Читать книгу Drei Historische Liebesromane: Das 1500 Seiten Roman-Paket Sommer 2021 - Alfred Bekker - Страница 41

Siebzehntes Kapitel: Belagert

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Zum Nachmittag des nächsten Tages erschien Arnulf an der Tür ihrer Werkstatt. „Ich hoffe nicht, Euch zu stören, Li – oder ist Euch lieber, wenn ich Euch bei Eurem griechischen Namen nenne?“

„Arnulf!“, entfuhr es ihr und für einen Augenblick spiegelte sich ihre Freude auf eine Weise in ihrem Gesicht wider, die sie selten nach außen dringen ließ, denn sie war es gewohnt, ihr Innerstes für sich zu behalten und dem anderen nichts weiter als eine Maske der Freundlichkeit zu zeigen. Eine Maske, die keinerlei Ecken und Kante aufwies und vor allem dem Gegenüber ein angenehmer, so wenig wie möglich irritierender Anblick sein sollte. „Nein, nennt mich ruhig Li, denn er wird immer mein wahrer Name sein. Evangelia ist wie eine Verkleidung, die man trägt, um gefälliger zu wirken.“

„Dann werde ich Euch weiterhin Li nennen...“ Er sah sie an und es konnte ihm nicht entgangen sein, dass sie ihren Umhang angelegt hatte und am Gürtel eine Geldbörse trug. Es war also nicht zu übersehen, dass sie gerade im Begriff war aufzubrechen. „Ich scheine ungelegen zu kommen...“

„Nein, ganz und gar nicht“, widersprach sie. „Ich glaube nicht, dass ich es je als ungelegen empfinden könnte, wenn Ihr vor meiner Tür steht...“

„Aber von wichtigen Pflichten abhalten möchte ich Euch auch nicht!“

„Ihr könntet mich zum Markt auf dem Forum Tauri begleiten. Und anschließend muss ich mit einem Schmied sprechen, ob er mir einen Draht ziehen kann, der noch um die Hälfte dünner ist, als der, den ich bisher von ihm bekommen habe!“

„Ich begleite Euch gerne“, sagte Arnulf.

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In Nord-Süd-Richtung verlief eine Hauptstraße, die vom Kriegshafen am Goldenen Horn, vorbei am Capitol schließlich zum Konstantin-Hafen am Marmara-Meer führte. Zwischen dieser Straße und dem Valenus-Aquädukt lag das Forum Tauri, einer der größten öffentlichen Plätze der Stadt. Der Name erinnerte daran, dass es wohl ehedem ein Viehmarkt gewesen war. Säulengänge grenzten den Platz ab.

Eine Säule überragte alle anderen und war eines der unverwechselbaren Wahrzeichen der Stadt: Die Säule zu Ehren von Kaiser Theodosius, der das Christentum zur Staatsreligion erhoben hatte und dessen Name daher selbst am fernen Hof von Magdeburg noch einen erhabenen, fast legendären Klang hatte. Im Jahre 5698 nach der Erschaffung der Welt war dies geschehen, wie eine Inschrift in lateinischer und griechischer Sprache verriet – denn nach dem Datum der Erschaffung der Welt, wie es durch die Angaben der Bibel errechnet werden konnte, zählte man in Konstantinopel die Jahre.

Arnulf blieb bei der Säule kurz stehen, die jetzt von den Händlerständen umlagert war, während dieser Platz zu anderer Gelegenheit der Schauplatz für den Aufmarsch von Kriegerkolonnen war.

„Ich wusste nicht, dass es so viele Jahre gegeben hat“, sagte Arnulf.

