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Sechzehntes Kapitel: Li

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„Evangelia!“

Sie hörte den Ruf aus dem Nachbarraum kaum, während sie dem Fremden aus Saxland, diesem Ritter ihrer einsamen Träume nachsah, ehe er sich zwischen den Passanten verlor, die diese Gasse als Abkürzung zwischen dem Hippodrom und dem Konstantin-Forum benutzten, wozu auch viele Fuhrleute gehörten, die ihre von Hand, Esel oder Pferd gezogenen Karren und Wagen durch diesen viel zu engen Weg entlang führten und damit stets für ein übermäßiges Gedränge sorgten. Ein Gedränge, das aber andererseits immer wieder dazu führte, dass vermögende Rhomäer, die bei einem der Pferderennen im Hippodrom zuschauten und sich vielleicht sogar an den eigentlich verbotenen Wetten beteiligen wollten, auf Lis Papiermacherwerkstatt aufmerksam wurden und sogar zu ihren Kunden wurden. Papiere zu unterschiedlichsten Zwecken wurden dann bei ihr gekauft. Manch einer wollte nur einen Bogen für einen gefühlvollen Brief mit schönem Wasserzeichen, der sich gut falten und versiegeln ließ, andere waren Betreiber einer Buchbinderwerkstatt, die es mal mit ihrem Material versuchen wollten oder Kaufleute, die besonders lange Bögen zur Erstellung verschiedener Warenlisten haben wollten. Da Li ihre Arbeit ohnehin kaum schaffen konnte, verzichtete sie vollkommen darauf, auf ihr Gewerbe aufmerksam zu machen, denn das hätte nur dazu geführt, noch mehr Aufträge ablehnen und Kunden verärgern zu müssen. Die einflussreiche Gilde der Gerber, die das Papier als Konkurrenz zum Pergament ansah und am liebsten auch die Papiereinfuhr mit arabischen Schiffen verboten hätte, hatte es durchgesetzt, dass Li keine Lehrlinge und Gesellen ausbilden durfte. Allerlei fadenscheinige Argumente hatten dafür herhalten müssen, ihr dies zu untersagen. Zuerst hatte man behauptet, sie sei keine Christin und es hatte erst der Priester vor dem Gildengericht aussagen müssen, um zu bestätigen, dass sie tatsächlich unter der großen Kuppel der Hagia Sophia getauft worden war, in der sich Sonntag für Sonntag die Rhomäer zum Gottesdienst versammelten. Zeugen aufzubieten, die bei dieser Taufe anwesend gewesen waren und sich daran erinnerten, hatte keine große Schwierigkeit bedeutet. Ein weiteres Argument war gewesen, dass sie eine Frau war. Ragnar der Weitgereiste, ihr einflussreicher Förderer, hatte ihr daraufhin den Hinweis gegeben, dass sich schließlich auch die Huren von Konstantinopel in Gilden organisierten, deren Mitglieder in aller Selbstverständlichkeit auch den Nachwuchs ihrer Profession ausbildeten, obwohl es aus sich unzweifelhaft um Frauen handelte, wie er aus eigener Anschauung bezeugen könnte.

Doch auch dieses Argument hatte das Gildengericht nicht gelten lassen. Welche Kräfte da genau bestrebt waren, sie klein zu halten, war wohl nicht bis ins letzte zu ermitteln. Aber Ragnar hatte ihr dann den Rat gegeben, die Sache nicht bis vor ein höheres Gericht zu verfolgen und durchzufechten. „Eines Tages werden die Logotheten und Schreiber des Kaisers so sehr auf dein Papier angewiesen sein, dass sie selbst für dich die Trommel rühren werden, um Lehrlinge anzuwerben!“, war er überzeugt. „Da brauchst du nur etwas Geduld. Und ich glaube daran, denn andernfalls hätte ich dir nicht für eine relativ geringe Beteiligung an deinem Gewinn mein altes Lagerhaus als Werkstatt überlassen!“

