Читать книгу Meine Reise in die Welt der Gewürze - Alfons Schuhbeck - Страница 12
ОглавлениеDie Befreiung des Menschen aus den Klauen der Götter und Dämonen begann vor 2500 Jahren. Damals fingen die Philosophen der griechischen Antike an, die alles entscheidenden Fragen zu stellen: nach dem Ursprung der Welt, nach den Ursachen für das Werden und Vergehen der Dinge und Menschen. Vor allem aber suchten revolutionäre Denker wie Thales von Milet oder Heraklit ihre Antworten nicht mehr in der Magie und Mystik, sondern in der Naturwissenschaft. Das hatte fundamentale Konsequenzen für die Heilkunde: Sie wurde zur wissenschaftlich begründeten Medizin. Die griechischen Ärzte waren die Ersten, die nach den natürlichen Ursachen für Gesundheit und Krankheit forschten. Götterbeschwörungen und Reinigungszeremonien wurden jetzt überflüssig. Denn man hatte begriffen, dass Krankheiten nicht von zürnenden Gottheiten oder Dämonen als Strafe verhängt wurden, sondern auf organischen Ursachen beruhten, die vom Menschen allein beseitigt werden konnten. Der Mensch hatte sein Schicksal also selbst in der Hand. Er war endlich frei.
Ohne Gewürze ist die antike Medizin undenkbar. Denn sie sorgen dafür, dass im Körper Harmonie herrscht. Und genau das, die körperliche Harmonie, ist der Schlüssel zu allem, das Grundkonzept der Heillehre im Altertum. Als Erster formulierte es der Grieche Alkmaion von Kroton. Er lebte etwa von 500 bis 420 vor Christus, ist einer der ersten Ärzte der Weltgeschichte, deren Namen wir kennen, und definierte Gesundheit als Zustand physischer Ausgeglichenheit. Krankheit ist im Umkehrschluss also nichts anderes als eine Unausgeglichenheit. Die entscheidenden Faktoren für Harmonie und Disharmonie sind nach Alkmaion die sogenannten Primärqualitäten, die beiden Gegensatzpaare warm–kalt und feucht–trocken. Sie sollen sich möglichst immer im Gleichgewicht befinden.
Hippokrates, der berühmteste Arzt der Antike, entwickelte die Ideen des Alkmaion weiter. Er lehrte im späten 5. und frühen 4. Jahrhundert auf der Insel Kos, ist der Verfasser des berühmten hippokratischen Ärzteeids und wurde zum Vater der sogenannten Viersäftelehre. Der Mensch hat nach der Definition von Hippokrates und seinen Schülern vier Körpersäfte – Blut, Schleim, gelbe Galle, schwarze Galle –, die mit vier Elementen und vier Organen korrespondieren. Wenn die vier Säfte im Gleichgewicht sind, ist man gesund. Sind die Körpersäfte nicht mehr ausgewogen, versucht man, sie mithilfe von Medizin, also Gewürzen und Kräutern, wieder zu harmonisieren. Dabei trennten die Griechen – ganz im Gegensatz zu unseren modernen Gesellschaften – Medizin und Ernährung nicht. Das wäre für sie ein absurder Gedanken gewesen. Stattdessen verknüpften sie selbstverständlich beides. Hippokrates sagte es so einfach wie einleuchtend: »Dein Arzneimittel sei dein Lebensmittel, und dein Lebensmittel dein Arzneimittel.«
So weit die Theorie. Ein wichtiger Schritt für die praktische Anwendung fehlte aber noch – und kein Geringerer als Aristoteles vollzog ihn: Er erhob im 4. Jahrhundert vor Christus die Botanik in den Rang einer Wissenschaft und bereitete damit der systematischen Beschäftigung mit der Heilwirkung von Kräutern und Gewürzen den Weg. Sein Schüler Theophrast von Eresos übernahm von ihm die Leitung der legendären Athener Philosophenschule, beschrieb in seinem Hauptwerk »Die Geschichte der Pflanzen« deren heilende Wirkung und wurde damit zum Begründer der Botanik. Das dadurch gewonnene Wissen war unverzichtbar für die gesamte antike Ärzteschaft.
Die Lehre der vier Säfte sollte 2000 Jahre lang die Medizin und das wissenschaftliche Denken in Europa bestimmen. Einen wesentlichen Anteil daran hatte Dioskurides, einer der einflussreichsten Ärzte der Antike. Er verfasste im 1. Jahrhundert nach Christus mit seiner »De materia medica« ein epochales Werk, das für die nächsten anderthalb Jahrtausende das wichtigste Gewürz- und Kräuterbuch des ganzen Abendlands und Vorderen Orients sein sollte. 800 pflanzliche, 100 mineralische und 100 tierische Heilmittel beschrieb der griechische Arzt – und legte mit ihnen den Grundstein für eine systematische Therapie mit Kräutern und Gewürzen.
