Ich habe ihn sofort erkannt. Es ist Georges Koffer. Er hat immer aus seinem Rucksack herausgeschaut und lag vor ihm am Boden, wenn er spielte. George hat so schön gespielt.«

Er sah träumerisch zu Lacroix, als versuchte er, sich wieder an Georges Musik zu erinnern.

»War Geld in dem Koffer?« Lacroix musste die Frage stellen, doch es schien, als sei der Clochard nicht wütend darüber.

»Kein Cent. Ich habe überlegt, ob ich aufs Kommissariat gehen sollte. Den ganzen Vormittag habe ich hin und her überlegt. Ich habe nicht mal was getrunken heute früh, weil ich vorhatte, zur Polizei zu gehen. Aber dann kam Bruder Pierre«, er sah zu Lacroix’ Zwilling, »also Ihr Bruder. Ich bin oft hier in der Kirche, daher kenne ich ihn gut. Er hat gefragt, ob ich etwas gesehen habe. Ich habe ihm alles erzählt. Und dann sind wir zusammen hergekommen.«

»Wo schlafen Sie? In der Nähe vom Pont Neuf?«

»Nein, da ist mir zu viel los, es schallt zu laut runter, wenn oben die Touristen feiern. Und gegenüber der Pub, ich kann da nicht schlafen. Ich schlafe viel weiter unten, im Schatten von Notre-Dame. Da ist es ruhiger, unterhalb des Parks. Oder in einer Unterkunft, wenn es zu kalt wird.«

»Also ist Ihnen nichts aufgefallen?«

»Gar nichts. Kein Lärm, keine Aufregung, kein Schrei. Es war eine stinknormale Nacht. Der arme George …« Er stockte.

»Hatte er Feinde? Unter Ihren … Kollegen?«

»Nein. George war ein ganz Lieber. Bisschen zerstreut, immer in Gedanken. Aber ein ganz Lieber.«

»Vielen Dank, Monsieur. Wie erreiche ich Sie, wenn mir noch etwas einfällt?«

»Ihr Bruder findet mich.«

Mit diesen Worten nahm er seine beiden Tüten und stapfte aus der Kirche, ohne sich noch mal umzudrehen.

»Du bist ein Glücksritter, Pierre, dass du ihn einfach so gefunden hast. Vielen Dank!«

»Er war der Erste, den ich angesprochen habe. Ich kenne ihn seit Jahren vom Sehen. Er ist ein kluger Kopf, kennt sich gut aus da unten. Mir war so, als hätte er in den letzten Wochen immer wieder meine Nähe gesucht. Und heute Mittag sah er ganz blass aus.«

»Hat er das Geld aus dem Koffer genommen?«

Der Priester überlegte kurz. »Ich kann das nicht ausschließen. Hätten wir es nicht vielleicht auch getan? Wenn die Aussicht auf ein warmes Abendessen und eine Flasche Roten bestanden hätte? Wer weiß. Glaubst du denn an einen Raubmord?«

»Ich bin mir noch nicht sicher. Der Tote hatte seinen Ausweis bei sich, aber das Geld fehlte. Und wenn ein Räuber das Geld und die Klarinette nimmt, warum sollte er sie dann nicht auch zu Geld machen? Sieht doch wertvoll aus, selbst für einen Laien. Findest du nicht?«

»Du hast recht. Es ist merkwürdig, aber nicht ausgeschlossen. So viele Diebe, die so wenig Grips haben. Und der Koffer ist sehr auffällig. Da schauen deine Kollegen doch bestimmt schon mal genauer hin. Erst recht, wenn ein Obdachloser damit herumläuft. Vielleicht war die Mauerspalte auch das Versteck, und der Täter wollte die Klarinette später dort abholen.« Pierre-Richard sah auf die Uhr. »Alors, ich werde die Messe vorbereiten. Wann sehen wir uns zum Abendessen? Morgen?«

Sie hörten Schritte. Dimitri eilte durch den Gang auf sie zu.