„Wofür ich Euch ewig dankbar sein werde, Ragnar.“

„Ich brauche Eure Dankbarkeit nicht, sondern bevorzuge Euer Silber. Und solange das fließt, werden wir voneinander profitieren, Evangelia.“

Evangelia - so nannte sie sich nun. Ragnar hatte ihr geraten, sich einen einheimischen, gut aussprechbaren Namen zu wählen. „Es reicht schon, dass deine Augen fremdartig erscheinen“, hatte Ragnar dazu bemerkt, „da braucht es nicht auch noch einen Namen, der so kurz und flüchtig ist, dass selbst ein Hund nicht darauf hören könnte, weil er schon verklungen ist, bevor er ins Ohr gelangt ist!“

Und so war ihre Wahl auf Evangelia gefallen, was 'Gute Nachricht' bedeutete und damit in gewisser Weise eine Art Auflehnung gegen ihr bisheriges, von schlechten Nachrichten allzu sehr geprägtes Schicksal darstellte. Evangelia – das enthielt nicht nur die einzige Silbe ihres Han-Namens, den sie sich in ihrem Herzen immer bewahren würde, schon um das Andenken an ihren Vater nicht verblassen zu lassen, sondern erinnerte auch an die vier Evangelien der Heiligen Schrift, die vom Leben und Wirken Jesu Christi berichteten und aus denen der Priester in der Kirche vorzulesen pflegte. Und in den christlichen Ländern war diese Schrift ein Synonym für das Buch an sich und stand schon damit in enger Beziehung zu ihrer Handwerkskunst der Papierherstellung.

Unzählige Szenen aus diesen Evangelien konnte man in den Kirchen der Stadt oder in privaten Schreinen ihrer Einwohner auf Bildern sehen. Ikonen, wie die Christen von Konstantinopel dazu sagten. Während der Islam in der bildliche Darstellung des Menschen sehr zurückhaltend war und sie weitestgehend mied, schien man im größten Reich der Christenheit genau den gegenteiligen Maximen zu folgen. Manche Bilder erfuhren selbst bereits eine Verehrung, die einem Muslim wahrscheinlich als Götzendienerei vorgekommen wäre und Li manchmal an die Ahnenschreine erinnerte, wie sie in ihrer Heimat verwendet wurden.

Aber obwohl Li den Eindruck hatte, dass die Möglichkeit, Geschichten auch in Bildern darzustellen, mehr Menschen dazu verleitete, darauf zu verzichten, das Lesen oder gar das Schreiben zu erlernen, da man alles Wesentliche der Heiligen Schrift ja auch aus Ikonen erfahren konnte, so profitierte ihr eigenes Gewerbe doch genauso von dem ausgeprägten Hang zur Malerei. Papier taugte natürlich nur in den seltensten Fällen als Grundlage solcher Bildwerke. Dazu war es dann dich nicht haltbar genug und außerdem hafteten die Farben ihm nicht in gleicher Weise an, wie es bei Leinwänden, Holz oder Stein der Fall war.

Aber bevor die Ikonenmaler zu Werke gingen, fertigten sie oft unzählige Skizzen an. Und für diese Skizzen brauchten sie ein Material, auf das sich mit Kohle gut zeichnen ließ und das darüber hinaus verhältnismäßig preiswert herzustellen war. Und so gehörten inzwischen auch solche Malerwerkstätten zu ihren Kunden.