„Man zählt und rechnet sie überall in anderer Weise“, gab Li zurück. „Die Muslime können sich nicht einmal darauf einigen, ob sie nach Mond- oder nach Sonnenjahren zählen sollen, wenn sie von der Flucht des Propheten nach Medina an rechnen... Wie zählt man die Jahre in Saxland?“

Arnulf lächelte. „Eigentlich nach der Gründung der Stadt Rom.“

„Ah... des wirklichen Roms!“

„So ist es. Aber in letzter Zeit ist die Sitte immer häufiger geworden, nach der Geburt unseres Herrn Jesus Christus zu zählen, die jetzt beinahe ein Millennium her sein soll.“ Arnulf zuckte mit den Schultern. „Diese Sitte kommt von unseren sächsischen Brüdern aus England. Die erste Frau von Otto Magnus war eine Angelsächsin und da ihr Andenken bis heute fast wie das einer Heiligen verehrt wird, finden es manche schick, so zu rechnen, wie sie es getan hat... Aber ich persönlich glaube nicht, dass das mehr als eine vorübergehende Mode ist.“

„Aber wenn das Millennium von Christi Geburt in ein paar Jahren bevorsteht, wie Ihr sagt, dann wäre es doch ein passender Zeitpunkt, für eine Umstellung der Zeitrechnung. Wenn ich ein Herrscher wäre, dann würde ich so eine Gelegenheit nicht verstreichen lassen, um meiner Herrschaft ein Denkmal zu setzen!“

Arnulf lachte. „Von Euch könnte das eine oder andere gekrönte Haupt vielleicht noch lernen“, meinte er schmunzelnd. „Genau das, was Ihr sagt erwägt Kaiser Otto übrigens in seinem jugendlichen Überschwang!“ Arnulf zuckte die Schultern. „Zumindest hieß es so, als ich zum letzten Mal in Magdeburg war. Aber seitdem ist ja nun eine geraume Zeit vergangen und...“

„...und so könnte es ein, dass eine neue Zeit angebrochen ist, wenn Ihr ahnungslos zurückkehrt?“, lächelte Li.

Arnulf nickte, während sich ihre Blicke zum wiederholten Mal trafen.

„Erzählt mir ruhig mehr von Eurer Heimat – Saxland... Ich möchte alles darüber erfahren, so wie wir uns ja auch gegenseitig bereits unsere Erlebnisse in den Ländern des Ostens ausgetauscht haben!“

„Aber gerne“, sagte Arnulf. „Was wollt Ihr zuerst hören? Von dem Kaiser in Magdeburg der erst ein Junge ist und für den man hier in Konstantinopel nur sehr schwer eine geeignete Prinzessin findet? Oder davon, dass ganz Magdeburg wahrscheinlich kleiner ist, als allein der Palast des Basileios!“

„Größe an sich stellt noch keinen Wert dar, Arnulf. Und ehrlich zu ein, es ist mir fast gleichgültig, wovon Ihr zuerst erzählt. Ich höre einfach gerne Eurer Stimme zu.“

Sie sah ihn an und seine Hand berührte sie vorsichtig am Unterarm. Aber er zog die Hand sogleich wieder zurück. „Ihr seid eine Frau von ganz eigenem Zauber, Li...“

„Das sagt Ihr, weil ich jetzt standesgemäße Kleider trage, mit denen man sich auf der Straße blicken lassen kann und deren Anblick Euch nicht ungewohnt ist.“

„Nein, das habe ich schon in dem Augenblick gedacht, als ich Euch in Samarkand sah, und Ihr nach Art der dortigen Frauen gekleidet ward... Selbst Lumpen würden Eure Anmut nicht verbergen können!“

„Ihr hättet mich bei den Uiguren sehen sollen, als ich wie ein zotteliges Tier herumlief!“

„Selbst das könnte daran wohl kaum etwas ändern!“

„Ich habe in all dieser Zeit gelernt: Es kommt nicht auf die äußeren Dinge an, sondern auf das, was in einem ist. Denn nur dies lässt sich bewahren. Alles andere ist ein Raub des Mottenfraßes und der Vergänglichkeit...“

