Читать книгу Das Super Krimi Paket Dezember 2021: 12 Romane in einem Buch - 1800 Seiten Thriller Spannung - Alfred Bekker - Страница 44
3. Kapitel
ОглавлениеLorant fuhr weiter Richtung Forlitz-Blaukirchen.
Hinter einer Biegung trat er auf die Bremse. Die Reifen des Carisma quietschten. Das ABS verhinderte das Schlimmste. Der Wagen kam zum Stehen. Ein Mann stand mitten auf der Fahrbahn, schwenkte eine Fahne.
Etwa zwei Dutzend weitere Personen standen auf der Straße.
Einige von ihnen hielten Flaschen in der Hand. Unter johlender Anteilnahme der Allgemeinheit wurden tennisballgroße Kugeln über den Asphalt gerollt.
Oh nein, das hat mir gerade noch gefehlt!, ging es Lorant durch den Kopf.
Vom Nationalsport der Friesen hatte er schon gehört.
Boßeln nannte sich das und in dem Fernsehbericht, den Lorant in grauer Vorzeit mal darüber gesehen hatte, wurde das so dargestellt, als ob es sich um eine Art norddeutsche Version des französischen Boule-Spiels handelte. Natürlich wie in Deutschland üblich in Vereinen organisiert und streng in Wettbewerbe mit Hartholz- oder Gummikugeln getrennt.
Ob es denen, die auf dieser Straße herumstanden, wirklich in erster Linie um irgendeinen sportlichen Ehrgeiz ging, bezweifelte Lorant angesichts der offenbar feucht-fröhlichen Stimmung, die unter den Teilnehmern herrschte.
Lorant hupte.
Schließlich könnten die ja mal ein bisschen Platz machen!, dachte er.
Einige der Boßel-Spieler drehten sich um. Flaschen und Pinnchen wurden gehoben und dem Auswärtigen freundlich zugeprostet. Irgendwo brandete Gelächter auf.
Der Fahnenschwenker trat von der Seite her an Lorants Wagen heran, tickte dann mit den Fingern gegen die Seitenscheibe.
Offenbar will der was von mir!, schloss Lorant und ließ per Knopfdruck die Scheibe hinunter.
"Ich will da durch!", sagte Lorant ziemlich direkt und ohne Schnörkel. Manchmal sollte man die Dinge eben auf den Punkt bringen, ging es ihm durch den Kopf.
Sein Gegenüber schien genauso zu denken.
Er antwortete trocken: "Nee, dat gait nich!"
"Ey, wie?"
Lorant war etwas irritiert und machte einen
Gesichtsausdruck, der das auch ohne weitere Worte hinreichend zum Ausdruck brachte.
Der Fahnenschwenker, ein rotgesichtiger, sommersprossiger Mann, von dem man annehmen konnte, dass er wohl auch schon einige der Schnappspinnchen hinuntergestürzt hatte, schluckte jetzt und machte ein sehr konzentriertes Gesicht. Das musste er auch, denn er versuchte jetzt hochdeutsch zu sprechen. Offenbar nicht seine Muttersprache.
"Sie können hier nicht durch."
"Wieso nicht?"
"Sieht man doch: Hier wird geboßelt."
"Und wie lange dauert das?"
"Wir ziehen hier die Straße entlang."
"Wahrscheinlich mit einem halben Stundenkilometer oder so."
"Oder so, ja."
"Können Sie den Leuten da nicht mal sagen, dass sie für'n Moment Platz machen und die Kugeln wegräumen? Ich bin ja auch schnell durch."
"Mitten im Wettbewerb?"
Lorant atmete tief durch.
Jetzt hatte er den Weg bis Forlitz-Blaukirchen beinahe gefunden und dennoch führte wohl kein Weg daran vorbei, so kurz vor dem Ziel wieder umzukehren.
Und das wegen ein paar Boßel-Spielern.
Von der Tatsache gar nicht zu reden, dass Lorant um ein Haar in die Gruppe hineingefahren wäre. So einen Unsinn sollte man verbieten!, ging es ihm durch den Kopf. Allerdings musste er zugeben, dass er auch um einiges zu schnell gewesen war.