„Evangelia!“, riss sie jetzt endlich ein weiterer, durchdringender Ruf aus ihren Gedanken. Jetzt endlich ging ein Ruck durch ihren Körper. Sie ging nach nebenan. Der Mann, der sie gerufen hatte, hieß Christos und gehörte zu den Tagelöhnern, die sich bei ihr verdingten. Er war von Geburt an blind. Der Blick seiner Auge war leer. Auf Grund einer Blindheit war es immer schon schwierig gewesen, irgendwo Arbeit zu finden. Zumeist hatte er sich als Bettler vor der dem Portal der Hagia Sophia durchgeschlagen und für eine gewisse Zeit war er sogar am Eingang des Hippodroms damit beschäftigt gewesen, gegen Gebühr Sitzkissen auszuleihen. Mit seinen feinen, empfindsamen Fingerspitzen konnte er nämlich jede Münze sicher erkennen und es war in dieser Hinsicht gewiss leichter, so manchen unkundigen Sehenden zu betrügen als ihn. Aber die Verwaltung des Hippodroms war anderer Ansicht gewesen. Man hatte ihn schließlich fortgeschickt, weil der zuständige Hofbeamte, dem die Pferderennbahn und deren Bewirtschaftung neu betraut worden war, nicht glauben wollte, dass ein Mann wie Christos zu so einer Arbeit auf Dauer fähig war. Christos hingegen hatte Li gegenüber immer den Verdacht geäußert, dass der betreffende Hofbeamte solche Posten nach Möglichkeit einfach nur bevorzugt mit Verwandten besetzen wollte.

Li hingegen hielt große Stücke auf ihn. Und obwohl sie ihn nicht offiziell als Lehrling hätte annehmen und ausbilden dürfen, hatte sie ihm doch das eine oder andere von ihrer Kunst gezeigt, wobei er sich als sehr geschickt erwiesen hatte.

„Was ist los, Christos? Warum rufst du mich, als wäre unsere Wasserzuleitung versiegt?“

Er stand zusammen mit mehreren Tagelöhnern an einem großen Bottich. Alle Anwesende hielten hölzerne Stampfer in den Händen. Christos griff jetzt in den Lumpenbrei hinein. Er schien nach zu fühlen. Wenig später holte er ein langes, faseriges Stück heraus, wovon nicht gleich zu erkennen war, worum es sich da handelte. Aber der Blinde hatte bereits ein paar weitere solcher Faserstücke aus dem Brei gefischt und nebeneinander auf dem Steinboden ausgelegt. „Evangelia, seht Euch das nur an, was hier drin zu finden ist!“, rief er auf seine etwas zur Theatralik neigende Art. Dass ausgerechnet ein Blinder jemanden zum Sehen aufforderte, gab der ganzen eine Angelegenheit eine unfreiwillig komische Note.

„Das sieht aus wie die Reste eines Seils!“, meinte Li.

„Und genau das ist es wahrscheinlich auch gewesen! Ein Hanfseil, das eine Hose an ihrem Ort gehalten hat und noch in ihren Schlaufen steckte oder in den Kragen eines Umhangs eingenäht war! So etwas muss man doch entfernen! Da kann man doch nicht einfach einen Haufen Lumpen blind zerstampfen, ohne sich vorher zu vergewissern, dass an ihnen nichts mehr ist, was da nicht hineingehört...“ Er deutete auf die anderen Tagelöhner, von denen sich keiner einer Schuld bewusst zu sein schien. „Evangelia, lasst doch mich in Zukunft alle Lumpen kontrollieren, bevor sie in den Stampfbottich kommen, damit so etwas nicht wieder vorkommt!“

„Gut“, gab Li nach, die schon des öfteren von ähnlicher Weise vom blinden Christos bedrängt worden war, ihm die Endkontrolle der Lumpen zu überlassen.

„Herrin, das ist nicht Euer Ernst!“, entfuhr es nun einem der anderen Tagelöhner. „Wollt Ihr über uns spotten, dass Ihr einen Blinden die Lumpen überprüfen lasst?“

„Seine Augen sind nicht die besten, aber seine Sorgfalt ist am größten“ erklärte Li ruhig. Sie dachte an die Worte des Weisen Lao-she, die ihr Vater oft auf den Lippen geführt hatte, wonach man eine Schwäche, die nicht zu beseitigen war, nach Möglichkeit in eine Stärke umwandeln sollte. Christos erschien ihr manchmal wie ein praktisches Beispiel dieses Lehrsatzes aus uralter Weisheit.

