Читать книгу Das Super Krimi Paket Dezember 2021: 12 Romane in einem Buch - 1800 Seiten Thriller Spannung - Alfred Bekker - Страница 45
Оглавление4. Kapitel
Das Gasthaus von Beate Jakobs lag in der Bedekaspeler Marsch, direkt an einem Kanal, der wenige hundert Meter später ins Große Meer mündete. Das 'Gasthaus Jakobs' hatte einen eigenen Bootsanlegesteg, so dass man bei einem Bootsausflug anlegen und Zwischenstopp machen konnte.
Beate Jakobs war eine agile ältere Dame mit faltigem Gesicht und zu einem Knoten gebundenem grauen Haar. Der Schankraum glich eher einem Wohnzimmer als einer gewöhnlichen Kneipe.
Als Lorant eintrat, saßen ein paar Skatbrüder vor dem Kamin und droschen Karten.
"Wie lange werden Sie bleiben, Herr Lorant?", fragte Beate Jakobs.
"Ich weiß es noch nicht genau. Aber wenn Sie wollen, bezahle ich eine Woche im Voraus."
"Nee, das ist nicht nötig. Ich betreibe dieses Haus schon so lange und bin noch nie von einem Gast geprellt worden. Und solange das nicht geschieht, habe ich auch keinerlei Grund, meinen Gästen zu misstrauen."
"Eine sehr noble Einstellung."
"Auf eins muss ich Sie gleich hinweisen. Auf den Zimmern gibt es kein Fernsehen. Das Klo ist am Ende des Ganges."
"Kein Problem."
"Wissen Sie ich könnte ja umbauen und der Üki -—eigentlich heißt er ja Heinrich—-, das ist mein Schwiegersohn, der arbeitet bei der Touristik-Zentrale. Der Üki liegt mir schon seit Jahren in den Ohren, ich soll die Zimmer renovieren lassen und alles auf modern aufmotzen. 'Dat gaait so nich!', hör ich ihn immer reden und ich sag dann: 'Dat gaait doch!' Schließlich habe ich in all den Jahren nie Schwierigkeiten gehabt, die Zimmer voll zu kriegen und warum soll ich da irgendetwas verändern!"
"Da haben Sie sicher Recht."
"Also, dass wir vor dreißig Jahren hier fließend Wasser eingeführt haben, dass sehe ich ja heute ein, dass das notwendig war. Aber ich finde, man muss den Luxus auch nicht übertreiben."
"Ich brauche nur ein Bett zum Schlafen und 'ne Steckdose für den Rasierapparat. Dann bin ich schon zufrieden."
"Na, dann is' ja gut!"
Lorants Zimmer lag im Obergeschoss.
Die Wirtin ließ es sich nicht nehmen, es dem Detektiv persönlich zu zeigen. Man hatte eine fantastische Aussicht.
Immerhin lag es hoch genug, um über die vorgelagerten Schilf-Areale bis zum Großen Meer blicken zu können.
Das Wasser glitzerte in der Sonne.
Inzwischen war etwas mehr Wind aufgekommen.
Surfer schwebten Schmetterlingen gleich über die Wasseroberfläche.
"Prima", sagte Lorant.
Das Zimmer selbst wirkte sehr vollgestellt. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Sofa, ein dicker, klobiger Kleiderschrank...
Wahrscheinlich war die Hälfte des Mobiliars überflüssig. Lorant vermutete, dass es nur deswegen hier stand, weil sich die Besitzerin nicht davon trennen konnte und keinen anderen Platz hatte, um es unterzubringen.
"Da, auf der anderen Seite vom Großen Meer soll einer in seinem Boot umgekommen sein", meinte Lorant, in der Hoffnung, von seiner Gastgeberin den neuesten Klatsch über die Geschichte zu erfahren.
"So, haben Sie auch schon von der Sache gehört."
"Ja, war doch erst kürzlich."
"Also ich bin mit der Mutter von Gretus Sluiter zusammen zur Schule gegangen."
Tja, manchmal ist die Welt verdammt klein, dachte Lorant.
"Ich weiß noch, dass die Heike -—also Gretus Mutter -—so viel Kummer mit dem kleinen Gretus hatte. Irgendeine Darminfektion hat ihn als kleinen Knirps ganz dünn werden lassen. Und wenn man dagegen sieht, wie rund er zuletzt war! Aber ich habe den Verdacht, dem Gretus sein Bauch kam mehr vom Trinken."
"Jemanden, der so einen Hass auf ihn gehabt haben könnte, um ihn umzubringen, wissen Sie nicht zufällig?"
Beate Jakobs stemmte die Arme in die Hüften.
"Herr Lorant, wo denken Sie hin! So was passiert hier nich'!"