Einer aus der Boßel-Schar kam mit seiner Flasche Klaren auf Lorants Wagen zu, trat dann an das Seitenfenster heran und hielt die Flasche hoch. In der anderen Hand hielt er ein Pinnchen.
"Auch ein Söipke?"
"Wie?"
"Etwas zu trinken", sagte der Mann mit der Flasche gestelzt.
Die Prinz Heinrich-Mütze war ihm etwas in den Nacken gerutscht. Ein übler Schluckauf machte ihm zu schaffen.
"Nein danke", maulte Lorant.
"Jo, selber Schuld", erwiderte der Mützenträger und goss sich selbst ein 'Söipke' ein. Todesmutig stürzte er den Inhalt des Pinnchens in einem Zug den Rachen hinunter. Gleich anschließend musste er aufstoßen.
Der Fahnenträger grinste.
"Wer nich will, der hat schon, was?"
"So isses!"
"Eigentlich gar nicht das richtige Wetter zum Boßeln. Wenn's draußen kälter ist, wird einem auch nicht so warm vom Söipke!"
"Ich dreh dann wohl besser", meinte Lorant.
"Jo!"
"Jo!"
Die beiden sagten dieses Wort mit einer Verzögerung von einer Viertelsekunde, was einen ganz eigentümlichen Kurzkanon ergab.
"Und wie komme ich nun nach Forlitz-Blaukirchen?"
Der Fahnenträger erklärte es Lorant. Der Mann mit der Prinz Heinrich-Mütze wäre dazu vermutlich auch gar nicht mehr in der Lage gewesen. Er musste erneut aufstoßen, so dass Lorant den ersten Teil der Erklärungen des Fahnenträgers akustisch verpasste.
"....rück zur Hauptstraße, dann ein paar Kilometer weiter Richtung Aurich. Schließlich links ab. Da geht's von der anderen Seite nach Forlitz-Blaukirchen."
"Danke."
"Keine Ursache."
Wär ja auch noch schöner!, dachte Lorant grimmig. War ja schon ärgerlich genug, dass er auf Grund dieser blödsinnigen Kugelschmeißerei einen Umweg machen musste.
Der Mann mit der Prinz Heinrich-Mütze hob die Flasche.
"Nicht doch ein Söipke?"
"Wiedersehen!"
"Tschüss!"
Lorant setzte den Wagen zurück und versuchte ihn dann zu wenden. Auf der schmalen Straße war das trotz des engen Wendekreises gar nicht so einfach. So nahe es ging, fuhr Lorant mit dem Heck an den Graben heran.
Als er es schließlich geschafft hatte, die Kühlerhaube des Carisma in die entgegengesetzte Richtung zeigen zu lassen, trat er das Gaspedal voll durch.
Aus der Stereoanlage waren jetzt die ersten, sehr charakteristischen Akkorde des Miles Davis-Klassikers SO WHAT zu hören. Lorant mochte die in einem mittleren Tempo gespielte Originalfassung am liebsten, die auf dem Album KIND OF BLUE verewigt worden war. In Gedanken spielte Lorant den Klavierpart mit. Die Finger der rechten Hand zuckten dabei, tickten auf den Lederbezug des Lenkrads. Die Linke brauchte er, um das Steuer auf Kurs zu halten. Wer saß damals eigentlich am Piano?, fragte Lorant sich. Bill Evans? Gut möglich.
Etwa eine Viertelstunde später erreichte Lorant Forlitz-Blaukirchen.
Seine Klientin wohnte in einem der typischen rot verklinkerten Häuser.
Nur, dass das Haus der Sluiters in allem etwas größer und besser ausgestattet wirkte, als man es sonst hier antreffen konnte.
Schon das Grundstück hatte mindestens die doppelten Ausmaße eines gewöhnlichen Bauplatzes. Selbst, wenn man einrechnete, dass Baugrundstücke in einem Flachlandgebiet immer etwas größer schienen als in Landstrichen mit bergigem Charakter.
Lorant parkte seinen Carisma in der Einfahrt, stieg dann aus.
Die Baseballkappe ließ er im Auto.
Sein Longjackett ebenfalls. Er steckte sein Handy in die Innentasche seines Fischgrät-Jacketts, das vermutlich schon genauso viele Jahre auf dem Buckel hatte wie die verschossene Jeans, die er dazu trug.