Der blinde Tagelöhner wollte gerade die Fasern zu den anderen auf den Boden legen und versicherte ihr wortreich, dass er diesen Abfall später noch beseitigen würde, da kam Li plötzlich ein Gedanke. „Gebt sie mir!“, verlangte sie.

Sie nahm das feuchte Stück aus teilweise zerschlagenen und nur noch schwach zusammenhängenden Fasern aus der Hand und hob auch diejenigen Stücke auf, die Christos auf den Boden gelegt hatte.

Während sie sie zwischen ihren Händen zusammenpresste, quoll Feuchtigkeit hervor und dann ihr die Arme entlang. Ein Seil...Hanf... Li erinnerte sich daran, wie die Händler in den Gassen von Bagdad das Haschisch daraus gewonnen hatten. Aber musste es nicht auch möglich sein, Papier daraus herzustellen? Papier, das vielleicht nicht dieselbe Qualität hatte, als wenn es aus reinen Lumpen gemacht worden war, aber dafür vielleicht sehr viel preiswerter angeboten werden konnte? Schließlich überstiegen die Preise für Lumpen jene für Hanfpflanzen bei weitem, die im übrigen auch von allein heranwuchsen, wenn man sie irgendwo anbaute und ihnen genügend Wasser gab, während Kleider erst mühsam gewoben werden mussten und oft genug so lange getragen wurden, dass ihre Fasern an vielen Stellen schon auseinanderfielen, noch ehe sie überhaupt in einen Stampfbottich gelegt worden waren.

Sie nahm die Reste des Gürtelseils in den Nachbarraum. Es käme auf einen Versuch an!, ging es ihr durch den Kopf.

Im Reich der Mitte verwendete man schließlich auch durchaus pflanzliche Zusätze bei der Papierherstellung. Bambus war dazu hervorragend geeignet. Aber Bambus gab es in den Ländern des Westens nicht. Den Grund dafür konnte sie sich zwar nicht erklären, denn das Klima im östlichen Reich der Mitte war von dem seines westlichen Gegengewichts nicht so verschieden, als dass man hätte annehmen müssen, dass Bambus hier nicht gedeihen konnte. Aber er es war nun einmal so, dass er hier vollkommen unbekannt war. Li hatte zwar auch bereits erste Versuche unternommen, hier im Westen übliche Holzarten in den Papierbrei einzubringen. Das hatte sie allerdings sehr schnell wieder aufgegeben. Die Resultate waren nämlich mehr als unbefriedigend geblieben. Kleinere und größere Holzstücke hatten die bei diesen Versuchen entstandenen Blätter verunreinigt. Das war nicht nur ein Problem der Ästhetik, sondern es konnte mitunter auch den Schreibfluss behindern, wenn man mit Feder und Tinte über das Papier fuhr.

Die Frage, was sie dabei wohl falsch gemacht hatte, beschäftigte Li seitdem. Denn wenn man man die Wespen beobachtete, wie sie ihre Papiernester aus dem Holz von Dachbalken und Fensterläden erschufen, dann konnte das nur daran liegen, das diese Geschöpfe diese Kunst an irgendeinem entscheidenden Punkt besser beherrschten als Li.

Vielleicht werde ich eines Tages herausfinden, was der Grund ist!, ging es ihr durch den Kopf. Ihr Blick glitt dabei noch einmal zum offenen Fenster. Die Laden standen offen. Ein dünnmaschiges Eisengitter verhinderte, dass jemand etwas hereinwerfen und oder gar durch das Fenster eindringen und stehlen konnte. Nur der obere Teil war mit Alabaster verhängt, sodass man unten hinausblicken konnte – oder hinein. Es gab immer wieder Menschen, die stehen blieben und ihr dabei zusahen, wenn sie Formen für Wasserzeichen schuf.

Sie trat näher an das Fenster heran und dachte daran, wie sie Arnulf von Ellingen nachgeblickt hatte.