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Sie gingen weiter über den Platz, auf dem Li eigentlich nach einem bestimmten Händler suchte, der hier normalerweise im regelmäßigen Abstand mehrerer Tage zu finden war. Er hatte gute Lumpen, handelte aber auch mit anderen nützlichen Dingen. So hatte er auch eine Auswahl von Harzen, die für den Gebrauch in Lis Werkstatt sehr viel besser geeignet waren als vieles, was die arabischen Händler in die Stadt brachten. Aus welchen Bäumen er diese Harze gewann, hatte er nie verraten wollen. Allerdings konnte man auf Grund der Tatsache, dass er mindestens einmal in der Woche in die Stadt kam und seinen Stand auf dem Forum Tauri hatte, erschließen, dass der Ursprung seiner Ware wohl aus Thracien, der näheren Umgebung Konstantinopels, kam. Und welche Bäume überhaupt in Thracien heimisch waren, sodass die Herkunft des Harzes sich hätte erraten lassen, darüber wusste Li einfach noch nicht genug über die Vegetation dieses Landes Bescheid. Schließlich hatte sie in all der Zeit, die sie nun schon in der Kaiserstadt lebte, deren Mauern noch nie verlassen. Alles, was sie kannte, waren ein paar Straßen und Märkte. Sie hatte so viel zu tun gehabt, dass sie noch nicht einmal zu den Spielen im Hippodrom hatte gehen können. Nur ein Blick aus dem Fenster hatte ihr dann deutlich vor Augen geführt, dass gerade eines der berühmten Wagenrennen stattfand, denn wenn das der Fall war, waren die Straßen ziemlich leer. Es gab kaum Gedränge und Li hätte gerade diese Zeiten dann gerne für ihre eigenen Besorgungen genutzt. Der Haken dabei war nur, dass dann kaum ein Händler oder Handwerker dienstbereit war. Die meisten ließen sich die Wagenrennen nicht entgehen, vom Kaiser persönlich, bis hin zum einfachen Marktschreier war das Volk der großen Stadt dann für wenige Stunden in der fieberhaften Anteilnahme am Wettstreit der unterschiedlichen Wagenlenker-Mannschaften.

„Mir scheint schon die ganze Zeit, dass Ihr etwas sucht – oder jemanden“, stellte Arnulf fest.

„Ist das so offensichtlich?“

„Allerdings!“

„Ich vermisse den Händler Phorkias – und ehrlich gesagt verstehe ich nicht, weshalb er nicht an seinem Platz ist.“

Ein paar Männer standen in einer Gruppe zusammen und unterhielten sich ziemlich lautstark. Während Arnulf so gut wie nichts davon zu verstehen vermochte, lauschte Li ihnen aufmerksam. Dann ging sie auf die Gruppe zu und sprach einige Worte auf Griechisch mit ihnen. Anschließend wandte sie sich an Arnulf.

„Die Bulgaren sind in Thracien eingefallen und die Stadttore wurden deshalb geschlossen. Ich hatte mich schon gewundert, weshalb hier nicht so viel los ist wie sonst! Offenbar wird niemand mehr in die Stadt gelassen!“

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In den nächsten Tagen trafen sich Li und Arnulf noch häufiger. Sie zeigte ihm die Stadt auf eine Weise, wie sie ihm ansonsten als Fremden nie zu Gesicht gekommen wäre. Unter anderem führte sie ihn in den Bau der gewaltigen Bibliothek, die eine der größten Sammlungen von Schriften in der Christenheit enthielt. Eine Handvoll der Bände, die hier in den Regalen standen, waren auf Papier geschrieben worden, das aus Lis Fertigung kam. Li holte eines dieser Werke aus dem Regal heraus. „Das ist die Übersetzung eines Kompendiums über die Natur der Krankheiten, das ins Griechische übersetzt wurde. Seht nur die Verarbeitung! Das Papier trägt ein Wasserzeichen, das den Stab des Äskulap darstellt...“

„Es scheint, als wäre nicht nur Euer Papier zu einem Teil dieser Stadt geworden“, sagte Arnulf.

„Nein, wenn Ihr das glaubt, dann irrt Ihr. Ich habe nirgendwo mehr Wurzeln. Die sind mir ausgerissen worden, als man uns aus Xi Xia verschleppte.“

„Ich dachte, die Art und Weise, wie Ihr im Augenblick hier in Konstantinopel Eurem Handwerk nachgeht, erfüllt Euch voll und ganz!“

„Das tut es auch!“

„Als ich Euch in Eurer Werkstatt gesehen habe, wirktet Ihr wie jemand, dem der Herr den rechten Platz gezeigt hat.“

„Das mag sein. Aber wenn ich eins gelernt habe, dann ist es dies: Es kann sich von einem Tag auf den anderen alles ändern. Nichts ist gewiss und was ich heute besitze, kann sich morgen schon in Nichts aufgelöst haben.“

„Und wenn so etwas passieren würde?“, fragte Arnulf.