Immerhin waren die Turnschuhe neu.
Fünf Schritte hatte Lorant in Richtung Eingangstür hinter sich, als ein Hundeknurren ihn erstarren ließ.
Eine gewaltige Dogge schoss hinter der Garage hervor. So groß, dass ein Shetland-Pony dagegen wie ein Hund ausgesehen hätte.
Mit hängenden Lefzen rannte das gewaltige Tier auf Lorant zu, riss dann das gewaltige Maul auf.
"Stop!", ertönte ein knappes, aber unmissverständliches Kommando, ausgestoßen von einer unzweifelhaft weiblichen Stimme. "Tasso, Stop!"
Tasso, die Dogge, stoppte tatsächlich.
Einen Meter von Lorants Fußspitzen entfernt setzte sie sich hin und knurrte auch nicht mehr. Aber das Tier beobachtete den Fremden, der es gewagt hatte, das Sluiter'sche Grundstück zu betreten.
Eine Frau in den Fünfzigern kam hinter dem Haus hervor.
Sie hatte aschblondes Haar. Lorant schätzte ihre Größe auf nicht mehr als ein Meter fünfundsechzig. Höchstens. Sie wirkte sehr zierlich, trug Jeans, Pullover und Gartenhandschuhe.
"Sind Sie Frau Sluiter?", fragte Lorant.
"Die bin ich."
"Lorant mein Name. Wir haben telefoniert."
"Ah, ja."
Lorant deutete vorsichtig auf die Dogge. "Ich habe ja grundsätzlich nichts gegen Hunde, aber der hier ist mir doch etwas zu groß."
"Entschuldigen Sie, Herr Lorant. Aber Tasso ist ganz lieb. Der macht nix."
DER MACHT NIX - ein geflügeltes Wort. Wie oft hatte Lorant das schon gehört? Besonders in den Jahren, als er noch bei der Polizei gewesen war. DER MACHT NIX! Welcher Hundebesitzer sagte das nicht? Die Zahl der Briefträger, die vergeblich auf diesen Satz vertraut hatten, musste Legion sein.
Seit während seiner Polizeijahre mal ein Verdächtiger seinen Dackel auf ihn gehetzt und dieser ihm dann übel in die Wade gebissen hatte, hatte Lorant sich eigentlich vorgenommen, diesem Satz nicht mehr zu trauen. Nie wieder. Andererseits wäre jeder Polizist, der es gewagt hätte, sich gegen einen Hund mit der Dienstwaffe oder einem gezielten Karatetritt zu verteidigen vom gesellschaftlichen Ansehen her vermutlich auf eine Stufe mit Kinderschändern und Politikern abgesunken. Und da überlegte sich jeder FREUND UND HELFER schon sehr genau, ob er etwas gegen vierbeinige Gesetzesbrecher unternahm oder sich nicht doch besser beißen ließ. Von Postboten oder Privatpersonen, die ja keinen vergleichbaren Amtsbonus besaßen, einmal ganz abgesehen.
Frau Bernhardine Sluiter ging auf Lorant zu, zog sich dabei einen Gartenhandschuh aus und reichte dem Detektiv die Hand.
"Ich bin froh, dass Sie da sind, Herr Lorant."
"Ich auch."
"Wie soll ich das verstehen?"
"War gar nicht so einfach, hier her zu gelangen."
"War die Beschreibung nicht gut, die ich Ihnen gegeben hatte?"
"Doch. Aber zwischendurch wurde ich aufgehalten. Ich brauche Ihnen ja wohl nicht zu erklären, was 'Boßeln' ist..."
Bernhardine Sluiter lächelte matt.
"Nee, das brauchen Sie mir wirklich nicht zu erklären." Sie atmete tief durch, seufzte dabei. "Mein Mann hat diesen Sport bis zum Exzess betrieben." Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. "Alles nur ein Vorwand, um sich ordentlich einen hinter die Binde kippen zu können, würde ich sagen, aber ein bisschen Spass muss der Mensch ja haben."
Spass mit Doppel-ss anstatt ß.
Jedenfalls sprach Bernhardine Sluiter das Wort so aus.