Ihr wurde ganz warm bei dem Gedanken und die Frage, ob man aus den Fasern eines Hanfseils Papier machen konnte, dass diese Bezeichnung auch verdiente, erschien ihr plötzlich nur von zweitrangiger Dringlichkeit. Sie dachte an den Blick seiner grünen Augen, an den Klang seiner Stimme und an die Art, wie er lächelte. Wenn es möglich war, dass zwei Menschen sich wiedertrafen, die allen äußeren Umständen nach so wenig dafür bestimmt zu sei schienen wie sie und Arnulf – dann konnte es eigentlich nichts geben, was nicht geschehen konnte. Li spürte, wie ihr Herz schneller schlug – aber nicht aus Furcht oder Erschöpfung, wie es bisher in ihrem Leben so oft der Fall gewesen war, sondern vor freudiger Erregung.

––––––––



Am Abend schritt Li durch die hohen, einschüchternd wirkenden Säulen in einem der endlosen Gänge des Kaiserpalastes. Christos begleitete sie und trug in jeder Hand ein großes Bündel mit Papierbögen. Sie waren sorgfältig in Leinentücher eingeschnürt.

Li trug ebenfalls ein Bündel unter dem Arm. Während des kurzen Weges bis zum Kaiserpalast hatte sie es stets so unter ihrem Umhang verborgen, dass es möglichst unauffällig wirkte.

Sein Inhalt war unbezahlbar.

Es war die Form jenes Wasserzeichens, das für das Briefpapier des Ersten Logotheten für Dokumente verwendet wurde, die dieser im Namen des Kaisers selbst unterzeichnete. Botschaften, die einen offiziellen Charakter hatten und bei denen dieses Wasserzeichen - neben dem Siegel und dem Federstrich – ein Merkmal ihrer Echtheit waren.

Auch wenn solche Wasserzeichen erst seit kurzem in Gebrauch waren, so musste man doch auch jetzt schon davon ausgehen, dass früher oder später versucht werden würde, sie zu fälschen – und dem musste unter allen Umständen vorgebeugt werden.

Vier Wächter – riesenhafte, bärtige Männer aus der Waräger-Garde des Kaisers – hatten Li und Christos in ihre Mitte genommen und begleiteten sie auf ihrem Weg durch den labyrinthischen Palast. Nie zuvor hatte Li ein so großes Gebäude betreten, das immer wieder erweitert worden war. Es gab einen eigenen Hafen, von dem aus der Kaiser für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Mauern der Stadt einem Angriff einmal doch nicht standhalten konnten, sofort auf ein Schiff fliehen konnte. Ragnar der Weitgereiste hatte ihr außerdem erzählt, dass es eine direkte Verbindung zur Hagia Sophia gab – und eine zum Hippodrom. Denn sowohl zum Gottesdienst als auch bei den Pferderennen zeigte sich der sonst so entrückte Kaiser dem Volk in einer Nähe, die auch ihre Gefahren mit sich brachte, denn wenn beispielsweise ein Tumult unter den schätzungsweise hunderttausend Zuschauern im Hippodrom ausbrach, gab es keine noch so tapfere Leibwache der Welt, die dann noch in der Lage gewesen wäre, ihren Herrscher zu schützen.

Die Wachen führten Li und Christos in einen hohen Raum, dessen Wände mit kunstvollen Mosaiken verziert waren, die allesamt Motive aus der Bibel und aus dem Leben Jesu zeigten. Li war nicht zum ersten Mal in diesem Raum, in dem Petros Makarios, seines Zeichens erster Logothet des Kaisers, seine Schreibarbeiten und den Empfang von minderwichtigen Gästen zu erledigen pflegte, denen kein diplomatischer Rang zukam. Manchmal empfing er hier in aller Abgeschiedenheit und ohne lästige Blicke allzu vieler Beobachter auch solche Gäste, mit denen sich weder er noch der Kaiser je hätte öffentlich zeigen wollen.