„Dann würde ich an einem anderen Ort von vorne beginnen.“

„Wahrscheinlich würde Euch auch dort alles gelingen, was Eure Hand berührt, Li.“

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Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt, dass die Bulgaren die Stadt von ihrem Hinterland abgeschnitten hatten.

Einige Söldnereinheiten waren in verlustreiche Kämpfe verwickelt worden und nur wenige Überlebende schafften die Flucht bis zu den Stadtmauern, wo man sie einließ.

Ragnar der Weitgereiste stattete Li einen Besuch ab. Ihm gehörte schließlich das Haus, in dem sie ihr Handwerk betrieb und er profitierte von ihrem Gewinn.

„Dein Geschick hat dich weit gebracht“, sagte er. „Vielleicht sollten wir meine Anteile in Zukunft neu verhandeln.“

„Gerade jetzt, da die Zeiten unsicher werden?“, fragte Li.

„Sie werden nicht unsicher.“

„Bedenkt, dass wir belagert werden!“

Ragnar lachte schallend. „Die Stadt ist völlig unabhängig und wird ohnehin zum größten Teil von der See her versorgt. Und abgesehen davon haben diese bulgarischen Barbaren nur einen günstigen Zeitpunkt gewählt, um mal wieder aus ihren Bergen hevorzukommen, solange sich ein Großteil der kaiserlichen Truppen im Osten befindet. Sobald diese Kräfte hier her verlegt worden sind, wird man die Angreifer wieder in die Berge jagen und dann werden die Bulgaren Hinterhalte legen...“ Ragnar schüttelte den Kopf. „Es ist immer dasselbe und wenn du mich fragst, dann hätte der Kaiser dem Bulgarenreich in seiner Nachbarschaft schon längst ein Ende machen sollen!“

„Ich verstehe nichts von diesen Dingen“, sagte Li. „Ich habe nur erfahren, dass jeder Krieg viel Unglück über die einfachen Menschen bringt.“

„Manchmal muss man aber auch einen Krieg führen, um dieses Unglück zu verhindern“, fand Ragnar. „Ich habe früher in der Garde gegen die Bulgaren gekämpft und weiß, wie hinterhältig sie sind... Das ist ihre Taktik. Sie versuchen die Verteidiger der Stadt herauszulocken und machen sie dann nieder. Aber eine wirkliche Gefahr sind sie nur, wenn Verräter ihnen die Tore öffnen sollten, solange die Truppen aus dem Osten noch nicht zurück sind.“

Ragnar sah Li auf eine Weise an, die ihr unangenehm war. Als Christos den Raum betrat, schickte Ragnar ihn mit ein paar barschen Worten hinaus und schloss die Tür.

„Was erlaubt Ihr Euch?“, fragte Li.

„Was erlaubst du dir?“, fragte Ragnar.

„Wovon sprecht Ihr?“

„Tut nicht so, als würdest du das nicht wissen. Konstantinopel mag die größte Stadt der Welt sein – aber manchmal ist sie so klein wie ein Dorf! Wie kannst du glauben, dass man es nicht bemerken würde, dass du mit einem Ritter des Sachsenkaisers durch die Straßen läufst!“

„Was?“

„Er heißt glaube ich Arnulf von Ellingen. Jedenfalls sagte mir das jemand am Hof.“

Li schluckte und auf ihrer ansonsten stets glatten Stirn erschien jetzt oberhalb der Nasenwurzel eine Zornesfalte. „Es ist nichts Anstößiges daran“, erklärte sie.