"Wir haben ja hier schon keinen Karneval!"
"Und Sie finden, dass Boßeln ein adäquater Ersatz ist?"
"Gott sei Dank wird das noch nicht im Fernsehen übertragen."
"So wie KÖLLE ALAAF!"
"Genau."
Lorant lächelte etwas gequält. "Glauben Sie mir, das kommt auch noch. Irgendein Privatsender findet sich auch dafür!"
"Kommen Sie doch mit ins Haus, Herr Lorant, damit wir alles besprechen können."
"Nichts dagegen, aber..."
Frau Sluiter schien Lorants Gedanken gelesen zu haben.
Jedenfalls folgten ein paar knappe Kommandos, die den Hund dazu veranlassten, sich zu entfernen. Er trottete in Richtung der Garage und ließ sich davor nieder.
"Sie sehen..."
"...der macht nix."
"Genau. Und vor allen Dingen hört er auf's Wort."
Lorant folgte Bernhardine Sluiter. Sie gingen am Haupteingang des Hauses vorbei, betraten die kurzgeschorene Rasenfläche. Der Boden war dunkel, tief, und voller Wasser.
Frau Sluiter führte Lorant zur Terrasse.
"Halten Sie diesen Hund aus Sicherheitsgründen oder aus Tierliebe?", fragte Lorant.
"Beides. Allerdings im Verhältnis 90 zu 10 zu Gunsten der Sicherheit."
"Fühlen Sie sich derart bedroht?"
"Mein Mann und ich haben..." Sie stockte, biss sich dann auf die Lippe. "Ich rede von meinem Mann immer noch so, als würde er noch leben. Manchmal denke ich, dass er nach Hause kommt. Tasso denkt das übrigens auch. Er springt plötzlich auf, läuft schwanzwedelnd zur Tür, wenn er was gehört hat..."
Als Bernhardine Sluiter die angelehnte Terrassentür öffnete, sah Lorant ihr Gesicht für einen kurzen Augenblick aus dem Profil. Ein trauriger Ausdruck kennzeichnete ihre Züge in diesem Moment. Ein Ausdruck der Trauer, der jedoch nur kurz sichtbar blieb und einem unverbindlichen, etwas gequält wirkenden Lächeln wich.
Eine Frau, die sich sehr gut zu kontrollieren vermag!, erkannte Lorant. Sie will ihre Emotionen nicht zeigen. Jedenfalls nicht mir gegenüber. Aber ist das so schwer zu verstehen? Ich bin ein Fremder, der in ihre Welt eindringt. Und in nächster Zeit werde ich sogar ziemlich indiskret in dieser Welt herumschnüffeln müssen. In einer Welt, die bis vor kurzem noch völlig in Ordnung schien und in die jetzt der Tod getreten ist.
Der gewaltsame Tod, nicht das schicksalhafte, unabwendbare Ableben eines geliebten Angehörigen, mit dem man sich abfinden muss.
Lorant glaubte zu verstehen, was in seinem Gegenüber vor sich ging.
Du hast das alles selbst durchgemacht, dachte er. Sei nicht zu ungeduldig mit ihr.
Die Witwe führte Lorant ins Haus.
Lorant ließ den Blick schnell durch das mit ziemlich klobig wirkenden Polstermöbeln ausgestattete Wohnzimmer schweifen.
Gelsenkirchener Barock, dachte Lorant. Das hatte sich inzwischen wohl national gesehen durchgesetzt, über alle regionalen Grenzen hinweg.
"Setzen Sie sich doch, Herr Lorant."
"Danke."
"Möchten Sie etwas trinken?"
"Kaffee."
"Tut mir leid, ich habe keine einzige Bohne da. In diesem Haus trinkt niemand Kaffee. Wie wäre es mit Tee?"
"Nein, lieber nicht."
Lorant setzte sich mitten auf das Sofa. Er wandte den Kopf zu den Fotos hin, die da an der Wand hingen. Das erinnerte Lorant an einen Ahnenschrein. Vergilbte Schwarzweißfotos von Groß- und Urgroßeltern. Ein Hochzeitsfoto der Sluiters. Daneben ein Foto, das offenbar auch Gretus Sluiter zeigte. Es musste allerdings mindestens zwanzig Jahre später aufgenommen worden sein.