Petros Makarios saß hinter einem reich verzierten Tisch und unterzeichnete gerade ein Dokument. Dann steckte er den Federkiel in den goldenen Halter und ließ Li zunächst einige Augenblicke warten, bis er sich insgesamt drei Dokumente, die er wohl soeben nacheinander signiert hatte, noch einmal durchgelesen hatte.

Li wartete geduldig. Ihr war klar, dass sie hier, in diesen Mauern, nur eine unbedeutende Rolle spielte. Sie war eine Handwerkerin mit einem Talent, das in diesem Teil der Welt selten bis unbekannt war – und sie besaß in Ragnar dem Weitgereisten einen Förderer, der die schweren Türen dieses Palastes zu öffnen gewusst hatte. Achte den Diener, der sich unentbehrlich zu machen vermag – denn man wird ihn bald den Herrn nennen, so hatte Li eine der Weisheiten in Erinnerung, die ihr Vater bei irgendeiner Gelegenheit einmal zitiert hatte, wobei ihr entfallen war, von welchem der ehrenwerten Weisheitslehrer sie nun stammte. Aber ihr vergessen war wohl der Tatsache geschuldet, dass ihr dieser Satz damals, als sie noch in Xi Xia gelebt hatten, über die Maßen absurd vorgekommen war.

Doch inzwischen hatte sie die tiefe Wahrheit, die in ihm lag, längst erfasst. Ragnar der Weitgereiste war ein Beispiel für seine Richtigkeit. Als ein einfacher Wächter und Gardekrieger hatte er durch seinen Dienst bis heute einen vergleichsweise leichten Zugang zu höchsten Stellen des Palastes erhalten, wie ihn sich viele von Geburt an höher Gestellte sicherlich auch gewünscht hätten. Li hatte sich vorgenommen, zumindest in dieser Hinsicht von der Klugheit des Normannen nicht nur zu profitieren, sondern auch zu lernen.

Endlich blickte Petros Makarios auf.

„Seid gegrüßt, erhabener Herr“, sagte Li und hielt den Kopf gesenkt. Petros Makarios blickte kurz zu Christos hinüber. Dass Li bei solchen Gelegenheiten von einem Blinden begleitet wurde, daran hatte er sich gewöhnt.

Er machte ihr ein Zeichen, womit er ihr bedeutete, näherzutreten. Christos folgte ihr. Es war erstaunlich, wie gut sich der Blinde trotz der Tatsache, dass er wirklich gar nichts zu sehen vermochte, die Orientierung behielt. Niemand, der in seine Augen sah, konnte daran zweifeln, wirklich einen Blinden vor sich zu haben. Aber wenn man beobachtete, wie er neben Li herlief und sich anscheinend nur am Klang ihrer Schritte orientierte, dann konnte man durchaus auch auf andere Gedanken kommen.

Mit einer erstaunlichen Sicherheit vermochte er auch Entfernungen abzuschätzen. Li hatte es nie erlebt, dass der Blinde einmal irgendwo ungeschickt angestoßen wäre, weil er sich verschätzt hatte.

Sie traten beide vor. Christos stellte seine Bündel auf den großen Tisch, an dem der Logothet saß, dessen genaue Lage er exakt abgeschätzt zu haben schien.

„Ich hoffe, dass die Qualität der Bögen seine kaiserliche Majestät zufriedenstellt“, sagte Li.

„Davon gehe ich aus“, erwiderte Petros Makarios.

Li legte nun auch das Bündel mit der Wasserzeichen-Form auf den Tisch.

„Und dies zur sicheren Verwahrung...“

Petros Makarios nahm das Bündel und sah sich an, was es enthielt. Dann rief er zwei Diener herbei, die sowohl die Bündel mit den Papierbögen, als auch die Wasserzeichen-Form forttrugen. Sie verschwanden beide durch eine Tür, die wohl zu einem Nebenraum führte.