„Li...“

„Für Euch heiße ich nicht mehr so!“, wies Li ihn zurecht. „Für Euch bin ich Evangelia!“

„Du fertigst Papier mit dem Zeichen des Kaisers. Das ist eine Vertrauensstellung. Und es könnte sein, dass man bei Hof zu der Ansicht kommt, dass jemand wie du keine allzu enge Verbindung zu jemandem wie diesem Arnulf von Ellingen haben sollte.“ Ragnar zuckte mit den Schultern. „Du wirst sicher klug genug sein, unseren Erfolg nicht aufs Spiel zu setzen.“

Li schlug das Herz bis zum Hals. Ragnar wollte sich schon zum gehen wenden. Aber so einfach wollte sie ihn nicht gehen lassen, nachdem er sie auf diese Weise abgekanzelt hatte. So dankbar sie ihm auch für die Hilfe war, die er ihr beim Aufbau ihrer Werkstatt gegeben hatte – das gab ihm noch lange nicht das Recht, auf diese Weise über sie zu verfügen und sie zurechtzuweisen. Die Zeiten, da sie unfrei war, gehörten der Vergangenheit an. „Wartet!“, sagte sie mit einer großen Klarheit und inneren Kraft. „Ich werde die Rücksicht, die Ihr von mir erwartet, nicht geben können. Wenn irgendein untergeordneter Logothet am Hof dann der Meinung ist, dass das Schreibmaterial des Hofes besser von anderswo bezogen werden soll, so kann ich es nicht ändern, wenn es ich es auch noch so sehr bedauern würde!“

Ragnar drehte sich noch einmal um. „Dass muss ja ein wirklich beeindruckender Kerl sein, wenn dir dafür alles andere gleichgültig ist“, stellte er fest, bevor er ging.

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Beinahe jeden Tag hatten Li und Arnulf sich gesehen und sie hatte jeden einzelnen Moment genossen. Er hörte ihr sogar zu, wenn sie von dem Leben berichtete, das sie in Xi Xia im Haus ihres Vaters geführt hatte – ein Leben, das Arnulf gewiss sehr fremdartig erscheinen musste, da schon ihr selbst so manches davon richtig unwirklich vorkam, wenn sie heute daran dachte. Es war einfach so vieles seitdem geschehen.

Die Tatsache, dass die Stadt belagert wurde, änderte nichts an der Durchführung der Wagenrennen im Hippodrom. Ja, es schien sogar so, als wollte der Kaiser damit ganz bewusst demonstrieren, wie wenig die Stadt in Wahrheit in Gefahr war. Wenn erst einmal die Truppen aus dem Osten zurückgekehrt waren, dann würden die Bulgaren das Gebiet, das sie zum wiederholten Mal so leicht an sich gerissen hatten, nicht halten können.

Li und Arnulf konnten den Lärm des Publikums aus dem Hippodrom immer wieder aufbranden hören, während sie durch die vergleichsweise leeren Straßen zwischen dem Konstantin-Forum und dem Hippodrom gingen und schließlich die Werkstatt erreichten.

Arnulf hatte ihr geholfen, ein Lumpenbündel zu tragen, das sie auf dem Forum Tauri erworben hatte. Der Stoff dieser Lumpen war noch recht gut erhalten und wenig zerschlissen. Deswegen hatte sie sofort zugegriffen.

Li schloss die Werkstatt auf und sie traten ein.

„Ist niemand hier?“, wunderte sich Arnulf, denn er hörte aus dem Nachbarraum nicht das vertraute Geräusch der Stampfer.

„Jeder Bettler geht zu den Spielen im Hippodrom, da konnte ich dies den Tagelöhnern, die für mich arbeiten, nicht verwehren.“

Arnulf schmunzelte, als er die Lumpen in eine Ecke abstellte und Li die Tür schloss. „Was ist mit Christos?“

„Auch er sieht sich die Rennen an.“

„Aber er dürfte wenig davon haben.“

„Er spürt die Dramatik des Rennens genauso wie jeder andere, nur dass er dabei auf seine Ohren angewiesen ist!“

Er sah sie an und Li schluckte unwillkürlich. Denn in seinen grünen Augen sah sie dieselbe Sehnsucht, die sie selbst empfand und die sie sich bisher verboten hatte, offen auszudrücken. Sie öffnete die Lippen und wollte etwas sagen, aber so beredt sie inzwischen in mancherlei Sprache auch geworden war, so wenig war sie in diesem Moment doch in der Lage, nur ein einziges Wort herauszubringen.

Er stand jetzt dicht vor, dichter als es sich in der Öffentlichkeit geziemt hätte und vor allem dicht genug, dass die erregende, sie bis innerste aufwühlende Aura, die ihn umgab, so übermächtig war, dass sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte.

