Читать книгу Das Super Krimi Paket Dezember 2021: 12 Romane in einem Buch - 1800 Seiten Thriller Spannung - Alfred Bekker - Страница 63

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20. Kapitel


Lorant fuhr zu seiner Unterkunft bei Beate Jakobs. Er hatte Hunger, da er den ganzen Tag über noch nichts Richtiges gegessen hatte.

Außerdem musste er darüber nachdenken, wie er weiter vorgehen wollte. Eine Option war, dem X-Ray einen Besuch abzustatten. Es musste doch mit dem Teufel zugehen, wenn ihm dort nicht jemand etwas über Eilert Eilers erzählen konnte. Zwar stand es noch keineswegs fest, dass es sich bei dem verschwundenen Bar-Tender des X-Ray wirklich um die Leiche vom Huntetal handelte, aber andererseits dachte Lorant nicht im Traum daran, sich an Meinert Steens Anweisungen zu halten.

Sollte der Kripo-Mann nur fleißig weiter hinter ihm her ermitteln!

Wenn es am Ende um eine Verhaftung ging, brauchte Lorant ohnehin dessen Hilfe. Leider.

"Na, den ganzen Tach unnerwegs?", begrüßte ihn Beate Jakobs, nachdem er den Schankraum betreten hatte.

"Jo", imitierte Lorant die Sprechweise der Einheimischen.

Der einzige Gast, der sich zur Zeit im Schankraum befand, saß an der Theke vor seinem Bier. Ein rotgesichtiger, dickbäuchiger Mann mit Prinz Heinrich-Mütze. An seinen Gummistiefeln klebte Mist. Ein Bauer also, schloss Lorant messerscharf.

"Junger Mann, kann ich was für Sie tun?", erkundigte sich Beate Jakobs.

Ihr nahm Lorant den 'jungen Mann' nicht übel, so wie dem Meerwart Benno Folkerts. Entweder deshalb, weil der Altersunterschied entsprechend war, oder weil Beate Jakobs einen zwar etwas herben, aber auf ihre Art und Weise doch auch unwiderstehlichen Charme hatte, der dem Meerwart schlicht und ergreifend abging.

"Ich habe Hunger", sagte Lorant wahrheitsgemäß.

"Dann hole ich Ihnen mal die Karte!"

Oh, Karte!, dachte Lorant. Eine so große Auswahl, dass es sich lohnte, sie auf eine Speisekarte zu drucken, hatte Lorant dem Lokal von Beate Jakobs gar nicht zugetraut.

"Gerne!"

"Einen Moment!"

Lorant setzte sich an den Tresen. Beate Jakobs gab ihm eine Karte. Schön eingebunden in feinstes Kunstleder.

"Sach mal, du bist nicht von hier, was?", fragte der Bauer an Lorant gewandt.

"Nein. Von Ostfriesland kenne ich nur die Ostfriesenwitze."

"Kennst du den schon: Wie heißt die älteste Stadt der Welt?"

"Keine Ahnung."

"Leer in Ostfriesland."

"Wieso?"

"Na, das steht doch schon in der Bibel: 'Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde und auf der Erde war es wüst und LEER!"

Lorant lachte aus Höflichkeit mit, während sich der Bauer gar nicht einkriegen konnte. Mit einem Auge überflog der Detektiv dabei die Angebote aus Beates Küche. Konventionell-rustikale Pommesbuden-Gastronomie, so ließ sich der Inhalt der Karte zusammenfassen. Pommes mit Schnitzel, ein halbes Hähnchen, Bockwurst mit Kartoffelsalat. Wahrscheinlich alles von einem Tiefkühldiscounter angeliefert und vorgefertigt. Aber Lorant war keineswegs ein gläubiger Anhänger irgendeiner Nahrungsmittel-Religion. Weder Vegetarier, noch Fettverächter oder Fast Food-Ablehner. Hauptsache satt, war seine Devise.

Er entschied sich für das Schnitzel mit Pommes.

"Das tut mir aber leid, junger Mann! Aber das Schnitzel ist leider aus!"

"Hm!"

"Vielleicht ist ja noch was anderes dabei, was Sie mögen."

"Klar."

Der Bauer meldete sich mit dem nächsten Witz.

"Kennst du den: Das Kind eines Auswärtigen geht auf ein Emder Gymnasium. Da fragt der Lehrer: 'Beschreib mir mal den kürzesten Weg nach Japan!' Da meldet sich der Schüler von auswärts und erklärt umständlich den Weg über Osteuropa und Russland, China bis nach Japan. Sagt der Lehrer: 'Nee, das stimmt nicht. Es gibt noch einen Kürzeren."

Lorant runzelte die Stirn. "Und welchen?"

"Ein anderer Schüler meldet sich und sagt: 'Ich gehe einfach in Larrelt über die Brücke und schon bin ich in Japan."