Li hatte keine Ahnung, wo die Form aufbewahrt wurde. Auch wenn sie es war, die sie geschaffen hatte, so bekam sie dieses kunstvoll verbogene Stück Metall immer nur dann ausgehändigt, wenn neue Blätter geliefert werden sollten, in die das erhabene Zeichen des göttlichen Kaisers eingearbeitet werden sollten.

Aber die Abstände, in denen das geschah, waren in letzter Zeit immer kürzer geworden. Offenbar hatte man sich bei Hof an die Qualität gewöhnt, in der Li ihre Papierbögen lieferte.

Der Logothet holte aus einem Fach, das in den Tisch eingelassen war, einen Leinenbeutel voller Münzen hervor, den er Li hinüberschob. „Deine Arbeit ist gut und es gibt bereits Stimmen, die sich wünschen, dass du noch mehr liefern könntest.“

„Herr, ich arbeite schon bis zum Rand der Erschöpfung. Um mehr liefern zu können, müsste ich Lehrlinge ausbilden und sie zu ebensolchen Meistern meines Handwerks machen, wie ich es selber bin.“

„Wer hindert dich?“

„Das Gildengericht.“

„Warum hast du keine höheren Instanzen angerufen? Unsere Stadt ist in der ganzen Welt berühmt für sein ausgefeiltes Recht, das auf dem großartigen Codex Justinianus gründet und jedermann Gerechtigkeit widerfahren lassen soll, sodass es Gott ein Wohlgefallen ist.“

„Man sagte mir, dass ein solches Ansinnen bis jetzt keine großen Erfolgsaussichten habe.“

„Wer hat dir dies gesagt?“

„Ragnar der Weitgereiste, der am Hof wohlbekannt für seine Verdienste ist, seit er dem Kaiser persönlich das Leben rettete.“

Ein kaltes Lächeln spielte um den dünnlippigen Mund des Logotheten. „Ja, ja, davon spricht er viel. Und andere, die dabei waren und diese Ereignisse in sehr verschiedener Weise schildern, ebenfalls... Wie auch immer, ich werde mich deiner Sache annehmen und sehen, ob und was für dich tun kann, Evangelia.“

„Ich danke Euch, Herr.“

Dass er sie mit ihrem Namen angesprochen hatte, konnte Li durchaus als Auszeichnung ansehen – und das war ihr auch durchaus bewusst. Offenbar hatte sich Ragnars Überlegung als zutreffend erwiesen. Der Zeitpunkt war gekommen, dass zumindest von einigen am Hof die Herstellung von Papier als unverzichtbar angesehen wurde. Gut so, dachte Li. Dann konnte der Tag ja wohl nicht mehr weit sein, da ihr auch in dieser Sache endlich Gerechtigkeit widerfahren würde und sie über das engstirnige Gildengericht triumphieren konnte.

„Du kannst jetzt gehen“, sagte Petros Makarios, ohne Li noch einmal anzusehen. „Ich werde dich durch einen Boten wissen lassen, wann wir deine Dienste wieder brauchen.“

„Sehr wohl, Herr.“

Die Wächter, die Li und Christos zuvor hereingeführt hatten, begleiteten sie nun auch wieder hinaus. Wie bedauerlich, dass du all dies nicht mehr miterleben kannst, Vater!, dachte sie, während sie mit Christos an der Seite und flankiert von den Wächtern auf einem anderen Weg aus dem Palast hinausgeführt wurde, als sie ihn betreten hatte. Oder kannst du all das vielleicht doch aus dem Reich der Toten heraus sehen?, fragte sie sie sich. Dass ich Papier für das Wohl eines Kaisers schöpfe?