„Bleibt noch etwas, Arnulf!“, sagte sie schließlich und ihre Hand berührte das Revers seines Lederwamses. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, es klopfte so heftig, dass sie glaubte, es müsste jeden Augenblick zerspringen. Abwarten, beobachten und die Gelegenheiten nutzen, die einem zugespielt wurden – das entsprach eigentlich ihrer Art. Aus den Gegebenheiten das Bestmögliche machen, ohne sich über Umstände zu beklagen, an denen doch nichts zu ändern war, so hatte es sie ihr Vater immer gelehrt und war selbst das vollkommene Vorbild darin gewesen. Aber in diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, anders handeln zu müssen. Denn wenn sie jetzt ihrem Gefühl nicht nachgab und ihr Glück einfach davongleiten ließ, würde sie sich das später nie verzeihen können. Sie dachte an den Moment, als sie Arnulf und seine Begleiter in der Dunkelheit der Gassen von Samarkand hatte entschwinden sehen. Nein!, dachte sie entschieden. So nicht noch einmal! „Ich lese in Euren Augen, dass Ihr mir auf dieselbe Weise zugetan seid wie ich Euch... Ganz egal, was dagegen sprechen mag – es zählt jetzt nicht“, murmelte sie und stellte dabei fest, dass sie den letzten Satz in der Sprache des Han-Volkes gesagt hatte. Aber Arnulf schien sie trotzdem verstanden zu haben.

Sie spürte seine Hände an ihre Schultern und im nächsten Moment berührten sich ihrer beider Lippen. Zuerst sehr vorsichtig tastend, dann voll aufkeimender Leidenschaft. Sie fühlte, wie seine starken Arme sich um sie schlossen, sie an sich drückten, während sie ihre um seinen Hals schlang. Nie hatte sie sich gleichzeitig sicher und geborgen - und doch innerlich so aufgewühlt und verwirrt gefühlt, wie in diesem Moment.

Sie genoss dieses Gefühl und hätte sich gewünscht, dass ein mächtiger Kaiser im Himmel in diesem Augenblick die Zählung der Zeit nicht einfach nur zu seinen eigenen Ehren neu beginnen würde, sondern sie einfach aussetzte.

„Verzeiht meine Unbeherrschtheit“, sagte er leise, als er sich von ihr löste.

„Es ist nichts zu verzeihen“, erwiderte sie. „Es heißt doch, der Herr hat uns zu seinem Ebenbild als Mann und Frau geschaffen...“

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Sie gingen in den Nachbarraum, wo die Bottiche mit den Stampfern standen. Von dort führte eine schmale Holztreppe ins Obergeschoss. Zwei Räume waren dort zu finden. Der eine war unschwer als Ort zur Lagerung und Trocknung fertiger Papierbögen zu erkennen. Leinen spannten sich von Wand zu Wand, von denen Bögen verschiedener Größen herabhingen. Der zweite, viel kleinere Raum aber diente Li als Schlafgemach. Weiches Licht fiel durch ein mit Alabaster verhängtes Fenster. Sie küssten sich abermals, diesmal drängender und fordernder als beim ersten Mal. Sie löste ihr Haar und Arnulf strich ihr zärtlich über den Kopf, über die Wangen und Schultern. „Ihr seid atemberaubend schön“, sagte Arnulf.

„So helft mir bei den Verschlüssen meines Kleides, damit Ihr Euch von dieser Schönheit in aller Vollständigkeit überzeugen könnt“, hauchte sie und so fiel ihr Kleid wenige Augenblicke später mit der gleichen Anmut herab, wie zuvor ihr Haar.

Sie sanken auf Lis Lager herab und entledigten sich ihrer letzten Kleidungsstücke. Eng umschlungen ließen sie ihrer aufflammenden Leidenschaft freien Lauf. Li schmiegte sich an seinen kräftigen Körper, während seine Hände über ihren Körper, ihre Schulter und die Brüste entlangfuhren und schließlich ihren straffen Bauch und die Taille erreichten. Gleichzeitig kraftvoll und zärtlich drang er in sie ein.

