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Enttäuschte Hoffnungen
ОглавлениеMan kann sich heute kaum noch vorstellen, welche euphorischen Hoffnungen einst mit der Modernisierung der Gesellschaft verknüpft waren. Industrialisierung, Wissenschaft, Bildung, Demokratisierung und technologischer Fortschritt sollten endlich Armut, Aberglaube, Krankheit, Hunger, Abhängigkeit und Unterdrückung für immer beseitigen. Man erblickte schon die Morgendämmerung einer neuen Welt, in der der Mensch frei, gesund, gebildet, wohlhabend, selbstbestimmt und religionsfrei lebt. John Lennons »Imagine« von 1971 war die Hymne dieser Hoffnung: »Nothing to kill or die for. And no religion, too. Imagine no possessions. No need for greed or hunger. A brotherhood of man.«
Doch das 20. Jahrhundert als das Zeitalter, in dem neue säkulare Ideen das Antlitz der Erde positiv verändern sollten, ist gleichzeitig eine Epoche der grausamsten Szenarien, welche dieser Planet je gesehen hat: Kriege mit Millionen Toten, millionenfacher Massenmord an Völkern und Menschengruppen, brutalste Unterdrückung durch religionsfeindliche Weltanschauungen. Die Idee, dass eine religionsfreie Welt eine bessere sei, hat sich als tragische Illusion erwiesen. Der Publizist und Gründer des Politmagazins »Cicero« Wolfram Weimer nennt in seinem Büchlein »Credo« das Versagen säkularer Ideen als auslösenden Faktor für das Comeback von Religion in das Bewusstsein der Weltbevölkerung. »Das Europa des 20. Jahrhunderts hat die Welt gelehrt, dass ohne Gott die politischen Katastrophen noch teuflischer geworden sind.«17 »Die kulturelle und intellektuelle Pervertierung des Fortschrittsglaubens in entgöttlichten, radikal-diesseitigen Ideologien beendete, zunächst unbewusst, zunehmend dann auch reflektiert den Säkularisierungsprozess, weil dieser seine moralische Integrität verloren hatte.«18
Das Pendel schlägt vom Atheismus als destruktive Leitidee zurück zur Religion. Im intellektuellen Diskurs wird das Thema Religion wieder hoffähig. Jürgen Habermas – für viele der bedeutendste Philosoph der Gegenwart – schreibt, »dass einer zerknirschten Moderne nur noch die religiöse Ausrichtung auf einen transzendenten Bezugspunkt aus der Sackgasse verhelfen kann«19. Der atheistische Materialismus der säkularen Moderne ist ein zu enger Rahmen, um unsere komplexe und widersprüchliche Welt philosophisch zu beschreiben.