Alles schien sich zurzeit in eine Richtung zu entwickeln, die ihr gefiel. Sie konnte durch das Talent, das ihr gegeben war, ihr Auskommen finden und war dabei freier als sie es je zuvor in ihrem Leben gewesen war. Allerdings blieb es ihr immer Anlass zu höchster Wachsamkeit, was ihrem Vater einst in Bian, der glorreichen Hauptstadt des Himmelssohnes widerfahren war. Das Glück, das auf dem Wohlwollen mächtiger Männer ruhte, konnte sich im Handumdrehen in sein Gegenteil verkehren, wenn der Stern dieser Männer plötzlich fiel. Doch an diese Möglichkeit mochte Li im Augenblick lieber nicht denken.

Eher dachte sie daran, dass es in ihrem Leben trotz der überaus glücklichen Wendung, die ihr Schicksal genommen hatte, seit sie den Boden des Neuen Romas betreten hatte, ihr Glück noch einen entscheidenden Mangel hatte. Einen Mangel, dessen sie sich aufs Neue und stärker als je zuvor bewusst geworden war, als Arnulf von Ellingen plötzlich vor der Tür ihrer Werkstatt gestanden hatte.

––––––––



Als sie den Palast verlassen hatten, gingen sie durch die erleuchteten Hauptstraßen am Hippodrom vorbei. Der gewaltige langgezogene Bau wirkte wie eine kleine Stadt für sich. In den Gängen unter den Rundbögen an seiner Peripherie waren tagsüber fliegende Händler zu finden. Jetzt verkrochen sich dort die Bettler und bereiteten sich ein Nachtlager. Eigentlich war das verboten. Aber all diese dunklen Ecken hätte selbst eine doppelt so starke Waräger-Garde nicht so genau bewachen können.

„Ich würde auf die Versprechungen von diesem Logotheten nicht allzu viel geben“, sagte Christos, als sie die Nordwestseite des Hippodroms erreicht hatten und sich bereits auf das Konstantin-Forum zu bewegten.

„Wie kommst du darauf?“, fragte Li.

„Evangelia! Hört Ihr nicht hin, wenn jemand redet?“

„Natürlich höre ich hin, wenn Petros Makarios spricht. Und mein Griechisch ist inzwischen gut genug, dass ich wirklich nicht nur jedes Wort, sondern auch die feinen Unterschiede in der Betonung und im Tonfall zu erkennen vermag! Außerdem – wie sprichst du eigentlich mit mit?“

„Entschuldigt, Evangelia. Ich wollte Euch nicht zu nahe treten und schon gar nicht maßregeln.“

„Nein, was dann?“

„Ich wollte Euch nur warnen. Die Stimme dieses Petros Makarios war voller Falschheit. Er meint nicht das, was er sagt und ich würde mich auf seine Hilfe nicht verlassen.“

Li sah den blinden Tagelöhner erstaunt an und runzelte die Stirn. „Und so etwas hörst du an der Stimme?“

„Ich vertue mich selten.“

Der Blinde blieb plötzlich stehen. „Es riecht eigenartig!“, stellte er fest.

„Der Gestank der Straße – aber ich sage dir, es gibt Orte, in denen der schlimmer ist als hier in Konstantinopel!“

Christos schüttelte den Kopf. „Nein, das meine ich nicht... Evangelia! Es brennt hier irgendwo!“

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Wenig später erreichten sie eine Nebenstraße. Lautes Stimmengewirr schlug ihnen entgegen. Um ein kuppelförmiges Gebäude stand eine Traube von Menschen herum. Flammen schlugen aus einem Fenster und Rauch stieg auf. „Wasser! Holt Wasser!“, rief jemand.

„Ist es eine Kirche, die da brennt?“, fragte Christos.

„Woher hast du das gewusst?“, fragte Li.

Christos atmete tief durch. „Es betrifft meistens Kirchen, wenn Brände gelegt werden.“

„Aber... Konstantinopel ist das Neue Rom! Die Hauptstadt der Christenheit! Wieso werden hier Kirchen angezündet?“

„Das waren radikale Ikonoklasten“, antwortete Christos. „Bilderstürmer, die die Ikonen in den Kirchen für Götzenverehrung halten.“


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