Читать книгу Männer ohne Möbel - Alexandra Stahl - Страница 21
VORFAHRENSLINIEN
MIT GROSSEM V
ОглавлениеIch weiß gar nicht, warum der Wecker so laut klingelt. Dann erinnere ich mich, dass ich schon wieder zum Arzt muss. Dann, dass ich gerade erst heimgekommen bin. Und dann, dass ich betrunken war. Natürlich steige ich jetzt aufs Fahrrad!
Tatsächlich komme ich in Mitte an, ohne dass mir ein Taxifahrer Schlampe nachruft. Ich fahre mit dem Aufzug in eine Praxis, die in mir die Assoziationen Siebziger Jahre, Raumschiff und Kalifornien auslöst. Die Decke ist zu niedrig, Tische, Sofas und Lampen sind rund, alles ist weiß oder orange oder weiß-orange. Die Sprechstundenhilfen tragen die gleichen Farben und haben schlechte Laune, vermutlich deswegen. Eine drückt mir einen Fragebogen in die Hand. Darin steht: Trinken Sie Alkohol? Und: Wenn ja, wie viel? Man muss ankreuzen. Ein Glas pro Woche. Zwei Gläser pro Woche. Drei Gläser pro Woche. In eine leere Zeile darunter kann man seinen individuellen Konsum schreiben. Ich lasse die Frage offen und fülle den Rest aus, während ich die Ärzte beobachte. Alle sind jung, alle sind schön, das ist der Kalifornien-Part. Es wäre nicht irritierend, trügen sie Surfbretter unter ihren Armen. Schließlich schreibe ich drei bis vier Gläser in der Woche in die Spalte und sage mir, das stimmt, wenn man die Runden nicht mitzählt, die spontan auf die vorherigen folgen.
Als ich mich frage, welcher der Surfer mich aufrufen wird, krächzt einer meinen Nachnamen. Er sieht aus, als hätte er mehrere Schildkröten überlebt.
Ist er klinisch tot und ich bin die Komafantasie? Liegt man noch im Koma, wenn man klinisch tot ist? Gibt es in dieser Stadt auch normale Ärzte?
– Folgen Sie mir!, röchelt er.
Gesenkten Hauptes folge ich dem Alten, weil ich nicht will, dass er sich wegen mir noch verschrumpelter vorkommt.
– Sind Sie noch nüchtern?
Noch?
– Ja.
– So. Sie wohnen also in dem Viertel mit den Matratzen auf den Straßen.
Ich weiß nicht, ob er lacht oder hustet.
Als er nach meinem Gewicht fragt, das ihm zu gering erscheint, antworte ich, meine Eltern seien auch nicht dick. Wieder beschleicht mich das Gefühl, dass ich in einem Raumschiff gelandet bin, denn er spricht meine Antworten in ein Diktiergerät, das die Sätze automatisch in seinen Computer überträgt.
– Beide Vorfahrenslinien auch sehr schlank. Punkt.
Er wirft einen prüfenden Blick auf den Bildschirm und hält das Gerät wieder an den Mund, diesmal näher.
– Vorfahrenslinien mit großem V!
Fliegen wir noch zu dem anderen Planeten, oder sind wir schon da?
Völlig zusammenhanglos erzählt er von seinen Reisen nach China. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also sage ich nichts, aber das scheint ihn so wenig zu stören wie alle anderen, die ungefragt Privates erzählen. Während der Greis vor sich hinbrabbelt, fällt mein Blick auf sein Namensschild. Professor Sackmann.
Vielleicht sind wir auch in einem Loriot-Sketch?
Professor Sackmann hört nicht auf zu reden und offenbart sich im Schutz der Dunkelheit, als er sich über mich beugt. Aus seiner Nase drängen weiße Haare. Beim Ultraschall geht es nicht um meine Schilddrüse, sondern um Flüchtlinge. Das Thema kommt von ihm, es ist wirklich nicht so, als führten wir ein Gespräch.
Das Problem sei, dass Deutschland nicht genug Platz habe, um so viele Flüchtlinge aufzunehmen. Schon Hitler habe erkannt, dass die Deutschen ein Volk ohne Raum seien. Besser wäre es, man schicke die Syrer und Afrikaner nach Schweden. Da sei er mal gewesen, dort sei wirklich sehr viel Platz, bestehe doch praktisch alles aus Wald. Wieder weiß ich nicht, wie er es geschafft hat, aber plötzlich ist er in der Antike und bei untergegangenen Seevölkern.
Als mir eine Sprechstundenhilfe Blut abnimmt, rechne ich damit, dass es orange oder weiß sein wird, aber es ist rot.
Zuhause schlafe ich sofort ein.
Als ich aufwache und in den Spiegel schaue, ist alles wie immer: Mein Körper will das Gift loswerden und hat ihm als Ausgang mein Gesicht empfohlen.