Dioskurides wusste wahrscheinlich mehr über die heilende Wirkung von Gewürzen und Kräutern als je ein Mensch vor ihm. Dass Bockshornklee bei Diabetes hilft, war ihm bekannt – und neuere Forschungen haben ihn zwei Jahrtausende später bestätigt. Dem Basilikum schreibt er völlig zu Recht reinigende sowie eine blähungs- und harntreibende Kraft zu. Und auch die Geheimnisse des Pfeffers, der in der »Materia medica« ausführlich behandelt wird, blieben ihm nicht verborgen, wobei er genau zwischen langem, weißem und schwarzem Pfeffer unterscheidet. Am besten zum Würzen der Speisen geeignet ist für ihn der schwarze Pfeffer, weil er süßer und schärfer, dem Magen bekömmlicher und viel würziger als der weiße Pfeffer ist. Alle Pfeffersorten haben eine erwärmende, harntreibende Wirkung, regen die Verdauung an und lösen schädliche Säfte auf. Sie fördern den Speichelfluss, die Produktion von Magensaft und die Ausscheidung der Gallenflüssigkeit. Pfeffer wird überdies als probates Mittel gegen Husten und andere Brustleiden gelobt. Tatsächlich ist heute wissenschaftlich belegt, dass er vor Erkrankungen der Atemwege schützt. Schwarzer Pfeffer beeinflusst dank seiner ätherischen Öle außerdem die Entgiftungskapazität der Leber positiv.
Genauso wichtig wie der Pfeffer war für die antiken Ärzte die aus Indien importierte Ingwerwurzel. Dioskurides befindet, dass sie als Ingredienz für fast alle Speisen ganz besonders geeignet sei. Sie habe eine erwärmende Wirkung, fördere die Verdauung und sei insgesamt gut für den Magen. Das alles ist inzwischen ebenfalls bewiesen: Ingwer steigert die Aktivität verschiedener Verdauungsenzyme. Der Scharfstoff Gingerol bekämpft zudem nicht nur Entzündungen und Ödeme, sondern ist auch stark choleretisch, das heißt, er regt besonders die Galle an. Außerdem beeinflusst Ingwer die Blutfettwerte positiv und verhindert den übermäßigen Anstieg unter anderen von Cholesterol und Triacylglycerolen selbst bei ungünstiger Ernährung. In hohen Dosen beugt er Arteriosklerose vor. In Tierversuchen hat sich sogar gezeigt, dass Ingwer vor Krebs schützen kann. Und in klinischen Studien konnte eine Besserung bei rheumatischen Beschwerden nachgewiesen werden.
Dioskurides war aber nicht nur ein großer Arzt, sondern muss ein ebenso großer Feinschmecker gewesen sein. Denn er beschreibt mit großem Enthusiasmus viele Gewürze, die sowohl in der Heilkunde also auch in der Küche verwendet werden können. Die wichtigsten sind für ihn Anis, Bertramwurzel, Koriander, Zimt, Ingwer, Safran, Myrrhe, Pfeffer, Süßholz, Sesam, Kardamom und Schwarzkümmel.
Das Fundament legte Dioskurides, doch das Haus sollte ein anderer bauen: Galen von Pergamon, der bedeutendste Mediziner der Antike neben Hippokrates. Galen lebte im 2. Jahrhundert nach Christus, war Gladiatorenarzt, medizinischer Berater verschiedener Kaiser und Begründer eines völlig neuen Verständnisses von Gesundheit, das die Lehre der vier Körpersäfte weiterentwickelte. Kein Mensch, so seine Kernthese, ist vollkommen gesund, sondern nur mehr oder weniger krank. Der Normalzustand ist also, dass wir immer auf unsere Gesundheit achten und uns um sie kümmern müssen. Es gilt, durch eine Harmonisierung der Körpersäfte im Sinne des Hippokrates einen möglichst guten gesundheitlichen Zustand zu erreichen – »einen Zustand, in dem wir weder Schmerzen leiden noch im Gebrauch der Lebenskräfte behindert sind«. Es geht also um nichts anderes als präventive Medizin. Der Arzt soll nicht erst dann kommen, wenn es zu spät ist, sondern eben dafür sorgen, dass er gar nicht kommen muss.