»Pater Lacroix, mir ist noch etwas eingefallen. Die Brüder waren nicht mehr da.«

»Wen meinst du, Dimitri?«, fragte Pierre-Richard.

»Die Brüder Pogorzelsky. Sie wissen schon, die haben doch die Gegend um den Pont Neuf fest im Visier.«

»Ich habe von ihnen gehört«, sagte Pierre-Richard. »Du auch?«

Lacroix nickte. »Mir sind am Quai verschiedene Gerüchte zu Ohren gekommen. Es ist ja nicht mein Arrondissement.«

»Die Brüder kennen besonders die korrupten Polizisten«, sagte Dimitri. »Sie beherrschen die Welt der Obdachlosen. Es sind Tschetschenen.«

»Und sie sind verschwunden?«

»Sie waren heute Morgen nicht da. Nicht mal in der Nähe.«

»Vielleicht wegen der Polizei?«

»Oh, glauben Sie mir, die beiden haben keine Angst vor den flics, die sind immer ganz schnell wieder draußen. Sie haben keine Ausweise, aber immer ein bisschen Geld oder Koks, um die korrupten Jungs von der Streife zu bestechen. Nein, die waren weg.«

»Und sie könnten etwas mit dem Mord zu tun haben?«

Dimitri erschauerte sichtlich.

»Sie haben das nicht von mir, sonst bin ich tot. Die beiden sind schnell mit den Fäusten und mit dem Messer. Die nehmen oft die anderen Kollegen aus, lassen aber normalerweise die Alten in Ruhe. Ist wohl so was wie ein Stammesethos.«

Lacroix nickte. »Danke. Wir werden dem nachgehen.«

»Jaja«, seufzte der Obdachlose. »Jaja, na, mal sehen«, da hatte er sich schon wieder in Bewegung gesetzt, ging hinaus in den Vorabend.

»Ich muss mich beeilen. Bleibst du zur Messe?«

»Leider heute nicht, ich muss noch ein paar Telefonate machen und dann nach Hause. Dominique wartet bestimmt schon.«

Draußen sangen die Vögel, auf dem kleinen Platz vor der Kirche standen einige Bäume, die Häuser ringsherum waren hochherrschaftlich mit ihren schmiedeeisernen Balkonen und den Zinnen an den Dächern, die in der Abendsonne glänzten.

Lacroix betrat ein Bistro, das Le Square, bestellte am Tresen ein Bier und bat darum, das Telefon benutzen zu können. Der Wirt gab ihm kopfschüttelnd sein Handy.

»Paganelli?«

Der junge Beamte war sofort ans Telefon gegangen. Er war ein Arbeitstier. Morgens immer der Erste im Kommissariat und abends der Letzte, der ging. Lacroix wusste, woran es lag. Paganelli war mit dem Kommissariat verheiratet, dagegen im Privatleben ein bisschen einsam. Erst wenn seine Lieblingsbars rund um die Bastille am Abend öffneten, verließ er das fünfte Arrondissement und fuhr in Richtung Szeneviertel. Der Korse aus Ajaccio war stets eine Spur zu laut, und seine Maigret-Anspielungen nervten, dennoch war er unentbehrlich.

»Hören Sie, es gibt eine erste Spur«, begann Lacroix. »Ein tschetschenisches Brüderpaar, das auch unter den Brücken lebt. Die Brüder Pogorzelsky. Lassen Sie nach ihnen suchen. Großer Umkreis von Notre-Dame.«

»Mach ich, Chef.«

Lacroix sparte sich die Worte »und machen Sie endlich Feierabend«. Er war kein Chef, der seine Mitarbeiter ermahnte. Sie waren erwachsen und selbst für ihr Leben verantwortlich. Auch wenn er sich ein wenig Sorgen machte um den jungen Korsen.

Lacroix nahm einen weiteren Schluck Bier, legte vier Euro auf den Tresen und verließ das Bistro.

Lacroix und die Toten vom Pont Neuf

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