"Das ist - war - mein Mann!", sagte Bernhardine Sluiter mit tonloser Stimme.
Lorants Blick glitt nach links.
Noch ein Hochzeitsfoto.
Der junge Mann darauf hatte durchaus Ähnlichkeit mit Gretus Sluiter in jungen Jahren.
"Mein Sohn Ubbo und seine Frau Rena."
"Aha, ja..."
"Daneben unsere Enkelkinder."
Lorant warf kurz einen Blick auf das Bild, das zwei Jungs zeigte, die dem ermordeten Gretus unverkennbar ähnlich sahen.
Der Detektiv schätzte sie auf neun und elf Jahre. "Tragen die denn auch so etwas eigentümliche original-friesische Namen?"
Bernhardine Sluiter schüttelte den Kopf.
"Nee, sie heißen Kevin und Marvin."
"Klingt selbst für meine Ohren nicht friesisch."
"Nee, echt nicht!"
Eine Pause entstand. Bernhardine Sluiter rieb etwas verlegen mit den Handflächen über die Oberschenkel, ehe sie schließlich zu sprechen begann. "Wie ich Ihnen am Telefon bereits sagte, geht es um den Tod meines Mannes. Jemand hat hier angerufen und sich als Meerwart des Großen Meeres ausgegeben."
"Benno Folkerts."
"Ja. Sie kennen ihn?"
"Flüchtig." Lorant zuckte die Achseln. "Ich habe ein Krabbenbrot bei ihm gegessen."
"Der Benno hat nichts damit zu tun, da bin ich mir ganz sicher. Da hat Gretus irgendjemand hereingelegt."
"Was hat Ihr Mann Ihnen über den Inhalt des Telefongesprächs gesagt?"
"Dass etwas mit dem Segelboot wäre, das wir am Großen Meer liegen hätten. Gretus ist natürlich gleich losgefahren. Wir haben nicht viel darüber sprechen können. Ich muss gestehen, ich war auch ziemlich beschäftigt. Wissen Sie, wir haben insgesamt drei Geschäfte in Emden, und ich mache die Buchhaltung für alle drei und..."
"Kurz und gut: Sie hatten Stress!"
"Ja, so kann man es ausdrücken." Sie holte tief Luft. Nicht zum ersten Mal, wie Lorant auffiel. Als ob ihr eine zentnerschwere Last auf der Brust liegt und ihr das Atmen schwer macht, überlegte er. Für Sekunden war wieder dieser Ausdruck unendlicher Traurigkeit in ihren Zügen. Aber diese winzige Zeitspanne reichte Lorant aus, um ihn wiederzuerkennen.
Der Tod ihres Mannes hat diese Frau wirklich zutiefst erschüttert!, war Lorant überzeugt.
"Jedenfalls fuhr er dann weg. Es war schon dunkel. Mein Gott, er kam nicht mehr zurück." Sie schluckte. "Ich bin schließlich ins Bett gegangen und dachte, dass Gretus vielleicht noch einen trinken gegangen ist. Am nächsten Morgen war er immer noch nicht da..." Sie schluckte erneut. Die Ader an ihrem Hals pulsierte. Es schien sie auf das Äußerste anzustrengen, über dieses Thema zu sprechen. "Ich habe dann die Polizei verständigt. Es war kaum Mittag, da wurde er in seinem Segelboot gefunden." Frau Sluiter wischte sich kurz über die Augen. "Wenden Sie sich an Hauptkommissar Meinert Steen bei der Kripo in Emden. Der hat jede Menge Fotos vom Tatort in seinen Akten. Ich habe darauf bestanden, sie mir anzusehen. An Gretus' Kopf klaffte eine Wunde. Entweder ist er so gestoßen worden, dass er auf dem Boden aufschlug, oder er hat einen Schlag mit irgendetwas abbekommen. Ein Fuß hing noch im Netz der Reling. Wie er so da hing... Mein Gott, ich sehe jede Nacht dieses Bild vor mir. Rena, meine Schwiegertochter, meint, ich müsste in Psychotherapie. Aber dafür habe ich doch gar keine Zeit. Wir haben drei Geschäfte, wie ich ja schon mal erwähnte, und die müssen weitergeführt werden. Schließlich habe ich ja eine Verantwortung gegenüber unseren Angestellten und kann mich nicht einfach so hängen lassen."
