Читать книгу Meine Reise in die Welt der Gewürze - Alfons Schuhbeck - Страница 9
ОглавлениеIst es wirklich hier geschehen? Bin ich tatsächlich an jenem Ort, an jener Stelle, die mir aus dem Religionsunterricht noch so vertraut ist und mir immer einen kalten Schauer über den Rücken jagte? Ich kann es gar nicht glauben und schaue meine Begleiter fragend an. Doch sie nicken nur und sagen: »Genau hier ist es gewesen.« Hier floh der Apostel Paulus, nachdem er nicht mehr Saulus sein wollte, in einem großen Weidenkorb über die Stadtmauer von Damaskus, um seinen Häschern zu entkommen. Und ganz in der Nähe soll auch der Ort sein, an dem Kain seinen Bruder Abel erschlug.
Ich bin in der ältesten durchgängig besiedelten Stadt der Welt. Das lerne ich mit ehrfürchtigem Staunen von meinen Begleitern. Seit 5000 Jahren leben ununterbrochen Menschen in der syrischen Hauptstadt, und bei der Aufzählung all der Völker, denen das Gebiet des heutigen Syrien Heimat war, wird mir ganz schwindelig: Sumerer, Akkader, Amoriter, Hethiter, Babylonier, Assyrer, Aramäer, Perser, Griechen, Römer, Byzantiner, Omayyaden, Abbasiden, Fatimiden, Ayyubiden, Mamelukken, Osmanen – sie alle haben hier ihre Spuren hinterlassen und Damaskus im Laufe der Jahrtausende zu einer weltoffenen, toleranten Stadt werden lassen. Heute ist sie der Inbegriff des Morgenlands und ein Ort, an dem Christen und Muslime ganz selbstverständlich friedlich zusammenleben.
Die Altstadt kommt mir vor wie die Kulisse für »Tausendundeine Nacht«. Hier schlägt nicht nur, hier pocht das Herz des Orients – Berge von Gewürzen lagern in Karawansereien, Händler feilschen mit Hausfrauen, und Laufburschen rumpeln mit voll beladenen Handkarren über das holprige Pflaster enger Gassen.
Hier stehen Moscheen und Kirchen seit Jahrhunderten Seite an Seite, und hier liegt der große Sultan Saladin begraben, Sinnbild des edlen orientalischen Herrschers, der strahlendste Held des Morgenlands – keinen Steinwurf entfernt von jenem Sarkophag, der den Kopf von Johannes dem Täufer enthalten soll. Und in Damaskus spürt man bis zum heutigen Tag, dass sich in der Stadt zwei uralte Handelsrouten kreuzten: die Seidenstraße von Ost nach West und die Weihrauchstraße von Süd nach Nord. Während auf der Seidenstraße neben Stoffen vor allem Gewürze, Pelze, Keramik, Jade, Bronze und Eisen aus China und Südostasien den Nahen Osten erreichten, kam auf der Weihrauchstraße das begehrte Harz aus dem heutigen Oman über die Arabische Halbinsel und Jordanien nach Gaza und Damaskus.
Auf Seide, Weihrauch und Gewürze stoße ich bei meinem Streifzug durch die Altstadt, die bis heute in verschiedene Suqs aufgeteilt ist, schattige Gassen, in denen jeweils ähnliche Produkte verkauft werden. Auf den Ehrenplätzen direkt an der prächtigen Omayyaden-Moschee, der ältesten Moschee der Stadt, drängen sich die Suqs mit Stoffen, Gold und Gewürzen, weil diese Waren schon immer als besonders wertvoll galten. Hier finde ich die älteste Naturheilmittelapotheke von Damaskus, in der ich von den Gewürzapothekern über die luststeigernde Wirkung von Nelken, Zimt und Ingwer aufgeklärt werde. Und einige Ecken weiter wartet schon der Stoffhändler Hassahn Zahabi auf mich, der mir die wunderbaren floralen Muster der als Damast bekannt gewordenen Damaszener Seidenstoffe erklärt.
