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Sprachliche Verarbeitung auf Satzebene – ZeitverstehenZeitverstehen
ОглавлениеEine ähnliche Reaktionszeitstudie führten Ulrich et al. (2012) zur Verarbeitung von temporalen Bezügen in Sätzen durch. Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass in embodiment-theoretischer Auffassung ein möglicher kognitiver Zeitbegriff die Zukunft räumlich vor dem eigenen Körper, die Vergangenheit hinter dem eigenen Körper figuriert – auf einer Vorne-hinten-Achse, die durch den eigenen Körper verläuft (siehe Kap. 2.2). Ulrich et al. konnten mit ihrer Studie empirische Evidenz dafür generieren, dass – ganz ähnlich wie bei Sätzen, die motorische Aktionen beschreiben – auch bei der sprachlichen Verarbeitung von temporalen Bezügen die gleichen kognitiven Bereiche wie bei originärer Bewegung beansprucht werden.
Das Experiment funktionierte wie folgt: Ulrich et al. präsentierten ihren Proband:innen, in diesem Fall mit Erstsprache Deutsch, auf einem Computerbildschirm Sätze, die entweder auf ein Ereignis in der Zukunft oder in der Vergangenheit verweisen und sinnhaft sind oder nicht: z. B. sinnhaft, Zukunft „Morgen früh unterschreibt der Chef den Antrag.“; nicht-sinnhaft, Zukunft „Nächsten Sonntag wird das Rathaus die Erbse heiraten.“ (ebd.: 486). In diesem Setting (vgl. ebd.: Experiment 1, 486ff.) sollten die Proband:innen nur dann mit einer Beurteilungsbewegung reagieren, wenn es sich um einen sinnhaften Satz handelte. Dabei gab es zwei Bedingungsszenarien: Im ersten Szenario mussten die Proband:innen bei ‚sinnhafter Satz, Zukunft‘ mit einer Armbewegung nach vorne, weg von ihrem Körper antworten, bei ‚sinnhafter Satz, Vergangenheit‘ mit einer Armbewegung nach hinten. Im zweiten Szenario galt es, die Armbewegungen genau in die entgegengesetzte Richtung auszuführen. Bei einer Vorstellung von Zeit auf einer Vorne-hinten-Achse entsprechen also in Szenario 1 die Beurteilungsbewegungen den temporalen Satzbedeutungen, im komplementären Szenario 2 widersprechen sie sich. Die beiden Szenarien vergleichend ergaben sich signifikante Unterschiede in den Reaktionszeiten: Bei einer Passung von Beurteilungsbewegung und temporaler Satzbedeutung reagierten die Proband:innen systematisch schneller als bei einer Nicht-Passung.
Zwei weitere ReaktionszeitstudienReaktionszeitstudie, die im Zusammenhang mit den körperbasierten Zeitkonzepten Erwähnung finden sollen, stammen aus der gleichen Forscher:innengruppe wie Ulrich et al.: Eikmeier et al. (2013) und Eikmeier et al. (2015). Hintergrund des Vergleichs der beiden Studien bildet die Annahme, dass bei der sprachlichen Verarbeitung von temporalen Bezügen räumliche Repräsentationen genutzt werden, dass jedoch die räumlich basierten Zeitkonzepte prinzipiell differieren können (erinnere Kap. 2.2). So ist neben der Vorstellung einer Vorne-hinten-Achse, die durch den eigenen Körper verläuft, alternativ auch die Übertragung der Zeitlinie auf eine räumliche Links-rechts-AchseLinks-rechts-Achse (links ≈ Vergangenheit, rechts ≈ Zukunft) denkbar.
Eikmeier et al. (2013) gingen zunächst der Frage nach, wie stark die Verknüpfung zwischen der Vorstellung von Zeit und der räumlichen Repräsentation einer Vorne-hinten-Achse ist. Wenn die Zukunft als etwas interpretiert wird, das vor dem eigenen Körper, also vorne liegt, die Vergangenheit komplementär hinten, macht es dann einen Unterschied, ob wir einen entsprechenden temporalen Bezug sprachlich mit den Wörtern Zukunft/Vergangenheit oder mit den Wörtern vorne/hinten benennen?