"Sie gehen von einem Fremdverschulden beim Tod Ihres Mannes aus?"
"Ja."
"Ihre Anhaltspunkte dafür?"
"Erstens der Anruf."
"Und zweitens?"
"Das Segel war nicht hochgezogen, es war kein Wind und es gab keinen Grund für meinen Mann, mit dem Boot hinauszufahren. Der Jollenkreuzer wurde im Schilf gefunden, kam also gar nicht aus der Hafenbucht heraus."
"Sie meinen, jemand hat Ihren Mann mit einem Anruf zum Großen Meer gelockt, beim Boot auf ihn gelauert, ihn erschlagen und dann das Boot auf den See hinaustreiben lassen."
"Das wäre eine Möglichkeit, ja."
"Und die Polizei?"
Bernhardine Sluiter lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Gesichtsausdruck bekam einen sehr harten Zug um die Mundwinkel. "Offiziell abgeschlossen ist der Fall noch nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass die Ermittlungen im Sande verlaufen werden. Zumal mir Kommissar Steen seine ganz persönliche Meinung bereits in einem Gespräch klipp und klar mitgeteilt hat."
Lorant hob die Augenbrauen, fingerte dabei einen Notizblock aus der Seitentasche seines Jacketts heraus und suchte in der Innentasche nach einem Stift. Er fand einen blauen Kuli.
"Wie lautete Hauptkommissar Steens Meinung?"
"Er geht von einem Tod durch Unfall aus."
"Was ist mit Benno Folkerts, dem Meerwart? Ist er befragt worden?"
"Sie meinen wegen des Anrufes."
"Genau."
Bernhardine Sluiter lachte bitter auf. "ICH habe ihn befragt und er hat mir gegenüber natürlich abgestritten, meinen Mann angerufen zu haben. Ehrlich gesagt glaube ich ihm auch. Die beiden kannten sich flüchtig und soweit ich weiß, hat Benno Folkerts nicht den geringsten Grund, meinem Mann schaden zu wollen."
Sie machte eine kleine Pause, ehe sie fortfuhr. "Sie haben mir Ihre Preisliste ja bereits am Telefon genannt und auf Ihrer Homepage ist sie ja auch nicht zu übersehen..."
"Ich muss auch leben."
Sie lächelte matt. "Sie missverstehen mich. Es ist mir völlig gleichgültig, was es kostet! Finden Sie heraus, warum mein Mann sterben musste. Ich will mich nicht mit diesen lauen Ausreden der Polizei begnügen, die doch letztlich nur schwer die Ratlosigkeit verbergen können, die da herrscht. Was immer Sie für richtig halten -—veranlassen Sie es bitte."
"Ich brauche eine formelle Auftragsbestätigung von Ihnen.
Warten Sie, ich habe ein Formular vorbereitet."
Lorant holte es in zweifacher, schlecht gefalteter Ausführung aus der rechten Innentasche heraus und legte es ihr vor, gab ihr dann den Kuli dazu. Sie unterschrieb, ohne es zu lesen. Lorant steckte ein Exemplar wieder ein. Das andere überließ er seiner Klientin.
"Am Telefon hatten Sie mich um eine Adressenliste aller Angestellten, Verwandten und Bekannten gebeten", sagte Bernhardine Sluiter dann.
"Richtig. Die würde mir viel Zeit ersparen."
"Ich habe sie für Sie vorbereitet."
Bernhardine Sluiter erhob sich, ging zu einem Sekretär aus dunklem Holz, öffnete eine Schublade und holte ein Kuvert heraus.
Einen Augenblick später überreichte sie es Lorant. "Wenn Sie weitere Angaben brauchen, setzen Sie sich bitte mit mir in Verbindung."
"Gut."
"Wo kann man Sie erreichen?"
"Über Handy. Die Nummer steht auf der Auftragsbestätigung, die ich Ihnen gegeben habe."
"Haben Sie schon eine Unterkunft, wo Sie übernachten werden?"