Sie seufzte hörbar schüttelte dann den Kopf. "Der Gretus war immer schon ein bisschen döspaddelig. Ich hab noch kurz vor Heikes Tod, als sie schon ganz schlecht darniederlag mit ihrem Krebs, da habe ich zu ihr gesagt: Heike, watt mutt dein Junge soon großes Boot fahren? So einen Jollenkreuzer! Der ist doch viel zu groß für ihn, das kann so ein Mann, dessen beste Jahre nun inzwischen wohl auch schon vorbei sind, gar nich'
bewältigen! Was glauben Sie, was für Kräfte dabei wirksam werden, wenn der Wind so richtig ins Segel haut und der Mastbaum herumschlägt?"
Der Redefluss der Wirtin wäre mit Sicherheit noch lange nicht abgeebbt, aber in diesem Augenblick rief jemand aus dem Schankraum etwas hinauf.
"Wir unterhalten uns ein andermal", sagte Beate Jakobs und rieb die Handflächen über das weiße Hauskleid aus Perlon, das schon fast museumsreif war. Ist wahrscheinlich genauso alt wie die Wasserleitung, dachte Lorant. Also dreißig Jahre. Immerhin hatte Frau Jakobs seitdem offenbar ihre Figur gehalten, denn die Knöpfe gingen gut zu, ohne dass es spannte.
Sie verließ den Raum.
"Ja, ich bin ja schon da!", rief die Wirtin die Treppe hinunter.
Lorant ließ sich in den plüschigen Sessel fallen. Die Federn waren mehr oder weniger durchgesessen. Lorant sank sehr viel tiefer ein, als er erwartet hatte.
Was jetzt?, dachte er, holte dabei das Kuvert aus der Innentasche, das ihm Bernhardine Sluiter gegeben hatte. Die Namens- und Adressenliste.
Er öffnete den Umschlag, faltete das eng von beiden Seiten beschriebene Blatt auseinander. Sehr akkurat hatte Frau Sluiter das gemacht. Sie hatte eine ziemlich kleine, sehr genaue Handschrift. Die Handschrift einer Pedantin, dachte Lorant. In Bezug auf die Liste konnte ihm diese Eigenschaft seiner Klientin nur von Nutzen sein.
Heute werde ich niemandem mehr einen Besuch abstatten!, dachte Lorant. Aber vielleicht kann ich mir ja noch den Tatort ansehen.
Und Morgen?
Seine erste Adresse war mit Sicherheit die von Kriminalhauptkommissar Meinert Steen.
Lorant hoffte, dass Steen einigermaßen kooperativ war und ihn nicht als lästige private Konkurrenz betrachtete.
Revierdenken war immer etwas ziemlich Unproduktives. Aber leider musste man immer wieder damit rechnen, wenn man sich mit ungeklärten Todesfällen beschäftigte.
Lorant schloss die Augen.
Das Gesicht seiner Frau erschien vor seinem inneren Auge.
Ihr Lachen. Ihr langes, dunkelblondes Haar. Die blauen Augen.
Lorant schluckte.
Deinen Mörder habe ich nicht finden können.
Leider.
Der Witwe von Gretus Sluiter sollte es besser gehen als ihm.
Dafür würde er sorgen. Seine Hände krampften sich zusammen, ballten sich zu Fäusten. Er atmete regelmäßiger. Die Vergangenheit ist nicht mehr zu ändern, dachte er. Die Zeit ist eine verfluchte Einbahnstraße, und es hat keinen Sinn, da den Geisterfahrer spielen zu wollen...
Die Akkorde von BESAME MUCHO klangen aus dem Background seines Bewusstseins. Er mochte die mit einem Augenzwinkern gespielte Version, die Michel Petrocchiani auf seinen Solo-Livekonzerten gespielt hatte. Lorants Finger lösten sich aus ihrer Verkrampfung. Sie zuckten, begannen dann auf der Sessellehne herumzuticken. Ein wirksames Mittel gegen trübe Gedanken. Die Musik wurde lauter, rückte mehr in den Vordergrund. Lorant konnte sich ihrem Sog nicht entziehen. Er wollte es auch gar nicht. Denn, wenn er den Harmonien und Melodieläufen gedanklich folgte, dann war sein Kopf unfähig dazu, sich in der Vergangenheit zu verlieren. Eine wirksame Methode, um einen klaren Verstand zu bekommen, um alles los zu werden, was auf der Seele lastete und Lorant daran hinderte, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Auf den Augenblick kommt es an, dachte er.
Die Gegenwart existiert.
Die Vergangenheit ist ein Konstrukt der Erinnerung.
Die Zeit ist eine Illusion des menschlichen Geistes.
Drei Gedanken, die für Lorant so etwas wie einen Rettungsanker darstellen.
Der Augenblick, das waren die Akkorde von BESAME MUCHO. Sonst nichts. Und über diesen Akkorden und dem furchtbar traurigen Thema begann Lorant jetzt zu improvisieren.
Seine Finger tanzten über imaginäre Tasten. Sein Gesichtsausdruck wirkte eigenartig entrückt, entspannte sich jetzt sogar etwas.
Die Augen blieben geschlossen.
Lorant war in SEINER Welt.
Einer Welt aus Tönen und Rhythmus.
Wenn es nach ihm gegangen wäre, so hätte er ewig dort bleiben können.