Gleichgültig, was daraus nun auch folgen würde – Li hatte keine Zweifel daran, dass es diesen Moment wert war. Sie umschlang mit ihren Armen seinen Rücken und zog ihn noch mehr zu sich heran.

Als sie schließlich vollkommen ermattet voneinander ließen, richtete Li sich auf. Sie sah in seine grünen Augen und fühlte eine warme, wohlige Empfindung ihren gesamten Körper durchfluten. Sie strich ihr zerzaustes Haar zurück und legte sich dann an seine Schulter. Als sich an ihn schmiegte, konnte sie den gleichmäßigen Schlag seines Herzens spüren.

Nichts brauchte gesagt zu werden, denn es herrschte ein vollkommenes Einvernehmen zwischen ihnen – eine Harmonie der Gedanken und Gefühle zweier Menschen, wie Li sie nie für möglich gehalten hätte.

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Stunden später weckte sie ein Klopfen an der Tür. Li schrak hoch. Dann begann sie sich mit fieberhafter Eile anzukleiden, während er ihr mit einem wohlgefälligen Blick dabei zusah.

„So beeil dich doch auch!“, forderte sie ihn auf, nachdem sie bemerkt hatte, dass er noch gar keine Anstalten gemacht hatte, irgendeines seiner Kleidungsstücke anzulegen. „Das wird Christos sein! Die Spiele im Hippodrom müssen längst vorbei sein!“

„Dann schick ihn nach Hause – oder ist jetzt, in den letzten Stunden des frühen Abends noch irgendetwas in der Werkstatt zu tun, was nicht auch bis morgen warten könnte?“

„Und ob!“

Arnulf lachte. „Ach, Li, dann wird irgendeinem Logotheten am Hof des Kaisers das Schreibmaterial etwas früher als erwartet ausgehen und er wird sich vielleicht in Zukunft fragen, ob wirklich jedes Schriftstück, das da hinter den dicken Palastmauern angefertigt wird, auch seine hinreichende Notwendigkeit hat!“

„Sprich nicht so laut, dass uns die ganze Straße hört!“

„Warum? Ist ein Ritter und Edelmann im Lehensdienst des Kaisers Otto von Magdeburg kein standesgemäßer Umgang für eine fleißige Papierkrämerin, zu der du geworden bist?“

Sie sah ihn an und sagte dann: „Wenn die Regeln, nachdem sich der Adel gegenüber den Bürgern verhält im Regnum von Kaiser Otto nicht völlig verschieden von den Gepflogenheiten hier sind, dann wäre das höchstens umgekehrt der Fall!“

Bevor sie aus dem Raum gehen konnte, war er aufgestanden und hatte sie am Arm festgehalten – und sie ließ sich gerne halten. Allein diese Berührung reichte schon auf, um das unstillbare Begehren wieder in ihr aufflammen zu lassen.

„Ich möchte das du eins weißt, Li...“

„Was?“

„Dass mir die Dinge, von denen du gerade gesprochen hast, vollkommen gleichgültig sind.“

Ihre Blicke verschmolzen erneut einen Augenblick miteinander, während es an der Tür abermals klopfte.

„Daran habe ich nie gezweifelt, Arnulf“, sagte sie.

Die Stimme von Christos rief auf die ihr nur allzu gut bekannte Weise ihren Griechen-Namen. „Evangelia! Seid Ihr da?“

Arnulf zog sie noch einmal an sich und küsste sie. Dann löste sie sich endgültig von ihm und lief wenig später die Treppe hinunter.

Als Li die Tür öffnete, stand wie erwartet der Blinde Christos davor.

„Die Spiele sind vorbei – aber ich rechne nicht damit, dass irgendeiner der anderen heute noch bei Euch auftauchen wird, um seine Arbeit zu verrichten“, erklärte der Blinde.

„Das ist nicht so schlimm“, sagte Li – und auf Christos Stirn erschien eine Falte, die wohl seine Verwunderung darüber zum Ausdruck brachte, welcher Sinneswandel in dieser Sache bei seiner Herrin festzustellen war.