"Bei Beate Jakobs in der Bedekaspeler Marsch. Jedenfalls habe ich mich da angemeldet." Der Grund dafür, dass Lorant diese Unterkunft ausgesucht hatte, war einfach der, dass sie am billigsten war.
Bernhardine Sluiter lächelte mild. "Beate Jakobs hat jahrelang nur fünfundzwanzig D-Mark pro Nacht genommen. Wie viel sie seit der Euro-Umstellung verlangt weiß ich nicht, aber im Preis ist ein hervorragendes Frühstück mit drin."
"Um so besser."
Lorant erhob sich. Es war alles besprochen. Jedenfalls dachte Lorant das. Frau Sluiter schien jedoch noch irgendetwas auf dem Herzen zu haben. Sie druckste etwas herum, bevor sie es schließlich herausbrachte. "Ich weiß nicht, ob da ein Zusammenhang zum Tod meines Mannes besteht, aber..."
Sie brach ab.
Lorant hob die Augenbrauen.
"Nur zu, Frau Sluiter. Wenn Sie irgendeinen Verdacht haben, jemanden kennen, der vielleicht ein Motiv für einen Mord haben könnte, dann sollten Sie es mir jetzt sagen. Selbst wenn es sich nur um vage Vermutungen handeln sollte."
Bernhardine Sluiter nickte.
"Also gut. Wir haben in letzter Zeit ein paar Mal Probleme mit einer Gang von Russlanddeutschen gehabt, die versucht haben, Schutzgeld zu erpressen."
Lorant wurde hellhörig.
"Kennen Sie diese Leute?"
"Einige ja."
"Haben Sie die Polizei eingeschaltet?"
"Ja. Es gab ein paar vorläufige Festnahmen und Verhöre."
"Die Sache verlief im Sand, nehme ich an."
"Verstehen Sie nun, warum ich der hiesigen Kripo nicht allzu viel zutraue?"
"Allerdings."
"Naja, jedenfalls war seitdem Ruhe, was diese Gang betrifft."
"Wie lange ist die Geschichte her?"
"Ein halbes Jahr. Es wäre ja möglich, dass von denen einer ziemlich sauer war und sich gerächt hat."
"Ich danke Ihnen für den Hinweis. Sagen Sie, wie sind Sie eigentlich auf mich gekommen?"
Frau Sluiter zuckte die Achseln.
"GELBE SEITEN DEUTSCHLAND. Die sind heute doch in jedem Software-Paket dabei, das es beim Kauf eines Computers gibt. Detektive gibt es natürlich wie Sand am Meer. Aber nur einer hatte ungeklärte Tötungsdelikte als Spezialgebiet angegeben."
"Verstehe."
"Gibt es so viele davon, dass jemand wie Sie davon leben kann?"
"Wie Sie sehen—ja! Und die Leute, die sich an mich wenden, stellen wahrscheinlich nur die Spitze eines Eisberges dar. Allerdings gibt es für einen Privatdetektiv finanziell lukrativere Gebiete. Security Consulting für große Firmen und so was."
"Und warum haben Sie sich dann DIESEM Gebiet zugewandt?"
Lorant lächelte dünn.
"Vielleicht unterhalten wir uns ein anderes Mal über dieses Thema."
"Natürlich."
Frau Sluiter brachte Lorant zur Tür. Diesmal zur Haustür. Sie kamen dabei durch einen schmalen Flur. An den Wänden hingen Fotos und Urkunden. In einer Vitrine standen mehrere kleine Pokale.
Lorants Blick blieb daran haften.
"Ja, da sehen Sie, wie intensiv sich mein Mann für seinen Boßel-Verein engagierte. Daneben sponserte er auch noch Kickers Emden mit Bandenwerbung und spendierte dem Yacht Club das Clubhaus."
"Ihr Mann hatte was übrig für den Sport."
"Ja, das hatte er", murmelte Bernhardine Sluiter mit belegter Stimme. "Das hatte er wirklich. Waren auch alle in Regimentstärke auf der Beerdigung angetreten... Die Feuerwehrkapelle hat dazu gespielt..." Tränen glitzerten in ihren Augen.
Wird Zeit, dass ich jetzt gehe, dachte Lorant.