Hassahn ist es auch, der mir die Omayyaden-Moschee zeigt. Das ist eine Ehre, denn der kleine Mann mit der großen Brille hat schon Fidel Castro, Tony Blair, François Mitterrand und viele andere Staatsgäste durch das Gotteshaus geführt. Auf Strümpfen stehen wir im riesigen, mit Teppichen ausgelegten Gebetssaal vor dem Schrein mit dem Kopf Johannes' des Täufers, doch statt sakraler Andacht herrscht eine angenehm gedämpfte Ruhe. Ich kann kaum glauben, wie entspannt die Atmosphäre hier ist. Männer und Frauen spazieren durch den Saal, manche beten, einige lehnen sich gegen die Säulen und ruhen sich aus. Wieder andere lesen im Koran oder unterhalten sich leise, zwischendrin springen sogar Kinder herum. Im Vergleich zu den katholischen Kirchen meiner bayerischen Heimat geht es hier beneidenswert locker zu – ein Jammer ist das für uns, denke ich still, während mir Hassahn erzählt, wie er im Jahr 2000 Papst Johannes Paul II. zum Schrein des Johannes' geführt hat. Damals betrat zum ersten Mal in der Geschichte ein Papst eine Moschee. Darauf ist ganz Damaskus bis heute stolz.
Wir verlassen den kühlen Gebetsraum und gehen nach draußen auf den Hof. Der weiße Marmorboden glitzert in der Sonne, Frauen und Männer sitzen zusammen, kleine Jungen scheuchen Tauben auf, und Hassahn fasst die Geschichte dieses Orts für mich zusammen. Sie ist so beeindruckend wie typisch für die Toleranz von Damaskus: Im 2. Jahrtausend vor Christus stand hier ein Tempel zu Ehren des Wettergotts Hadad. Die Römer machten daraus einen Jupitertempel, die Byzantiner eine Basilika.
Als die Muslime im Jahr 636 nach Damaskus kamen, nutzten auch sie den Ort zum Beten. Christen und Muslime sollen damals durch ein und denselben Eingang gegangen sein, die Muslime nach rechts zu ihrer Moschee, die Christen nach links zu ihrer Basilika.
Ein paar Gassen weiter beginnt hinter einem römischen Torbogen das Christenviertel. Es heißt wie das nördliche Altstadttor »Bab Tuma«, »Thomastor«. Statt an Moscheen laufen wir jetzt alle hundert Meter an einer Kirche, einem Marienaltar, einem Kloster vorbei. Die Vielfalt der christlichen Gemeinden ist imponierend: römisch-katholisch, syrisch-katholisch, griechisch-katholisch-melkitisch, armenisch, maronitisch, syrisch-orthodox, griechisch-orthodox, protestantisch – alles ist hier vertreten, aus einem einfachen Grund: In den Jahrhunderten islamischer Herrschaft, so erklärt mir Hassahn, konnten die verschiedenen Konfessionen überdauern, denn die Muslime respektierten sie als religiöse Minderheiten.
Gegenseitiger Respekt scheint bis heute ein Lebensmotto der Menschen in Damaskus zu sein – aller Politik und aller staatlichen Grausamkeiten zum Trotz. Niemand versucht mich übers Ohr zu hauen, niemand will mir Touristennepp aufzwingen. Nirgendwo gibt es aufdringliche Teppichhändler oder lästige Ledertaschenverkäufer. Auch untereinander heißt die Devise der Syrer: »Leben und leben lassen.« Manche Männer tragen Anzug und Hemd, manche bodenlange Gewänder und um den Kopf gewickelte Tücher. Ich sehe Frauen in weiten Mänteln, engen Jeans, schicken Kostümen oder ganz in Schwarz gehüllt. Mir begegnen Händchen haltende Paare und Gruppen lärmender Teenager, die Jungs mit gegelten Haaren, die Mädchen mit oder ohne Kopftuch. Andere junge Männer sitzen in ihren winzigen Geschäften, verkaufen traditionelles Handwerk, duftenden Kaffee oder die neuesten Handymodelle und surfen nebenbei mit ihren Laptops im Internet – für Tradition und Moderne gilt hier ebenfalls das Gebot der friedlichen Koexistenz.
Was mich aber fast noch mehr beeindruckt, ist die Gastfreundschaft der Menschen. Sie kommt immer von Herzen. Überall werden meine vielen Fragen bereitwillig beantwortet. In den Küchen der besten Restaurants lassen mich die Chefköche ohne zu zögern in ihre Töpfe schauen, und in den Gassen der Altstadt ist es nicht anders – zum Beispiel in einem kleinen offenen Eckladen, in dem eine Art Crêpe zubereitet wird. Der Koch wirft einen Fladen mithilfe eines dicken runden Kissens auf eine heiße Eisenplatte und bestreicht ihn dort mit Zatar, einer auf Thymian basierenden Gewürzpaste. Dann lächelt er mich an und drückt mir den zusammengefalteten Fladen in die Hand.