Der Bauer lachte los.

Lorant verstand kein Wort und sah ziemlich begriffsstutzig drein. Glücklicherweise hatte Beate Jakobs Erbarmen mit ihm.

"Junger Mann, das ist so: Emden war doch früher ein bedeutender Hafen, auch wenn's schon eine Weile her ist. Und deswegen sind einige Stadtteile Emdens nach Orten in fremden Ländern benannt: Tsing-tau, Port Arthur, Transvaal..."

"Und eben Japan?", schloss Lorant.

Beate Jakobs nickte. "Ja, das Gebiet hinter der Larrelter Brücke hieß traditionell früher Japan."

"Was ist mit halben Hähnchen, Frau Jakobs. Kann ich das noch bekommen?"

"Junger Mann, Sie haben aber ein Pech..."

"Wie? Auch aus?"

"Leider ja."

"Und die Bockwurst mit Kartoffelsalat?"

"Die ist noch da."

"Was ist denn außer der Bockwurst mit Kartoffelsalat noch zu haben?"

"Leider ist das im Moment das einzige, was ich anbieten kann. Der Kühlwagen kommt übermorgen, und ich bin ziemlich ausgebrannt!"

Lorant seufzte, klappte die Karte zu. "Okay, dann die Bockwurst." Hätte sie mir ja auch gleich sagen können, dass sie sonst gar nichts da hat!, dachte er. Das Kartenstudium hätte ich mir dann ja wohl auch sparen können.

Er gab ihr die Karte zurück.

"Schön, dass wir doch noch was für Sie gefunden haben, junger Mann!", meinte Beate Jakobs.

Die alte Dame verschwand in der Küche.

Lorant sah zu, dass er gegenüber dem Bier trinkenden Bauern etwas Land gewann. Noch mehr Witze, für die ihm die Verständnisgrundlagen fehlten, wollte sich der Detektiv nicht anhören.

"Nix los heute hier, was?", meldete sich der Bauer mit seiner dröhnenden Stimme dann aber doch zu Wort.

Lorant ging bis in die Mitte des Raumes hinein, der sich durch eine Schiebetür aus Paneele trennen ließ. In einer Ecke hinter dem Kamin entdeckte er ein Klavier, darüber ein ostfriesisches Landschaftsbild. Blässhühner oder etwas Ähnliches im Schilf, dahinter die untergehende Sonne, das Spiel der Rottöne im Wasser und so weiter. Das Klavier hatte schon einige Schrammen. Offenbar war nicht immer besonders pfleglich mit dem Instrument umgegangen worden. Lorant bewegte die Finger. Ein paar Tage ohne zu spielen, das war für ihn wie eine Ewigkeit. Er bekam dann regelrecht Entzugserscheinungen. Wenn er viel zu tun oder den Kopf voll mit anderen Dingen hatte, fiel ihm das nicht so auf. Aber jetzt, da er das Objekt seiner Begierde vor sich sah... Am ersten Abend hatte die lärmende Skatrunde davor gesessen, dass ihm das Instrument nicht aufgefallen war.

Und während des Frühstücks musste die Paneele-Tür ein Stück zugezogen gewesen sein. Jedenfalls war ihm das Piano auch da nicht weiter aufgefallen. Vielleicht auch deswegen, weil dieser eigenartige tätowierte Ruhrgebietler seine Aufmerksamkeit zu sehr gefesselt hatte.

"Echt nix los hier heute!", wiederholte der Bauer noch mal.

Offenbar sein letzter verzweifelter Versuch, Lorant doch noch als Gesprächspartner oder wenigstens als Zuhörer für Witze zu rekrutieren.

"Vielleicht ist im X-Ray ja mehr los!", sagte Lorant und ging dem Bauern damit gewissermaßen auf den rhetorischen Leim.

"Im X-Ray? Meinst du den Puff auf der Wiese?"

"Naja, ein hartes Wort."

"Weißt du, was da ein Glas voll kostet?"

"Nein."

"Dat gaait auf keine Kuhhaut. Und ein richtiges Bier haben die auch nicht! Aber schweineteuer ist da alles!"

Lorant hörte nur beiläufig zu und wandte sich stattdessen dem Klavier zu. Er setzte sich auf den Hocker. Die Tasten waren staubig. Aber davon ließ er sich nicht abhalten. Lorant spielte ein paar dezente Akkorde, ließ sie dann in den swingenden fünf-viertel-Takt von TAKE FIVE einmünden. Das Klavier hatte wahrscheinlich schon seit Jahren keinen Klavierstimmer mehr gesehen. Das gab Lorants Spiel eine besondere dissonante Schärfe, die im Original eigentlich nicht vorgesehen war.

Immerhin verstummte der Bauer jetzt. Er saß mit offenem Mund da und hörte zu.