Um dies herauszufinden, legten Eikmeier et al. (2013) ihren Proband:innen Sätze vor, die entweder auf ein Ereignis in der Zukunft oder in der Vergangenheit verwiesen. Unter der ersten Testbedingung mussten die Proband:innen, wenn ein Vergangenheitssatz auf dem Computerbildschirm erscheint, laut „Vergangenheit“ sagen, bei einem Zukunftssatz mit „Zukunft“ reagieren. Bei einem zweiten Durchlauf galt es, komplementär einem Vergangenheitssatz das Wort „Zukunft“, einem Zukunftssatz das Wort „Vergangenheit“ zuzuordnen. Anschließend wurde das gesamte Experiment unter beiden Testbedingungen wiederholt, nur hatten die Proband:innen nun mit den Wörtern „vorne“ und „hinten“ zu reagieren.
Das erwartbare Ergebnis war, dass die Reaktionszeiten im Falle der Antwortwörter Zukunft/Vergangenheit bei der ‚inkongruenten Bedingung‘ (Zuordnung des Gegenteilwortes) signifikant langsamer waren als bei der ‚kongruenten Bedingung‘ (Zuordnung des passenden Wortes). Weniger erwartbar war, dass der Differenzgrad der Reaktionszeiten zwischen der kongruenten Bedingung und der inkongruenten Bedingung konstant blieb, wenn die Proband:innen mit den Wörtern vorne und hinten reagieren sollten. Die Assoziierung, dass die Zukunft räumlich vor uns bzw. vor dem eigenen Körper liegt und die Vergangenheit dahinter, ist offenbar so stark, dass es bei der sprachlichen Verarbeitung der Bedeutungen keinen signifikanten Unterschied macht, ob wir für das Zukünftige das Wort Zukunft oder das Wort vorne gebrauchen (und ebenso für das Vergangene).
Eikmeier et al. (2015) replizierten das gleiche Reaktionszeitexperiment, nur mussten die Proband:innen dieses Mal mit den Wörtern links und rechts (statt hinten und vorne) reagieren. Auch hier ergab sich ein Unterschied zwischen der kongruenten und der inkongruenten Bedingung, allerdings war er im Vergleich sehr viel schwächer ausgeprägt (ca. 66 % kleiner als bei der Reaktion mit den Wörtern Vergangenheit/Zukunft; vgl. ebd.: 1882). Das bedeutet, dass die Verknüpfung zwischen der Vorstellung von Zeit und der räumlichen Repräsentation einer Links-Rechts-Achse allgemein weit weniger stark zu sein scheint als die Assoziierung mit einer Vorne-hinten-Achse.
Die Ergebnisse passen zu der Beobachtung, dass in zahlreichen Sprachen durch entsprechende Metaphorik die Vorne-hinten-Achse Verwendung findet (siehe Kap. 2.2 für Beispiele im Englischen und Deutschen), dass aber bisher keine Sprache gefunden werden konnte, in der Ausdrücke mit Bezug zur Links-Rechts-Achse genutzt werden (Eikmeier et al. 2013: 1879). Eikmeier et al. (ebd.: 1882) diskutieren, ihre Daten interpretierend, u.a. die Möglichkeit, dass die Vorstellung einer von links nach rechts laufenden Zeitlinie vorrangig ein kulturelles Artefakt darstellt, das von Erfahrungen mit Kalendern, Schriftsystemen, bei denen von links nach rechts geschrieben wird, oder Darstellungen von Zeitlinien in Grafiken o. Ä. herrührt. Gehen wir davon aus, dass unsere lebensweltlichen Erfahrungen bei unserem eigenen Körper beginnen, ist die Prominenz der Vorne-hinten-Achse auch deshalb plausibel, weil wir uns, wenn wir uns gehend oder laufend bewegen und dabei psychisch ‚gefühlte‘ Zeit vergeht, in der Regel, von unserer Körperausrichtung her betrachtet, nach vorne bewegen (Füße, Gesicht etc. nach vorne) – und nicht seitwärts.
Die bisher vorgestellten Reaktionszeitexperimente zur sprachlichen Verarbeitung von motorischen Handlungs- und Zeitkonzepten betreffen die Satzebene. Kommen wir nun zur Wortebene, und zwar in der Erst- und Zweitsprache.