Ein paar Schritte weiter bleibe ich vor einem Berg leuchtend gelber Kichererbsen auf dem Verkaufstresen eines winzigen Imbisses stehen. Man winkt mich herein, und ich schaue zu, wie der Meister dieses kleinen Orts aus weich gekochten Kichererbsen, Brotfetzen, Joghurt und Sesampaste das traditionelle Frühstück Fatteh zaubert, das in Syrien gerne am Freitagvormittag gegessen wird, dem islamischen Feiertag und Beginn des syrischen Wochenendes.
Keine fünf Minuten später sitzen der Imbissmeister und ich zusammen an einem wackligen Tisch und löffeln aus einer Schüssel. Ein Handschlag, ein Schulterklopfen, schon stehe ich wieder auf der schmalen Gasse und schüttle den Kopf angesichts so viel unkomplizierter Herzlichkeit.
Und dann kommt der Höhepunkt der Altstadt, jedenfalls für mich: der Kerne- und Gewürzmarkt Suq al-Busurije. Ich verbringe einen ganzen Nachmittag zwischen Körben voller Pistazien, Mandeln, Kürbiskernen und getrockneten Kichererbsen, zwischen blank polierten Blechdosen voller Gewürzmischungen, die in Rot, Gelb, Orange leuchten. Mitten im Suq hat die Familie Taba'a ihren Laden: acht Quadratmeter voller Gewürze, die in der Obhut des dreiundzwanzigjährigen Mohammed Taba'a liegen. Er hat von seinem Vater und seiner Großmutter alles über Gewürze gelernt, studiert nebenbei Wirtschaft und beantwortet im Lager des Familienbetriebs, einem zugigen Raum in einer Karawanserei um die Ecke, geduldig meine Fragen. Die Kunst des Gewürzhandels besteht in Damaskus darin, gute Mischungen zu kreieren, lerne ich. Die syrische Hausfrau will nicht viele einzelne Gewürze, sondern eine Mischung für Huhn, eine für Fleisch und eine für Fisch kaufen. Jetzt verstehe ich, warum vor Mohammeds Laden so viele Kunden stehen – er hat die besten Gewürzmischungen der Stadt.
Zwei Stunden lang erklärt er mir deren genaue Zusammensetzung, dann packt er mir lauter Kostproben in einzelne Tütchen, beschriftet sie und weigert sich standhaft, Geld dafür zu nehmen. Mir fehlen die Worte.
Die Damaszener Händler sind ein Phänomen. Nicht nur ihre unaufdringliche Art, Geschäfte zu machen, erstaunt mich, sondern noch weit mehr die Tatsache, dass sie mit wenigen Quadratmeter Fläche Großfamilien ernähren. Manche Läden sind nicht mehr als Ausbuchtungen in der Wand mit einem Stuhl und einem Rollladen davor. Andere Händler sind mit dem Verkauf von gerade einmal zwei Produkten reich und berühmt geworden – so wie die Besitzer des legendären und immer proppenvollen Eissalons »Bakdash« im größten Altstadt-Suq, dem Suq al-Hamidiye. Bei »Bakdash« gibt es nichts anderes als Milcheis und Milchpudding, beides mit Rosenwasser abgeschmeckt und mit Pistazien garniert.
Alles, was das Café dafür braucht, sind kleine Löffel und Glasschälchen. Zu trinken gibt es Wasser, das in großen Glaskrügen auf den langen Tischreihen steht. 115 Jahre ist das Familienunternehmen inzwischen alt, und noch immer kommt jeder hierher, vom Präsidenten bis zum einfachen Arbeiter, von der syrischen Großfamilie bis zur deutschen Reisegruppe. Als ich das Milcheis und den Milchpudding probiere, verstehe ich sofort, warum. Und unbedingt will ich das von Generation zu Generation vererbte Geheimrezept der Familie Bakdash entschlüsseln. Von wegen geheim! Der freundliche alte Herr an der Kasse stellt sich als der derzeitige Besitzer vor und lädt mich zu einer Extraportion Pudding ein, um mir das Rezept zu verraten.
