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In der Rue de Rivoli auf der anderen Seite der Seine hielten sie auf einem Lieferantenparkplatz. Lacroix traute sich kaum die Tür zu öffnen, so eng rauschten die grün-weißen Busse der RATP einer nach dem anderen vorbei. Der Herbst schien in Paris immer die geschäftigste Jahreszeit zu sein. Die Menschen waren gerade erst aus dem Sommerurlaub zurück und hatten das Gefühl, allerhand aufholen, sich die Stadt zurückerobern zu müssen, und so eilten sie, schon in dicke Mäntel gehüllt, an ihnen vorbei zum Louvre oder in Richtung Châtelet.

Lacroix betrachtete im Fenster von Comptoir des Cotonniers einen Mantel aus dunkelgrüner Wolle. Er würde Dominique gefallen. Vielleicht würde er später wiederkommen. Die kleine Seitenstraße, in die sie einbogen, ließ ihn die Konsumtempel jedoch sofort vergessen. Die Obdachlosenunterkunft von Emmaüs lag gerade mal ein paar Schritte von den Schaufenstern der teuren Modelabel entfernt, dem eleganten Kaufhaus BHV und dem noch viel eleganteren Samaritaine. Lacroix bedauerte bis heute, dass es wegen eines Brandes vor Jahren schließen musste. Er hatte sehr gern auf der Dachterrasse einen café getrunken und über den Fluss geschaut, bis hinüber zum Panthéon und zum Musée d’Orsay. Es würde nach aufwendigen Bauarbeiten bald wieder öffnen, aber er befürchtete, dass es dann ganz modern und – nun ja – scheußlich sein würde.

Hier aber war das andere Paris. Das Licht, das den breiten Boulevard zu einem faszinierenden Ort gemacht hatte, fehlte der engen Nebenstraße vollends. Eine alte Frau schlurfte mit drei Supermarkttüten bepackt in den Hauseingang des Haussmann’schen Gebäudes.

»Non, Madame, non«, rief der Sûrete-Mann mit der rosa Warnweste und stellte sich ihr in den Weg. »Die Tüten müssen draußen bleiben, das wissen Sie doch.«

Die kleine Frau schaute ihn an, als wäre er ein Außerirdischer. Dann machte sie kehrt, schimpfte vor sich hin. Sie würde einen Platz für ihre Habseligkeiten finden müssen. Oder unterwegs vergessen, dass sie eigentlich hierher hatte gehen wollen. Sie hörten ihr dumpfes Zetern noch, als sie längst außer Sicht war.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Sicherheitsmann.

»Commissaire Lacroix aus dem Kommissariat im Fünften. Meine Kollegin Capitaine Rio«, er wies hinter sich. »Wir würden gern zu Madame Renaud.«

»Zweiter Stock.«

Sie stiegen die Treppen hinauf, Madame Renaud wartete schon. Rio hatte sie von unterwegs angerufen.

»Wer ist es?«, fragte sie, als sie an ihrem Schreibtisch saßen. Sie war zu elegant für dieses Büro. Die blonden Haare waren ordentlich frisiert, auf dem Schreibtisch lag eine teure Sonnenbrille. Neben ihr Aktenberge, Rechnungen, Spendenquittungen. Eine Frau, die keine Zeit hatte, um aufzuräumen, weil das, was in der Unterkunft passierte, immer wichtiger war.

»George Maille«, antwortete Lacroix und reichte ihr den Personalausweis des Mannes.

Ihre Reaktion ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihn kannte, aber erst als sie das Foto betrachtete, sah Lacroix die Traurigkeit in ihren wachen Augen.

»George. Das ist sehr schade. Er war …«, sie hielt einen Moment inne, »… ein wunderbarer Mann. Er hätte nicht da draußen leben müssen. Er war nicht mal wirklich arm. Wie ist er gestorben?«

»Es war ein ziemlich scheußlicher Mord.«

»Wirklich? Das ist furchtbar.« Sie war blass geworden, und doch war sie eine Frau, die in ihrem Leben schon viel gesehen hatte. »Haben Sie seine Klarinette gefunden?«

Lacroix schüttelte den Kopf. »Eine Klarinette?«

»Er spielte sehr gut.«

»Wir haben überhaupt keine Wertsachen gefunden.«

»Das ist merkwürdig. Er hatte sie immer bei sich. Sie war das Wertvollste, was er besaß.«

»Sie haben gesagt, er war nicht wirklich arm. Was meinten Sie damit, Madame Renaud?«, fragte Rio.

Sie lächelte, als sie ihre Erinnerungen sortierte. »George spielte in der Metro. Meistens in Odéon. Manchmal, wenn der Alkohol es zuließ, hatte er sogar eine Anmeldung bei der Stadt. Sie wissen ja: Die Musiker müssen einer Jury vorspielen, wenn sie legal in der Metro spielen wollen, und George hat immer gewonnen.« Sie lächelte in sich hinein, als hörte sie ihn spielen. »Er hat nur in den guten Bahnhöfen gespielt und wirklich ordentlich verdient. Er hätte ohne Probleme ein eigenes Zimmer beziehen können. Aber er wollte nicht, er wollte draußen sein.«

»Hatte er das Geld bei sich, wenn er hierherkam?«

»Er hat nicht so häufig bei uns geschlafen. Aber ich weiß, dass er das Geld und die Klarinette immer bei sich hatte. Den schweren Rucksack hat er entweder hier stehen gelassen oder unter seiner Stammbrücke. Pont Neuf, glaube ich. Da waren seine Sachen, wenn er gespielt hat. Er war nicht in Sorge um seine Kleidung oder den Rucksack. Nur die Klarinette war ihm wichtig.«

»Hatte er Verwandte?«

»George hatte, soweit ich weiß, niemanden mehr. Er war irgendwann verheiratet, drüben im Osten. In Grenoble. Aber die Ehe ist vor Jahrzehnten in die Brüche gegangen.«

»Sie kennen Ihre Gäste gut.«

Madame Renaud hing wieder ihren Erinnerungen nach, ihr Blick verschwamm.

»Es ist traurig, wenn es den erwischt, den man am liebsten hatte. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich wünsche niemandem einen – wie haben Sie gesagt? – scheußlichen Tod, aber George war ein ganz feiner Mann. Es gibt selten so kluge und begabte Menschen unter meinen Gästen. Wir hatten einen guten Draht zueinander.«

»Hatte er Feinde?«

»Wenn Sie hundert Euro im Rucksack haben und unter dem Pont Neuf schlafen, haben Sie viele Feinde. Ich habe ihm oft gesagt, er soll das Geld hierlassen, ich würde es für ihn wegschließen. Aber natürlich war das sinnlos.«

»Weil er Angst hatte, dass es verloren geht?«

»Nein, das war es nicht. Er liebte die Freiheit. Er wollte kommen und gehen können, wann es ihm passte. Und deshalb wollte er auch draußen schlafen. Er hat mal zu mir gesagt, er würde nie wieder ohne den freien Himmel über dem Kopf einschlafen wollen. Nun ist er sogar unter freiem Himmel gestorben.«

Sie sah bedrückt aus, aber auch eine Spur träumerisch.

»Haben Sie vielen Dank, Madame.«

»Melden Sie sich bitte, wenn Sie irgendetwas von mir brauchen. Und wenn Sie wissen, wer den alten George umgebracht hat.«

»Das werden wir, Madame«, sagte Lacroix, die Hand schon an der Pfeifentasche. Doch zunächst mussten sie sich wohl oder übel noch ein wenig umhören.

Lacroix und die Toten vom Pont Neuf

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