Und dann macht Galen von Pergamon den alles entscheidenden, alles verändernden Schritt: Er verknüpft in seiner Schrift »Die Kräfte der Nahrungsmittel« die Viersäftelehre des Hippokrates mit den Primärqualitäten des Alkmaion. Galen bildet aus diesen und den Körpersäften, den vier Elementen und den vier wichtigsten Organen Korrespondenzen: warm–feucht/Luft/Blut/Herz; warm–trocken/Feuer/gelbe Galle/Leber; kalt–trocken/Erde/schwarze Galle/Milz; kalt–feucht/Wasser/Schleim/Gehirn. Dadurch erkennt er, welche Krankheiten welche Ursachen haben. Und er kann sie entsprechend mit Gewürzen und Kräutern bekämpfen, denen er ihrerseits Qualitäten wie warm oder feucht zuordnet. Krankheiten mit kalten und feuchten Ursachen können also mit warmen und trockenen Mitteln geheilt werden. Bei Schnupfen zum Beispiel sammelt sich zu viel Schleim im Gehirn, was zu einer Dominanz von kalt–feucht führt. Abhilfe schaffen hier warme und trockene Würzmittel wie Fenchel, Salbei, Thymian, Sellerie und Wermut. Bei Verdauungsstörungen wird die Harmonie des Körpers durch zu viel Kälte im Magen aus dem Gleichgewicht gebracht, also muss man warmen Dill oder Liebstöckel nehmen. Stellenweise lesen sich Galens Anweisungen wie Koch- und nicht wie Arztrezepte: »Trockene« Speisen soll man mit Anis und Fenchel anreichern, damit sie harmonischer und bekömmlicher werden. Und zu Geflügel, Ziege und Ferkel empfiehlt er aus Gründen der medizinischen Prävention Pfeffer, Senf, Ölrauke und die Fischsauce Garum.
Unfassbar aufwendig sind seine Gewürzmischungen. Sie beweisen, dass den Griechen und Römern so gut wie alle zur damaligen Zeit bekannten Gewürze zur Verfügung standen. Galen empfiehlt zum Beispiel ein Gewürzsalz als appetitanregendes Verdauungsmittel – und behauptet ein wenig kühn, es erzeuge einen derart großen Hunger, dass man danach einen ganzen Ochsen verschlingen könne. Das Salz soll bei schlechter Verdauung wegen der Kälte des Unterleibs hilfreich sein und enthält einen ganzen Gewürzbasar: ein Pfund Pfeffer, drei Unzen Petersilie, drei Unzen Katzenminze, drei Unzen getrocknetes Flohkraut, drei Unzen Liebstöckel, eine Unze Baldrian, eine Unze Selleriefrüchte, zwei Unzen Bergkümmel, ein Pfund Salz und zwei Unzen geröstetes zerkleinertes Brot, alles fein zerstoßen und als Streugewürz zu verwenden.
Wissenschaftlich ist diese Salzmischung vollkommen plausibel. Allein die ätherischen Öle von Pfeffer, Petersilie, Minze, Liebstöckel, Baldrian, Selleriefrüchten und Bergkümmel sowie die scharf schmeckenden Säureamide des Pfeffers, die Cumarine der Petersilie sowie der Selleriefrüchte und die Labiatengerbstoffe der Minzen stellen eine stark appetitanregende und verdauungsfördernde Wirkung sicher. Die Sekretion von Speichel, Magensaft und Galle wird nahezu von allen Ingredienzen begünstigt, zudem wird die Kontraktion des Darms stimuliert. Und außerdem sorgen Pfeffer und Salz für einen guten konservierenden Effekt und damit für einen Schutz vor verdorbenen Speisen.
Ein anderes Gewürzheilmittel von Galen enthält sehr viel Safran – insgesamt sechzig Gramm, die heute mehrere Hundert Euro kosten würden. Dazu kommen Röhrenkassie, Balsamholz, Zimt, Indische Narde – ein Baldriangewächs – und Mastix, ein wohlschmeckendes Harz. Als Abführmittel werden zum Schluss noch anderthalb Pfund Aloepulver untergemischt. Hier handelt es sich um ein sehr fein dosiertes, überaus sinnvoll zusammengestelltes Mittel. Die Röhrenkassie hat eine sanft abführende Wirkung, die Rinde des Balsambaums einen konservierenden Effekt, ebenso wie die Indische Narde, die zudem leicht beruhigende Eigenschaften besitzt. Zimt fördert nicht nur die Verdauung, sondern ist auch entzündungshemmend und schmerzlindernd, senkt den Blutzucker- und Blutfettspiegel und wird bei Erkältungskrankheiten eingesetzt. Von entscheidender Bedeutung ist hier jedoch der Safran, der aufgrund seines ätherischen Öls und der Bitterstoffe den Appetit anregt und die Verdauung stimuliert. Doch nicht nur das: In Tierversuchen hat sich gezeigt, dass Safran in sehr hoher Dosierung gegen Tumore wirksam ist. Außerdem können Safranextrakte bei starkem Alkoholgenuss für einen klaren Kopf sorgen.
Galen von Pergamon hat die Medizin revolutioniert. Sein Wort sollte anderthalb Jahrtausende lang Gesetz sein. Die Medizin hat seit seiner Zeit gewaltige Fortschritte gemacht. Der menschliche Körper aber ist gleich geblieben. Und Galen von Pergamon hat noch immer recht.