Nachdem die Altstadt jahrzehntelang einen Dornröschenschlaf schlief – vergessen von der Welt, vernachlässigt von der Regierung, verschmäht von ihren eigenen Bewohnern –, erlebt sie seit einigen Jahren eine Renaissance. Die Syrer, sagen mir meine Begleiter, finden es wieder schick, abends durch die engen Gassen zu flanieren und in traditionellem Ambiente essen zu gehen. Viele der für Damaskus typischen arabischen Hofhäuser sind inzwischen in Restaurants, Cafés und kleine Hotels umgewandelt worden, in deren Innenhöfen man fantastisch entspannen kann. Die Gäste sitzen unter Orangenbäumen um einen plätschernden Brunnen herum, lassen sich die Spezialitäten der syrischen Küche schmecken und den Blick über kunstvolle Steinmosaiken, blauweiße Kachelornamente und kostbare Intarsienarbeiten aus Holz und Perlmutt gleiten. Im Innenhof des stadtbekannten Restaurants »Al Khawali« trinke ich den besten alkoholfreien Aperitif von Damaskus: Zitronensaft mit Minze, so fein gemixt, dass er kiwigrün schimmert.
Das beste Lokal der Stadt ist das »Naranj«. Es liegt im Herzen der Altstadt, in der Nähe des römischen Torbogens, und bietet Gerichte aus ganz Syrien an, die man sonst nur bei privaten Einladungen kennenlernt. Denn in den meisten Restaurants von Damaskus werden üblicherweise vor allem Vorspeisen, Salate und gebratenes Fleisch in allen Variationen serviert. In dem sonnendurchfluteten, luftigen Saal des »Naranj« hingegen esse ich Bulgur mit Tomatensauce und Joghurt, im Tongefäß geschmorte Lammhaxe, Mansaf, einen cremigen Reis mit gebratenem Fleisch, Kibbe Labaniye, kleine, mit Hackfleisch und Pinienkernen gefüllte Bulgurbällchen in Joghurtsauce, Sayadiye, Fisch mit Zimtreis, sowie Kibbe Nayeh, ein mit Bulgur verfeinertes Tatar. Es ist großartig – nur viel zu viel. Vom Gastraum aus blickt man in die verglaste, bestens ausgestattete Küche, durch die mich Chefkoch Tarraf Tarraf führt. Während er mir erklärt, warum sein Reis beim Warmhalten nicht zusammenfällt und dass in seine Tomatensauce nur Tomaten, Olivenöl und Zwiebeln kommen, stecke ich meine Finger zum Probieren hier und da in eine Schüssel oder einen Topf. Panisch reichen mir seine offensichtlich zu strengster Hygiene erzogenen Mitarbeiter ständig saubere Löffel.
Am Abend zeigt mir dann Siwar Al Bitar, der Chefkoch des edlen, aus zwei umgebauten Altstadthäusern entstandenen Hotels »Beit Zafran«, wie er kocht. Siwar war zuvor Chef-Patissier in einem Luxushotel in Damaskus und ist in der ganzen Stadt für seine Süßspeisen berühmt – doch längst nicht nur das. Auf der Dachterrasse des Hotels präsentiert er die Klassiker der arabischen Küche in westlichem Gewand, mit Hummus gefüllte kleine Tomaten oder Artischockenböden mit einer Gemüsevariation. Den krönenden Abschluss bilden hauchdünne, knusprige gelbbraune Zuckerfäden, die in der arabischen Küche für verschiedene Nachspeisen verwendet werden. Es gibt sie in Form von kleinen, mit Nüssen gefüllten Nestern, als Rollen mit karamellisierten Pistazien oder ganz schlicht auf einem Tablett mit einer schmelzenden Käsefüllung.
Nach dem üppigen Mahl lasse ich mich im Innenhof des »Beit Zafran« in die dunkelroten Samtpolster der Sessel sinken. Der Brunnen plätschert, die Blätter der Bäume rascheln, und die Kupferlaternen mit den vielen kleinen Buntglasscheiben werfen ein melancholisches Licht in den Hof. Auch ich werde bei dem Gedanken, Damaskus bald verlassen zu müssen, ein wenig wehmütig. Ich muss an eine Geschichte denken, die ich über die älteste Stadt der Menschheit gelesen habe: Für die Gewürzhändler mit ihren Karawanen war der Anblick dieses Orts nach vielen Wochen in der Ödnis der Wüste eine Offenbarung. Diese grüne, fruchtbare, hochkultivierte Oasenstadt kam ihnen wie ein Garten Eden vor; deswegen erhielt Damaskus den Beinamen »Jannat al-Ard«, Paradies auf Erden. Und genau deswegen soll sich der Prophet Mohammed im 7. Jahrhundert geweigert haben, Damaskus zu betreten – weil er nur einmal, und zwar im Jenseits, ins Paradies eingehen könne. Ich hingegen habe es vielleicht schon getan. Und ich bereue nichts.
Aufgezeichnet von Kristin Helberg