„Ansonsten habt Ihr immer darauf wert gelegt, dass sofort nach dem Ende der Spiele mit der Arbeit fortgefahren wird“, sagte er. „Und es ist ja auch tatsächlich noch viel zu tun. Wenn die Blätter mit dem Goldfadenrand noch morgen Abend...“

Li machte ein paar schnelle Schritte. Sie öffnete die Geldbörse, die sie auf dem Tisch abgelegt hatte, nahm eine Münze heraus und drückte sie Christos in die Hand. „Ich brauche deine Dienste heute nicht mehr“, sagte sie, „aber das soll dein Schaden nicht sein.“

„Wie Ihr meint, Herrin.“

„Morgen Früh geht es hier weiter!“

„Es ist nur so...“

„Ja?“

„Ach, nichts“, meinte Christos. „Es steht mir nicht zu, Euch danach zu fragen, warum Ihr keine Schuhe tragt!“

––––––––



Li ging wieder hinauf in ihre Kammer. Dort hatte sich Arnulf inzwischen seine Beinkleider übergestreift. Er stand mit freiem Oberkörper am Fenster und schob vorsichtig das Alabaster etwas zur Seite, mit dem die Fensteröffnung verhängt war. Er konnte vermutlich von seinem Standpunkt aus beobachten, wie Christos die Straße entlang ging.

Sie sahen sich an und allein schon die Erinnerung an das Geschehene ließ ihre Sehnsucht erneut aufkeimen. Vielleicht war diese Begegnung die einzige, die ihnen blieb. Wer konnte schon sagen, wann die Umstände sie wieder auseinanderreißen würde und sie sich vielleicht nie wieder sahen.

Er ging auf sie zu, strich ihr über das Haar und die Schultern. Dann schmiegte sie sich an ihn. „Mit so zerzausten Haaren sollte sich eine Herrin nur dann an der Tür zeigen, wenn sie sicher ist, dass es ein Blinder ist, der klopft“, flüsterte er.

„Ja, aber ich hätte Schuhe anziehen sollen!“, erwiderte sie und stellte sich dann auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen.

Arnulf hob sie hoch und sie ließ sich bereitwillig von ihm auf das Lager betten. Dabei küssten sie sich immer wieder voller Leidenschaft. Ihre zweite Vereinigung war wilder und heftiger als die erste. Der letzte Vorbehalt war nun fort, die letzten Hemmungen von ihnen abgefallen und als sie dem Gipfel ihrer Lust entgegenstürmten, hatte Li einige Augenblicke das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Noch eine ganze Weile, nachdem sie sich dann in vollkommener Erschöpfung in den Armen lagen, rang sie nach Atem.

Es hatte seit ihrer Verschleppung aus Xi Xia nicht viele Momente vollkommenen Glücks gegeben, aber auf diesen Augenblick traf die Bezeichnung ohne Einschränkung zu. Es war ein Traum und so realistisch sie auch ansonsten in ihrer Art zu denken war, so weigerte sie sich einfach, an das Erwachen zu denken.

„Man sollte den Bulgaren dankbar sein, dass sie Thracien überrannt haben und die Stadt belagern...“

„Wie kommst du darauf, Li?“

In ihren dunklen Augen blitzte es, als sie ihn ansah. „Weil es dir dann auf absehbare Zeit zumindest auf dem Landweg unmöglich sein wird, die Stadt zu verlassen!“

„Und das ist in deinem Sinn?“

„Es ist mein größter Wunsch.“

Er erwiderte ihren Blick auf eine Art und Weise, die sie einen Moment vermuten ließ, dass er ihr eigentlich noch etwas hätte sagen wollen. Aber was es auch sein mochte, es hätte jetzt nur ihren Traum gestört und der würde vermutlich kurz genug sein. Er öffnete die Lippen und bevor er das erste Wort hervorbringen konnte, hatte sie ihn bereits erneut geküsst.

„Li...“

„Nicht jetzt, Arnulf. Was es auch sein mag, ob du bald ein Schiff besteigst, dein Kaiser dir irgendeinen hochgefährlichen Auftrag übermitteln ließ oder vielleicht dir zu Hause in Magdeburg vielleicht eine Braut von Adel versprochen wurde... Erzähl es mir ein anderes Mal! Denn jetzt will ich um nichts in der Welt, dass das Glück dieses Augenblicks durch irgendetwas geschmälert wird!“


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