"Kannst du auch Shantys?", glaubte Lorant ihn zwischendurch einmal fragen hören. Aber er antwortete nicht. Zu weit hatten ihn die Harmonielinien und Akkorde bereits aus dem Hier und Jetzt hinausgetragen. Hinein in ein Kontinuum der Töne und Stimmungen, der Klangfarben und des pulsierenden Rhythmus. Ein Land jenseits der Zeit und der konkreten Vorstellung.

Ein Anflug von Melancholie überkam Lorant.

TAKE FIVE.

Seine Frau hatte dieses Stück sehr geliebt. Jahrelang hatte Lorant es nicht spielen können. Schließlich war er darüber hinweg gewesen. Jedenfalls hatte er das geglaubt.

Möglicherweise ein Irrtum. Er sah ihr Gesicht vor sich, sah die Blutspuren in dem Apartment auf Kuba. Vom Fenster aus hatte man auf das Meer blicken können. Auf das Meer im hochdeutschen Sinn. Den Ozean. Die leuchtend blaue karibische See, den Traum aller Nordländer, die an Regen und Nieselwetter gewöhnt waren und insgeheim immer davon träumten, sich die frische Brise der Karibik durch die Haare wehen zu lassen. Ein traumhafter Ort, der im nach hinein zu einem Alptraumort geworden war. Lorant erinnerte sich an die hilflos wirkenden Polizisten, denen er gegenüber gesessen hatte. Er konnte leidlich Spanisch, die Polizisten ein wenig Englisch. Aber das war nicht das Problem gewesen. "En Cuba el crimen organisado no existe!", hatte ihm einer der Polizeioffiziere weiszumachen versucht. Manchmal hörte er diesen Satz im Traum. Immer wieder die Behauptung, dass es in Kuba kein organisiertes Verbrechen gäbe, nur weil es das nicht geben durfte. So wie die angeblich auch ausgerottete Prostitution. Der Kommunismus des Fidel Castro und seiner Nachfolger erlaubte es nicht, darum existierte es nicht. Punkt aus. Aber Tatsache war, dass seine Frau verschwunden und vermutlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Mochte der Teufel wissen, warum sie hatte sterben müssen, mit wem man sie möglicherweise verwechselt hatte und auf welcher Müllkippe man ihre Leiche abgeladen hatte. Du wirst es nie herausfinden, durchfuhr es Lorant. Es lohnt sich nicht, dass du dein Hirn weiterhin mit den Gedanken daran marterst. Du hast getan, was du konntest. Nimm es hin, wie es ist, sonst verbringst du deine Zeit wieder auf der Couch eines Psychiaters anstatt mit den Dingen, die für deinen Job wichtig sind! Also Schluss jetzt...

"Hier, Ihre Bockwurst mit Kartoffelsalat!", riss ihn Beate Jakobs' Stimme aus seinen Gedanken heraus. Lorant war ihr dafür beinahe dankbar. Ein letzter Akkord, eine furchtbare Dissonanz, verursacht durch eine total verstimmte, scheppernde Saite, dann nahm Lorant die Finger von den Tasten. Die Kuppen fühlten sich stumpf an. Stumpf von der dicken Staubschicht, die auf den Tasten gelegen hatte. Seine Abdrücke waren jetzt ziemlich gut darauf zu sehen.

"Danke", sagte Lorant.

"An welchen Tisch soll ich es stellen?"

"An den da!" Lorant streckte die Hand aus, deutete auf jenen Tisch, der am weitesten von dem Bier trinkenden Bauern mit der Prinz Heinrich-Mütze entfernt war.

"Kartoffelsalat können Sie noch nachhaben, aber die Bockwurst..."

"...ist die Letzte."

"Ja, tut mir leid."

Lorant setzte sich an den Tisch.

Er merkte, dass Beate Jakobs noch irgendetwas auf dem Herzen hatte. Sie druckste etwas herum, dann brachte sie schließlich heraus: "Sagen Sie, ich habe Sie da gerade Klavierspielen hören..."

"Ja."

"Im Moment suchen wir dringend eine Orgelvertretung in der Kirche. Harm Dierksen ist ja schon seit Wochen krank und mit seinem gebrochenen Fuß kann er auch die Pedale gar nicht treten. Und sein Sohn studiert Musik in Osnabrück, der ist nicht immer hier. Ich glaube, für eine Orgelvertretung bekommen Sie zwanzig D-Mark."

"Nun.."

"Ich rechne immer noch in D-Mark, müssen Sie wissen."

"Ich fürchte, ich habe leider keine Zeit, Frau Jakobs."

"War ja auch nur eine Frage. Ich meine, so ein Choral lässt sich doch schnell lernen. Ist ja auch bei jeder Strophe wieder dasselbe, nicht wahr?"

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